Sie beginnt an einem unvermuteten Ende
Die Küste ist flach, eine sich weit ins Land erstreckende Schwemmebene, noch stellenweise von Sand bedeckt: Eine gewaltige Flutwelle hat allein hier vor zwölf Jahren zehntausend Menschenleben mit sich ins Meer gerissen. Heute plätschern die Wellen sanft murmelnd an den Strand, dehnt sich der große Ozean wie unschuldig in glasklarem Blaugrün unter einem gleißenden Himmel. Im Brackwasser von Flussmündungen wachsen Mangroven, an Land wiegen sich vereinzelte hohe Kokospalmen in der warmen Seebrise. Viele gute Geschichten über Island beginnen oder enden weit von der Insel am Polarkreis entfernt: Der Wikinger und Poet Egill Skallagrímsson plünderte im Baltikum, Sagahelden wie Bolli Þorleiksson kämpften in der Leibgarde des oströmischen Kaisers in Byzanz, der Isländer Snorri Þorfinnsson kam als erster Europäer in Nordamerika zur Welt, um das Jahr 1005.
Meine isländische Geschichte beginnt in Indien. Vor einer Gartenmauer hat jemand einen Baum der Reisenden gepflanzt. Die östliche Hälfte seiner symmetrisch angeordneten Blätter winkt hinaus aufs Meer, als wolle der Baum vorbeifahrende Seeleute einladen, an Land zu kommen. Direkt am Ufer erhebt sich eine imposante Festungsanlage. Ihre Formen und Farben von rötlichem Saharagelb lassen an die Lehmburgen im marokkanischen Wadi Draa denken. Eine Filmkulisse? Keineswegs, vielmehr eine vierhundert Jahre alte Feste mit dem ganz und gar nicht indischen Namen Dansborg. Ein nordafrikanisch angehauchtes dänisches Fort an der Südostküste Indiens.
Kurioser noch: Wir wüssten kaum etwas über die ersten Jahre von Dänischburg in Indien, wenn dort nicht zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein erzähl- und schreibfreudiger Matrose und Kanonier gelandet wäre.
»Vjer komum fyrir kastalann Dansborg, lægðum segl og atkerum hleyptum nærri hálfri viku sjóar frá landi, ljetum vora flaug fljúga á stórtopp, skutum þremur stykkjum og ljetum í trómet blása.«
(Wir kamen vor der Feste Dansborg an, holten die Segel ein und ließen etwa eine halbe Meile vom Land die Anker gehen, hissten am Großmasttop die Fahne, feuerten drei Kanonen ab und ließen die Trompete blasen.)
Ein einfacher Soldat und Matrose im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, der lesen und schreiben konnte, das wäre an sich schon bemerkenswert. Noch überraschender aber ist die fremde, jedenfalls nicht dänische Sprache, in der er seine Erinnerungen verfasste.
»In meinem siebten Lebensjahr wurde ich ans Buch gesetzt.« »Jemanden ans Buch setzen« ist ein im Isländischen üblicher Ausdruck dafür, jemandem Lesen und Schreiben beizubringen. In Island waren diese Fertigkeiten nie ein Monopol des Klerus oder sogenannter gebildeter Stände, sondern nach allem, was man heute weiß, selbst auf abgeschiedensten Bauernhöfen verbreitet. Nach Durchsetzung der Reformation wurden allabendliche Lesungen aus der Bibel sogar vorgeschrieben, und der letzte katholische Bischof des Landes hat schon um 1530 eine Druckerpresse auf die Insel schaffen lassen, gut hundert Jahre bevor die erste ihrer Art in Oslo installiert wurde.
Gedruckte Bücher blieben über lange Zeit hinweg rar und teuer, doch die Isländer, bei denen es üblich geworden war, sich an den langen Abenden zur Handarbeit aus den altüberlieferten Texten, ihren Sagas, vorzulesen, wussten sich zu helfen: Sie schrieben die Geschichten wieder und wieder von Hand ab. Bis ins 19. Jahrhundert hinein, als gedruckte Bücher längst erschwinglicher geworden waren. In der Isländischen Nationalbibliothek lagern heute mehr als zwölftausend Sagahandschriften aus der Neuzeit.
Als die Lesefähigkeit der Isländer infolge des zunehmend härter werdenden Kampfs ums nackte Überleben im 18. Jahrhundert nachließ und eine rund ums Land reisende Kommission aus Klerikern und Schulleuten zu dem Ergebnis kam, dass nur noch weniger als die Hälfte des Volks lesen konnte, wurde 1746 sogleich eine »Verordnung für die häusliche Zucht auf Island« erlassen, in der tägliches Vorlesen aus Bibel oder anderen geistlichen Schriften und Unterrichtung der Kinder ab dem sechsten Lebensjahr auf jedem Bauernhof angeordnet wurden. Eine Generation später notierten es die Gemeindepfarrer als Ausnahme, wenn eines ihrer Schäfchen nicht lesen konnte. Durch alle dunklen Jahrhunderte lag die Alphabetisierungsrate in Island auch ohne feste Schulen immer deutlich über der im restlichen Europa.
Damit ist die Katze also längst aus dem Sack: Der dreißigjährige Seemann, der im Jahr 1623 an Bord der Christianshavn vor Dansborg an der tropischen Koromandelküste ankerte, war ein Isländer, der erste, der Indien besucht hat.
Jón Ólafsson wurde 1593 auf dem Hof Svarthamar nicht weit von dem heutigen Fischerörtchen Súðavík in den isländischen Westfjorden geboren. Der Name des Hofs ist sprechend: Das Wort Hamar bezeichnet eine Bergwand mit Steilabstürzen. Schwarz sind sie, weil im Winter wegen ihrer Steilheit kein Schnee auf ihnen liegen bleibt. Súðavík, am Fuß solcher Berge gelegen, wurde und wird immer wieder von plötzlich zu Tal rauschenden Schneemassen niedergewalzt. Zuletzt hat 1995 eine Lawine mehr als zwanzig seiner siebzig Häuser zerstört. Vierzehn Menschen starben.
Die Lawine wurde von einem Orkan ausgelöst, den ich in Reykjavík miterlebte. Der Sturm kam so plötzlich, dass ich erst Anstalten machte, meine Tochter mit dem Auto von der Schule abzuholen, als eine heftige Bö der alten Eberesche vor dem Haus kreischend den ersten Ast abdrehte. Salka war damals acht Jahre alt, und ich fand sie auf halbem Weg an einen Laternenmast geklammert. Sie traute sich nicht mehr von ihm weg, nachdem der Wind sie auf Glatteis zweimal umgeweht hatte.
Derselbe Sturm machte die Straßenverbindung in die Westfjorde mit zwanzig Meter hohen Schneeverwehungen unpassierbar, auf der gesamten Halbinsel fielen der Strom und damit auch die Heizungen aus. Schiffe mit Hilfsmannschaften und Bergungsmaterial schafften es zwei Tage lang nicht, gegen den Sturm das Nordwestkap von Horn zu umrunden. Für die Isländer war das Unglück eine Katastrophe von nationaler Tragweite, an der alle Anteil nahmen.
Auf dem Hof, auf dem Jón Ólafsson im Alter von fünfundachtzig Jahren sein Leben beendete, ist heute ein kleines Museum und Forschungszentrum für den Polarfuchs eingerichtet, das einzige Landsäugetier, das vor dem Menschen auf Island Fuß fasste. Welch ein Erfahrungshorizont für einen einfachen isländischen Bauernsohn des 17. Jahrhunderts: Zwischen Schneemassen und Tundra lebenden Eisfüchsen geboren, halb um die Welt bis ins tropisch heiße Indien mit seinen überbordenden Hindutempeln und wieder zurück gesegelt. Einen Maharadschapalast aus Marmor mit Hunderten graziler, dunkelhäutiger und goldgeschmückter Inderinnen besucht und sein Leben doch in einem dunklen, verräucherten Bauernhaus aus Grasplacken am nördlichen Polarkreis beschlossen.
Seinetwegen stehe ich hier vor dem gerade frisch verputzten Dansborg im Bundesstaat Tamil Nadu. Wenn schon in Südindien, dann wollte ich auch gern den Ort persönlich in Augenschein nehmen, an dem einst ein Isländer in schweren Pluderhosen aus heimgewebtem Wolltuch zum ersten Mal seinen Fuß auf sonnendurchglühten indischen Boden gesetzt hat.
Seine Lebensgeschichte ist ein isländisches Seitenstück zu Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus, doch im Unterschied zu dessen Biografie ist die seine keine literarische Fiktion.
Jón stammte aus nicht ganz armen Verhältnissen, sein Vater und Großvater waren »namhafte, wenn auch nicht reiche« Bauern, wie er in seiner Lebensgeschichte festhielt. In der Familie seiner Mutter gab es mehrere Pastoren. In Pfarrersfamilien wurde ganz besonders darauf geachtet, die Kinder »an die Bücher zu setzen«, und meist fiel diese Aufgabe den Müttern zu. Nebenher musste Jón schon als kleiner Junge auf dem Hof mit anpacken, erst recht, als sein Vater starb und sein dreizehn Jahre älterer Bruder Halldór den Hof übernahm. Als Jón acht Jahre alt wurde, war er schon drei Mal beim Durchqueren gefährlicher und eiskalter Flüsse fast ertrunken. Ein aussichtsreiches Omen für einen späteren Seemann.
1615, Jón lebte als inzwischen erwachsener Knecht ohne Aussicht auf eine Heirat und einen eigenen Hof bei seiner Mutter und der Familie des Bruders, verschlug es ein ziemlich mitgenommenes Schiff aus England in das weitverzweigte Fjordsystem des Ísafjarðardjúps. Es war in einem Sturm bei den Westmännerinseln beinah leckgeschlagen.
Das Aufkreuzen englischer Schiffe in den isländischen Westfjorden war damals nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil, wenn es eine Gegend auf der Insel gab, die häufigen und zahlreichen Besuch aus dem Ausland erhielt, dann waren es ausgerechnet die heute so einsamen und entvölkerten Fjorde der Nordwesthalbinsel. Denn damals zogen alljährlich unermesslich große Schwärme von Hering und...