6 SCHRITTE, UM DIE HOCHSENSIBILITÄT ZU VERSTEHEN
Sie möchten sich informieren, wie Sie Ihr Kind besser verstehen und es zugleich darin unterstützen können, seine eigene Hochsensibilität anzunehmen und den Alltag sowie das Familienleben gut zu meistern. Fast alle Betroffenen durchlaufen beginnend mit der Erkenntnis, dass ihr Kind hochsensibel ist, folgende 6 Schritte. Es kann sehr hilfreich sein, diese zu kennen und zu wissen, dass es normal ist, wenn Sie zunächst zweifeln, sich hilflos fühlen oder mit dem Thema Hochsensibilität hadern. Hochsensibilität ist eine angeborene Veranlagung, die in der Tat alle Lebensbereiche entscheidend beeinflusst.
Bei der Erläuterung der 6 Schritte beschreiben wir viele Situationen und geben Ratschläge und Hilfestellungen. Diese decken aber natürlich nicht jede individuelle Erfahrung ab, die Sie als Eltern mit Ihrem hochsensiblen Kind erleben. Es kann ratsam sein, professionelle Hilfe zum Beispiel durch einen Coach, einen Psychologen oder Kinderarzt, der mit dem Thema vertraut ist, in Anspruch zu nehmen.
1. Schritt: Das Erkennen
Da Hochsensibilität bislang kein hinlänglich bekanntes und vertrautes Phänomen ist, benötigen Sie erkennbare Merkmale, Informationen und Menschen, an die Sie sich mit Ihren aufkommenden Fragen, Zweifeln und Überlegungen wenden können.
Einige der zentralen Merkmale der Hochsensibilität (bei Kindern) finden Sie auf den Merkmal-Seiten siehe ab >. Sie helfen Ihnen, einen Eindruck über die Veranlagung zu gewinnen. Nicht jedes Merkmal muss bei Ihrem Kind zutreffen. Auch unterschiedliche Kombinationen sind üblich.
Typisch beim Erkennen einer Hochsensibilität ist der sogenannte »Aha-Effekt«: »Ach so, jetzt verstehe ich, warum mein Kind immer so lang an der Tür zum Kita-Raum steht, bevor es hineingeht«, ist ein Beispiel dafür.
Viele Eltern haben bereits zuvor bemerkt, dass mit ihrem Kind »irgendetwas nicht stimmt«, dass es irgendwie merkwürdig erscheint, sich zum Beispiel immer wieder aus der Gruppe zurückzieht oder nach langen, intensiven Tagen aggressiv oder weinerlich ist. Allein die Erkenntnis erleichtert mithin den gemeinsamen Umgang, verzweifelte Situationen lassen sich leichter erklären und entspannen. Sie werden bemerken, dass sich Verständnis einstellt und dass alternative Lösungsideen möglich werden.
Zieht sich Ihr Kind häufig zurück und ist lieber allein, dann ist das keine Marotte, sondern eine seiner hochsensiblen Veranlagung geschuldete Verhaltensweise. Lassen Sie es gewähren!
2. Schritt: Kritische Überlegungen
Trotz aller Merkmal-Listen und möglicher Beratung können Zweifel aufkommen und kritische Gedanken für Unsicherheit sorgen. Das ist nur allzu natürlich. Folgen Sie diesen Überlegungen offen und neugierig, denn Sie hinterfragen auf diese Weise das Neue und stellen Ihre Erkenntnisse dadurch auf stabile – weil überprüfte – Füße.
Typische kritische Gedanken sind folgende:
Das Verhalten meines Kindes muss doch eine Störung sein! In Zeiten rascher Pathologisierung von ehemals »normalen« Verhaltensweisen ist es nicht verwunderlich, wenn Sie das ungewöhnliche Verhalten Ihres Kindes als Störung ansehen. Aber wenn wir um das Phänomen Hochsensibilität wissen, können wir solche »eigenartigen« Verhaltensweisen neu betrachten.
Es ist in diesem Sinn für die Entwicklung Ihres Kindes extrem wichtig, die besonderen Wesensmerkmale der Hochsensibilität zu erkennen und dann Ihrem Kind mit seiner speziellen Charaktereigenschaft auch den nötigen Spielraum – natürlich im Rahmen der sozialen Verträglichkeit – einzuräumen.
Kinder, die ihre Hochsensibilität nicht ausleben können, zeigen ähnliche Verhaltensweisen wie Kinder, bei denen aufgrund anderer Belastungen emotionale oder psychische Störungen diagnostiziert werden.
Sind nicht alle sensibel? Es gibt sehr sensible Menschen, die aber nicht hochsensibel sind. Sensibilität erlernen wir meist von Kindheitstagen an. Die »erlernte« soziale Empathiefähigkeit ermöglicht es uns, Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und Freude oder Leid mitzufühlen. Bei der angeborenen Hochsensibilität werden hingegen alle Reize ohne den beschriebenen Lernprozess aufgenommen. Für Ihr hochsensibles Kind heißt das, es erfasst die Stimmung der Lehrerin frühzeitig »intuitiv« und umfassend durch die intensiver aufgenommenen Signale ihrer Körpersprache, Stimmlage, Mimik, Gestik und vieles mehr. Feinfühlige verfügen per se über mehr Informationen aus ihrer Umgebung und von ihren Mitmenschen, ob sie dies nun wollen und wissen oder nicht. Aus diesem »Mehr« resultiert oft auch eine stärkere Empathiefähigkeit.
Nicht schon wieder eine Extrawurst! Hochsensible Kinder haben zuweilen sonderbare Bedürfnisse. Vielleicht trägt Ihr Kind lieber Jacken ohne Bündchen oder spielt bei den enganliegenden Socken verrückt; oder Ihre Tochter wischt sich ständig drei Haare von der Stirn, obwohl diese eigentlich gar nicht stören können. Wer mit einem hochsensiblen Kind lebt, kämpft meist mit so mancher Eigenheit und ist darüber vielleicht auch oft verzweifelt. Diese Besonderheiten sind in vielen Fällen aber der Hochsensibilität geschuldet. Es ist sinnvoll und erleichtert den Alltag immens, wenn Sie als Eltern die »Extrawürste« Ihres Kindes akzeptieren können. Schauen Sie, in welcher Weise sich diese in Ihren Alltag, das soziale Gefüge Ihrer Familie, der Kita oder Schule einbinden lassen. Ihr Kind wird es Ihnen nicht nur danken, es wird auch lernen, eigene Befindlichkeiten besser einschätzen und in seinem Leben gut austarieren zu können.
3. Schritt: Informieren
Wer das Thema Hochsensibilität entdeckt, hat schnell das Bedürfnis, mehr darüber zu erfahren. Folgen Sie diesem Impuls.
Bücher und Internet: Ab > geben wir Ihnen Empfehlungen für Internetseiten zum Thema sowie weitere Buchtipps.
Selbsthilfegruppen: Es kann sinnvoll sein, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass sich im Austausch mit anderen Betroffenen das Verständnis für die Hochsensibilität vertiefen kann. Wenn andere Eltern von gleichen oder ähnlichen Erlebnissen mit ihren Kindern zu Hause oder in der Schule berichten, kann allein dieser Umstand sehr erleichternd und tröstlich sein. Das Wissen, dass viele hochsensible Kinder aufgrund ihrer Veranlagung zum Lösen bestimmter Aufgaben (ein Bild malen, etwas basteln oder ein Butterbrot zubereiten) mehr Zeit benötigen und nicht etwa trödeln, zu langsam sind oder gar Sie als Eltern ärgern wollen, kann so manchen häuslichen Streit beenden.
Beratung, Coaching, Elterntraining: Professionelle Unterstützung kann sehr sinnvoll sein, gerade zu Beginn, wenn Sie die Hochsensibilität Ihres Kindes entdeckt haben und noch nicht so gut einschätzen können. Sie haben dabei die Möglichkeit, Fragen zur Veranlagung, zu den individuellen Bedürfnissen Ihres Kindes, Ihrer Familiensituation und den großen Herausforderungen Kita und Schule zu klären.
4. Schritt: Mein Kind neu betrachten
Die Erkenntnis, dass Ihr Kind hochsensibel ist, wird Ihre Sicht auf die Welt und in jedem Fall auch auf Ihr Kind verändern.
Wer ist mein »hochsensibles« Kind? Als Eltern wünschen Sie sich sicherlich, dass Ihr Kind so normal und glücklich wie möglich heranwächst. Vielleicht haderten Sie in der Vergangenheit damit, Ihrem Kind nicht gerecht werden zu können, oder zweifelten gar an Ihrem Kind selbst. Nun, da Sie wissen, dass es hochsensibel ist, erscheint Ihnen rückblickend das eine oder andere unverständliche Verhalten logischer. Das heißt nicht, dass der Alltag von einem Tag auf den anderen sofort leichter wird. Aber Sie werden bemerken, dass Sie nun mehr Verständnis für eine ungewöhnliche Situation aufbringen können. Dadurch werden Sie mit der Zeit auch (wieder) erkennen, welche Gaben Ihr Kind in sich trägt, und diese wohlwollender fördern. In der Folge wird auch Ihr Kind Ihnen sicherlich mehr vertrauen, sein authentisches Wesen offenbaren und Ihnen zu verstehen geben, was es benötigt, um seine Stärken im Rahmen seiner Hochsensibilität entwickeln zu können.
»Dass wir wieder werden wie die Kinder, ist eine unerfüllbare Forderung. Aber wir können zu verhüten suchen, dass die Kinder werden wie wir.«
ERICH KÄSTNER
Eigenheiten neu bewerten: Es fällt uns für gewöhnlich schwer, Eigenheiten, die wir selbst nicht haben oder kennen, bei anderen zu tolerieren. Wir lehnen sie ab oder übergehen sie. Mit dem Wissen um die Hochsensibilität Ihres Kindes beginnt ein Prozess. Selbstreflexion, Offenheit und Toleranz sind nun gefragt. Sollten Sie selbst beispielsweise die Etikette verinnerlicht haben, dass man zur Begrüßung oder zum Abschied die Hand reicht und die Person dabei anschaut, so waren Sie eventuell jedes Mal verärgert, wenn Ihre hochsensible Tochter genau dies verweigerte. Nun können Sie nachsichtiger sein, denn Sie wissen, dass beides – Händedruck und Blickkontakt – eine hohe Reizintensität beinhaltet und für hochsensible Kinder in gewissen Altersabschnitten eine große Herausforderung darstellt.
Nicht schon wieder diese Hose! Hochsensible Kinder verweigern oft frische Kleidung.
5. Schritt: Drängende Fragen und Antworten im Alltag
Wir haben hier einige typische Fragen zusammengetragen, die von Eltern regelmäßig gestellt werden. In Kapitel 2 finden Sie zu den wichtigsten Fragen / Themen weitere Empfehlungen und Maßnahmen.
Ist Hochsensibilität bei Kindern diagnostizierbar? Obwohl sich Hochsensibilität gerade in den letzten Jahren zunehmend im Fokus von...