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E-Book

Mein Hiddensee

AutorUlrike Draesner
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783866483576
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Von Kindheit an liebt Ulrike Draesner das Meer - doch da sie in Süddeutschland aufwächst, liegt zwischen ihr und ihrem Sehnsuchtsort eine quälende Autofahrt über die Alpen, sprich: stundenlange Reiseübelkeit. Die Erlösung bringt der Umzug nach Berlin, die Ostsee ist nur noch einen Katzensprung entfernt und über flaches Land erreichbar. Von nun an zieht es die Schriftstellerin fast jeden Sommer auf die Insel Hiddensee, die kleine, aber nicht minder charmante Schwester Rügens: Zusammen mit Kind und Hund durchstreift sie die Insellandschaft, wirft einen so genauen wie poetischen Blick auf Flora und Fauna, auf Licht, Wind und Wetter und erzählt Erhellendes aus der Inselhistorie: von Seefahrern und Geistern, der einstigen Kultstätte Swantiland, den ersten Mönchen, dem Haus der Dänin Asta Nielsen, Stummfilmstar und frühes Sexsymbol, von dem mit ihr befreundeten Joachim Ringelnatz, von Thomas Mann und Albert Einstein - und nicht zuletzt aus den Jahren vor und nach dem Mauerfall. Vor allem aber begegnet die Schriftstellerin auf der Insel sich selbst und damit vielen Fragen: Was macht dieser besondere, gleichsam entrückte Ort mit ihr, mit ihrem Zeitempfinden, ihrem Verhältnis zur Sprache und zur Natur, aber auch zu den Menschen in ihrem Leben? Was wurde aus der Jahre währenden Liebesbeziehung, deren Höhe- und Tiefpunkte auf ganz eigene Art mit Hiddensee verknüpft sind? Was bedeutet es, Mutter zu sein? Was ist Glück? Und lässt es sich hier auf der Insel finden? So nachdenklich wie scharfsichtig, zuweilen mit hintersinnigem Witz, immer mit genauso viel Geist wie Herz schreibt Ulrike Draesner über ihr ganz persönliches Hiddensee.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in München und Oxford und promovierte 1992 mit einer Arbeit über Wolframs Parzival. Heute ist sie eine der profiliertesten deutschsprachigen Autorinnen und lebt in Berlin. Ihr Werk umfasst Prosa, Lyrik, Essayistik und Hörspiel. Für ihre Romane und Gedichte wurde Ulrike Draesner mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik (2014), dem Roswitha- Preis (2013), dem Solothurner Literaturpreis (2010) und dem Drostepreis (2006). Ulrike Draesner interessiert sich für Naturwissenschaften ebenso wie für kulturelle Debatten.

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Leseprobe

Körbe und Schirme der Höhe


(am Leuchtturm und um den Leuchtturm herum)

Eine pflaumenblaue Lichtschicht flackert über Kreuzdorn, Weißdorn, Sanddorn, Brombeerdorn, Hundsrosendorn. Flechtenartige Grünknäuel und Bruchkraut, Besenginster, Sand. Büsche schieben hügelan, hügelan schiebt sich der Leuchtturm in Sicht. Stahlbetonummantelung, Prismenfeuer. 0,8 Sekunden hell, 9,2 Sekunden dunkel, in SW-Richtung strahlt ein roter Sektor. Rote Blende. Sie kennt den Turm so gut, dass sie ihn kaum wahrnimmt, nur registriert »Er ist da«, Teil des vertrauten Bildes. Sein Fehlen würde ihr auffallen; er fehlt nicht, sie hat ihn schon von der Fähre aus entdeckt, nun würdigt sie ihn bestenfalls eines halben Blickes. Weißer Mantel, rot die Leuchtbrüstung, das Kuppeldach. Besucher werden an dem hohen Geländer lehnen; sie erinnert sich an den Ausblick, braucht ihn nicht, ist ganz damit beschäftigt, fest auf dem Boden zu stehen und sich an den Wind zu gewöhnen, an das Sonnenstrahlen. Luftstöße und Licht scheinen an diesem Abend miteinander verschmolzen, die Sonne wirkt unruhiger als auf dem Festland, als beschleunige das unablässige Wehen ihre Strahlen, als seien sie selbst mit Wind gefüllt. Kein Wunder, möchte sie denken, dass Albert Einstein die Insel mochte. Saß auf der Terrasse des Hotels Haus am Meer, dort, wo hinter Kloster der Dornbuschwald beginnt, und trank einen Kaffee »mit Zubeiß«, wie Kuchen oder Gebäck in der Karte hießen. Blumenübersäte Wiese, zwei Esel am Seil, Liese und Muschi. Das Haus, betrieben von Frau von Sydow, die bald eine überzeugte Anhängerin der Nationalsozialisten werden sollte, wurde nach dem Krieg in die Ornithologische Station der Universität Greifswald verwandelt. Jahrelang hat sie von der Veranda ihrer Ferienwohnung darauf geblickt; nun soll es, verkauft und umgebaut, wieder Haus am Meer heißen. Einstein, heißt es, habe sich immer nur nachmittags in dem Hotel aufgehalten, um seine Tochter zu besuchen, während Gerhart Hauptmann und Thomas Mann in dem vornehmen Haus residierten. Schweigend habe der Physiker in seinem Kaffee gerührt, sei schweigend wieder hinabgegangen in den Klosterort und habe laut gerufen, dass er, allein da unten, in der Sonne bade, frei wie ein Krokodil an Afrikas Gestade.

Sie hat die Flanke des Schluckswiekberges erklommen. Baumförmig wachsende Kreuzdorne, schwedische Mehlbeeren, Haselsträucher, dunkelgrüne, dünne Ginsterzweige, gerade wie Lineale in die Höhe gestreckt. Knapp vor dem Leuchtturm tritt sie auf die karge, nur mehr grasige, gelblich schimmernde Höhe hinaus. Flimmerndes Licht. Die Wege sind seit ein paar Jahren befestigt, abschnittsweise begleitet ein Holzgeländer den Sandpfad Richtung Leuchtturm und Höhenwiesenland, man kann sich auf die Querbalken setzen und sich die gesamte Zeit davor fürchten durchzubrechen. Windflüchter ragen auf. Der eine, vielfach fotografiert, wenn man aus dem Wald vom Betonplattenweg her auf das Leuchtfeuer Dornbusch zugeht: eine doppelstämmige, schlank in die Höhe geschossene, in der Krone gedrückte und weit gebreitete Kiefer (oder zwei Bäume, übermäßig nah beieinander gewachsen); der zweite, ebenfalls ein Nadelbaum, einsam auf der Hügelkuppe links neben dem Leuchtturm, Richtung Westen, Richtung Meer.

Die Trockenrasen des Hügellandes, wuchernde, in Stufen die Hänge hinabfließende, pollenüberspülte Wiesen. Die Erdanziehung drückt sie nach unten, der Wind nach oben. Sandstrohblumen wiegen die wirren Köpfe, Grasnelken, Steinbrech, Natternkopf.

Widerstrebende Kräfte, Antagonismen noch auf kleinstem Raum.

Sie schlägt die Namen der Pflanzen nach. »Die Natur« ist kein Buch; das Buch wird über ihre Erscheinungen gelegt. Im Augenblick: Vokabular. Von der Grammatik, den Regeln der Verknüpfung (genannt Biotop, Soziotop, Biosphäre, Reservat, Schutz, CO2-Fußabdruck) versteht sie nicht viel.

Die den zweiten Einzelbaum umfließende Wiese – ihre Erinnerung gaukelt ihr vor, es handele sich auch bei diesem Baum um eine Kiefer – war jahrelang eingezäunt. Militärisches Nach-Sperrgebiet, kränklich, kahl. Hat man das Gelände zu DDR-Zeiten tatsächlich für Schießübungen und andere Manöver benutzt, wie sie bislang dachte? Oder doch nur für Spähanlagen? Ihr ist unklar, ob es 1990 abgesperrt wurde, um Besucher vor Überraschungen in Form von Tretminen zu schützen, oder allein, um »der Natur« Gelegenheit zu geben, sich zu renaturieren. Wie – »natürlich« unsinnig in der Ausdrucksweise – auf den Zugang verwehrenden Schildern zu lesen stand.

Erneut laufen Kind und Hund ihr voraus. Der Hund zieht das Kind in einem tief in die Grasnarbe gefrästen Weg aus Sand und verwachsenem Wurzelwerk. Schmal ist der Pfad, eingeschnitten in fast senkrechte Sandwände, die ihr links und rechts bis zum Knie reichen. Richtung Westen, zum Kliff vorm Klausner. Das Kind ist inzwischen lang genug, um über die Böschung hinauszusehen, früher hat sie es hier immer getragen, und der Hund ist es gewohnt, in der ihn überragenden Halbröhre zu laufen, unbeirrt der Nase nach, während sein Schatten, übergroß und stark verzerrt, ihn an der linken Steilwand der Wegböschung begleitet, dunkel, mit wehenden Ohren, erstaunlich schnell.

Sie indessen fühlt sich, wie fast jedes Mal in diesem Inselversinkensweg, als humpele sie. Vielleicht mag sie auch das. Die Schwierigkeit des Gehens. Teil der langsamen Inselzeit.

Der Weg endet im Mastkorb, der windigsten Stelle der Insel. Mastkorb, denkt sie wie immer hier, begreift den Dornbusch als Schiff. Eingeschlossen steht man, zugleich ausgesetzt. Ist gelaufen, gelaufen, wird fortgeblasen: in diesem Aussichtspunkt etwa auf Höhe des Leuchtturms am Westufer, gute 60 Meter über dem Meeresspiegel.

Korb: eine am Eingang vielleicht vier Meter breite, sich nach vorn verjüngende Felsnase auf der Uferkrone, gesichert durch eine Reling aus Querbalken und schiefen Stützhölzern. Man wird sich festhalten, die Mütze zuschnüren. Schneidend windig ist es hier auch an diesem im Übrigen lauen Sommerabend. Das Kind weicht erschrocken zurück, der Hund ebenfalls. Minuten später wird sie gewahr, dass er kaut, entdeckt unter einem Stein eine Tüte mit verschimmeltem Schwarzbrot. Mit schuldbewusstem, doch glücklich entschlossenem Mandelaugenblick klappt das Tier den Kiefer auf und zu. Beide Ohren stehen im Wind hoch in die Luft, scheinen zu wedeln wie der Hundeschwanz.

Beinahe schon hinter dem Horizont, jenseits der Meerlinie, liegt die dänische Insel Møn; sie ist sich nicht sicher, ob die Silhouette, ein Strich, lediglich ihrem Sehwunsch entspringt oder etwas wirklich Vorhandenes spiegelt. Über diesen in der Ferne basaltfarbenen, sich auf die Dornbuschfelsen hin dunkel färbenden, unvermittelt wieder ausblauenden, am Ufer aufschäumenden Wassern. Im keineswegs goldenen, sondern blendenden Abendlicht, das einen leicht silbernen, ansonsten kristallklaren Keil links über die Meeresfläche schiebt. Sie hat die Gegenüberinsel von hier aus einmal erspäht, meist jedoch bleibt jenes Ende der Wasserwelt verborgen, ein Hirngespinst, und so ist es auch diesmal. Unter ihr fällt, in buntem Grün, teilweise senkrecht, das Steilufer zur See ab. Wipfel und Buschkronen, dicht nebeneinandergesteckt. Den Fuß des Hanges bildet ein drei bis vier Meter breiter, grobkörniger Strandstreifen. Von hier oben sieht sie, sofern der Wind ihr erlaubt, die Augen offen zu halten, die Wellen in weiten, gischtüberkrusteten Sechserreihen herbeirollen und eine um die andere gegen die Steine donnern, die sie zerschreddern sowie, erklären die Tafeln am Aufgang zum Dornbusch, küstenparallel abtransportieren. Ein Sandschleier weht mit dem Wasser Richtung Süden, dahinter wird das Meer flaschengrün, übergangslos blau, kräuselt sich zu Sonnensilber auf.

Der Hang ist so steil, dass man, stolperte man, nicht hinunterrollen würde, sondern frei fallen. Nur das Reh, das sie einmal knapp unterhalb der Brüstung aufspringen sah, schaffte es, sich in erstaunlich graziösen, über die Büsche hinauszielenden Sprüngen nach unten zu retten, während ein Mensch, sich überschlagend, einem Felsbrocken gleich in die Salzbrecher stürzen müsste. Schaumig-langgestreckte Kämme brausen nun an, der Wind tobt so laut, dass sie nichts mehr hört. Suchend dreht sie sich nach dem Kind um, das ihr etwas zuruft wie »kalter Föhn«. Als sie zu ihm geht und sich zu ihm hinunterbeugt, sagt es: »Ich will weg.«

Der Wald ist im Vergleich so still, dass die Ohren schier platzen wollen. Nachtgrüne Farne wiegen sich, leuchten überraschend minzgrün auf, wo Sonnenbündel sie treffen. Ihre Wedel rollen sich ein und wieder aus, die Luft riecht nach Moosen, Pilzen, verfaulendem Nadel- und Laubwerk, nach Zapfen und Blättern.

Sie berührt das Kind nicht (nicht körperlich und auch noch nicht dort, wo sie sich mit sich selbst darüber auseinandersetzt, was sie hier wahrnimmt und woran sie sich erinnert)....

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