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In Trassenheide war es die fünf Tage, die meine Klassenkameraden und ich dort verbrachten, dunkel. Wir schrieben Februar, da ist die Sonne dem Frühlingspunkt, der Tagundnachtgleiche, ja nicht mehr allzu fern, das lehren die Astronomie und, sollte man meinen, der Augenschein. Die Tage waren also längst nicht mehr winterlich kurz, die Nächte entsprechend nicht mehr so lang, konnten es nicht sein, die Dunkelheit überwog nur noch knapp. Doch es war dunkel und wurde höchstens dämmrig. Vielleicht bildeten wir es uns ein, weil der Mensch unserer Breiten das Ende des Winters ersehnt, die Physis um des Vitamins D und die Psyche um der antidepressiven Elemente willen? Aber das interessierte uns, eben noch Kinder, nicht. Wir nahmen etwas anderes wahr. Um uns herum, genauer gesagt: Für uns herrschte Dunkelheit. Wir Jugendlichen von vierzehn Jahren nahmen sie nicht nur als gegeben, sondern sie entsprach uns, wir genossen sie. Auf den Abend zu, zum Abend lebten wir sowieso auf. Aber es war auch tagsüber dunkel. Als wir in Wolgast ankamen und die Fußgängerbrücke betraten, lag das letzte Tageslicht auf dem Peenestrom, auf Eis und Schnee, die ihn und die teilweise verschilfte Westküste Usedoms zudeckten. Die Großstadtbälger, die wir allesamt waren, schauten interessiert in die Landschaft. Wir meinten, einen Teil der Ostsee zu überqueren, der die Insel vom Festland trennte. Wir waren bereit dafür und erlebten es auch im fraglichen Moment, nach dem Verlassen des D-Zugs in Wolgast-Hafen – schon der Name der Bahnstation! –, auf dem Weg mit Sack und Pack hinüber zur Inselbahnstation Wolgast-Fähre, wo wir einen Waggon lautstark besetzten. Auf dem kurzen Weg hatten wir einander versichert, dass wir nun über Salzwasser gingen, auch wenn es unter dem bläulichen Eis lag, uns auf die Stellen hingewiesen, wo der Wind den Schnee beiseitegefegt hatte: »Guck mal, da, guck mal, wie blau das Eis ist.« Der Weg über die Brücke war nach unserer Berliner-Gören-Meinung eindeutig einer über das Meer. Usedom war schließlich eine Insel. Beinahe hätten wir es noch einmal laut geschrien: »Das Meer, das Meer!« Es gab nur schon die Blicke hin und her, wir übten schon diese bestimmte Art gegenseitiger Kontrolle aus, und genauso eine jede und ein jeder für sich innen drin. Keiner wollte noch für so dumm gehalten werden wie ein Kind. Doch wie gesagt war es da noch ein wenig hell. Später trat Dunkel ein, erfasste uns, hüllte uns ein.
Die Jugendherberge Trassenheide war eine dunkelbraun angestrichene Holzbaracke mit einem Steinsockel, vom landesüblichen Rauputz überzogen. Wir besetzten die Zimmer mit den Doppelstockbetten links und rechts des ebenfalls braun verschalten, schmalen Ganges und warfen das Gepäck ab. Bis zum Abendbrot war noch Zeit. Die Idee, vorher ein erstes Mal an den Strand zu gehen, lag nahe. Jemand schlug es vor, alle waren sofort begeistert und brachen in losen Gruppen auf. Die Gegend erkunden, aber vor allem: nach dem Meer schauen! Mal sehen, ob es noch da wäre! So schwatzten wir auf dem Sandweg daher. Der war nicht lang. Eine Viertelstunde gingen wir unter dem inzwischen grau bezogenen Himmel, auf einer Seite von Maschendraht begleitet, hinter dem verstreut ein paar Bungalows standen unter aufgeschossenen Kiefern. Alles war winterlich leer.
Auf dem Weg musste ich innerlich das Wir verlassen oder, anders gesagt, mich vom Kollektiv verabschiedet haben. Es gab etwas, was ich nicht teilen konnte: das Herzklopfen, wenn der Weg absehbar Richtung Meer führte. Wenn es wirklich ans Meer ging. Wenn hinter Wiesen, Weiden, Feld und Wald, hinter Hütten, Häusern, Ferienheimen und Promenaden das Meer mehr als nur zu vermuten war – ich spreche von der Ostsee –, wenn es dazu kam, wenn die Möglichkeit, das Meer zu erreichen, sich zur Wahrscheinlichkeit verdichtete und schließlich, auf den letzten Metern, zum Beispiel auf der meerabgewandten Seite einer flachen, von Kiefern gesäumten Düne wie in Trassenheide, unausweichlich wurde. Wenn das Erreichen des Meeres, das unmittelbare Anschauen des Meeres gleich, sofort, jetzt stattfände, die Konfrontation mit dem Meer nicht mehr nur zu ahnen, zu ersehnen, antizipierend zu fühlen war, sondern wenn dieses kalkulierbare und doch immer neue, große Geschehen, auf nichts weiter zu treffen als auf das Meer, genauer: auf die Ostsee, sie zu erreichen, bei ihr anzukommen, hier und jetzt, geschah, in diesem Nu.
Das Ereignis des Himmels zuvor gehörte dazu. Wie er sich weitete und weitete. Wie die Horizontlinie schwand, sich zurückzog, ins schiere Nichts abkippte, wegtauchte. Wie es sehr unwahrscheinlich wurde, dass da, dort, da hinten oder vorn oder wo noch irgendein Stück gewöhnlicher Landschaft folgte. Da hatte es sich mit Geselligkeit. Da war die Einsamkeit auf der Oberfläche des Planeten gesucht. Nur ich, nur ich und das Meer. Das Meer kam in Sicht.
Jenseits des schmutzig wirkenden Strands lag eine weite schneebedeckte Fläche. Sie war von Verwerfungen durchzogen. An den Bruchlinien ragten Eiskanten auf. Das Meer war in den letzten Wochen, nach Temperaturen von unter minus zwanzig Grad Celsius, gefroren. Wir nahmen den Rand in Augenschein. Er lud zum Betreten ein. Der eine oder andere Schüler löste einen der dicken Eisbrocken, die herumlagen, aber meist wieder angefroren waren, vom Boden und warf ihn ein Stück hinaus. Es lohnte sich nicht. Wir wollten ja ein lautes Geräusch erzeugen, doch kräftig, wie die Eisschicht war, geriet es leise und stumpf. Nichts brach oder splitterte, nichts klirrte wie erhofft, zum hörbaren Beweis der eigenen Kraft. Irgendwo weit hinten oder besser gesagt vorn, da draußen war ein dunkelgrauer Streifen offenen Wassers auszumachen. Wir gingen und rutschten ein wenig auf dem Eis herum. Schneebälle zu formen und nur so zum Aufwärmen sich damit zu bewerfen, war unmöglich. Der Frost ließ den Schnee als glitzerndes Pulver zerstäuben. Auch genügte schon der kaum spürbare, sachte Ostwind, dass die ungeschützten Wangen taub wurden. Wir zogen uns zurück nach dieser ersten Begegnung und erreichten – der ganze Pulk im freiwilligen Laufschritt – das Quartier. Dort war es zum Glück mollig warm, und das allgemeine Auftauen mit roten, prickelnden Wangen mündete in fröhlichstem Herumalbern.
Am nächsten Tag ging es vormittags auf Strandwanderung, endlos unter dem grauen Himmel entlang, und nachmittags nach Zinnowitz. Die Gelegenheit zur Einkehr hinter den beschlagenen Fensterscheiben der wenigen offenen Cafés wurde genutzt, soweit das Taschengeld reichte. Heiße Zitrone war der Schlager, freiwillig hielten wir es gesund statt mit der sonst favorisierten Cola. Ich mochte die Architektur, das Laubsäge-Barock. So hatte ich die hier vielfach zu bestaunende Form der Verzierung zu bezeichnen gelernt in dem Vorort Berlins, in dem meine Großeltern lebten. Hauseingänge, Veranden, Loggien unter überragenden Dächern, manchmal ganze Fassaden mit Balkonen und Umgängen waren überwuchert von hölzernen Ornamenten. Hier hatte man sie meist weiß angestrichen, irgendwann einmal.
Für einen der Tage war, wie wir schon vor der Reise gehört hatten, der Besuch in einem Künstleratelier vorgesehen. Wir gaben nicht zu, gespannt zu sein, oder wir waren es wirklich nicht. Wir trotteten da hin. Unsere Klassenlehrerin, Frau A., mit den je nach Saison kupfern oder schwarz gefärbten Haaren, die sie stets im Dutt am Hinterkopf trug, was dem ganzen Kopf etwas von einem schmalen Tier gab, sie hatte uns erklärt, um wen es sich handelte. Der Maler sei sehr bedeutend. Er lebe hier schon sehr lange. Er sei weit über die Insel hinaus bekannt. Hier auf Usedom jedenfalls sei er die berühmteste lebende Persönlichkeit. Seine Bilder würden die Insel sehr schön abbilden. Und sein Haus, das sei eine extra Überraschung. Hauptsache, der hat eine funktionierende Heizung, meinten wir auf dem Weg, zwei Stationen mit der Bahn nach Zempin und dann zu Fuß nach Lüttenort, wie das Anwesen schön norddeutsch hieß. Wir sprachen es mit einem offenen, hellen »o«, das wir über das »r« weg dehnten, und bildeten uns so ein, den landschaftlich angemessenen Klang zu finden. »Meeklenburgisch« nannten wir das, weil wir keine ignoranten Berliner sein, sondern hören lassen wollten, dass wir es besser wussten. Der Begriff Pommern war verpönt, auch auf dem vorpommerschen Grund, auf dem wir standen. Was einst Pommern hieß, war hierorts zu einem von der Geschichte überholten Etwas erklärt worden. Schon der Klang des Worts beschwor Hinterwäldlerisches herauf. Anhand der Städte gleich jenseits der nahen polnischen Grenze wurde es deutlich. Swinemünde zu sagen ging aus irgendeinem Grund, aber Stettin musste unbedingt bei seinem polnischen Namen genannt werden. Wir klugen Nachgeborenen fanden das übrigens korrekt. Das Stettiner Haff war von der Landkarte verschwunden. Die aus dem Schulunterricht bekannte »Oder-Neiße-Friedensgrenze« erklärte alles, zurückgeblickt wurde nicht. Die Ostsee war das Meer des Friedens. Pommerland war abgebrannt, das immerhin wussten wir vom Käfer unklarer Herkunft zu singen, wenn uns sommers ein Marienkäfer auf die Fingerspitze klomm oder, sehr selten, ein Maikäfer. Was genau mit dem Liedchen gemeint war,...