Aufbruch
Auf Amrum konnte ich noch nie gut arbeiten. Ein Irrtum zu glauben, ein geliebter Ort sei gut fürs Schreiben. Es gibt so viel anderes zu tun: über die Heide gehen, auf der höchsten Düne über die weichen, struppigen Hügelketten schauen, vom zähen, wetterfesten Strandgras gesäumt; in den Mulden, die niemand betreten darf, brüten Vögel zwischen Holunderbüschen, Kaninchen rasen durch die Senken, Fasane scharren im Gestrüpp. All dies muss ich anschauen, und das Fahrrad schlingert in den sandigen Rillen zwischen Norddorf und Nebel. Pferde mit nassen Mähnen hinter Steenodde. Ständig überrascht mich der Leuchtturm. All die Orte, die ich lange nicht gesehen habe.
Wie soll ich hier arbeiten, ich müsste in einem Zimmer sitzen, an einem Tisch, in Reichweite einer Steckdose, während Windstöße die Zweige vor dem Fenster niederdrücken, Kinder sich auf dem Weg zum Strand einen Ball zuschieben, die Kapuzen fest um die Gesichter gezurrt. Während ich nach Wörtern suchte, sähe ich die Sonne, die schon wieder durchgreift, Regen und Sonnenschein zugleich; ich müsste den Blick senken und nach einem Wort für dieses Wetter suchen, das es nicht gibt, wo ich doch die Insel selbst haben kann, unter mir, über mir, um mich herum. Es kümmert sie nicht, ob ich sie beschreibe; sie bringt mich zu gar nichts außer sich selbst. Und deswegen will ich dorthin. Mit der Hündin.
Die Inseln meiner Kindheit waren immer andere, nie kehrten wir zum gleichen Ort zurück. Auf jeder Insel wünschte ich mir, bleiben zu können, in einem der alten Häuser am Hafen, oder am Rand der Pinienwälder. Einfach bleiben, Schafe halten, endlich einen Hund haben, ein Ruderboot am Steg, einen Platz in der Dorfschule. Vielleicht eine Freundin in einem der Höfe, Bienenkörbe am Wegrand. In einem der Gärten die Hausaufgaben machen, während mein Vater im Haus Bücher schrieb und meine Mutter Feigenmarmelade kochte.
Meine Eltern lachten, wenn ich ihnen diese Geschichten erzählte, denn nichts lag meiner Mutter ferner, als Marmelade einzukochen, und mein Vater brauchte Bahnhöfe, Städte und ihre Architekturen. Aber sie freuten sich über meine Begeisterung, die auf jeder Insel gleichermaßen ausbrach, und bis heute bin ich leicht zu begeistern. Zugleich lachten sie über meine Ahnungslosigkeit: dass ich nicht wusste, wo man leben kann, dass man Geld verdienen muss, was möglich und was unmöglich ist und wie schwer es ist, mit einem fremden Ort vertraut zu werden.
Doch mir waren die Inseln nicht fremd, es waren meine Sommerorte, und über die Jahre wurden sie eins, eine einzige leuchtende, freundliche Gegend, mit den Düften des Südens und der Tatkraft des Nordens, mit der Schroffheit des äußeren Westens, nur im Osten waren wir nie.
Später reisten wir auch an andere Orte. Wir übten Ferien in Städten, in Gegenden fernab der See. Es müssten nicht immer Inseln sein, hatten meine Eltern beschlossen, wir sollten auch andere Landschaften kennenlernen, und die Städte, die sie uns zeigen wollten, lagen mitten in Europa. Diese Reisen waren lehrreich, aber unübersichtlicher. Nie hatte ich hinterher das Gefühl, wirklich ortskundig geworden zu sein.
Auf Amrum ortskundig zu werden scheint ein bescheidenes Ziel; aber um es zu erreichen, braucht es nicht weniger Zeit und Sorgfalt als in einem weitläufigen Gelände.
Die Insel schreiben.
Über die Insel gehen und ans Schreiben denken.
Über die Insel schreiben und ans Gehen denken.
An die Insel denken und über das Gehen schreiben.
Seit Längerem fliege ich nicht mehr, wofür es viele Gründe gibt, und einer davon ist die Hündin.
Die Insel kennenlernen mit der Hündin.
Die Hündin auf der Insel kennenlernen.
Der Sand, die Salzwiesen hinter Norddorf und das Knistern des Fahrradreifens auf dem Pfad am Watt entlang. Oder eher ein Knirschen, ein Knacken, wenn kleine Steinchen unter dem Reifen wegspringen, und das Schlingern des Lenkers, wenn das Rad in lockeren Sand hineinsteuert. Die Hündin liefe nebenher, knapp an der Leine, ihr gleichmäßiger, weit ausgreifender Trab neben dem Vorderreifen. Auf den Bohlenwegen müsste ich sie gut festhalten, sie würde den Kaninchen folgen wollen, und am Strand gäbe es mehr Platz, als sie jemals gesehen hat.
Den Wind wird sie lieben. Wind macht sie aufgeregt, sie reißt den Kopf hoch, spürt die Windstöße im Fell, tänzelnd hält sie die Schnauze in die Luft, bis sich die Leine spannt und ich sie zurückrufe.
Als ich noch lange Strecken flog, überquerte das Flugzeug irgendwann zwischen der Nacht und dem frühen Morgen, wenn alle eingenickt waren (die knisternden Fleecedecken eng um die Leiber gezurrt, die Nackenkissen umgelegt wie aufgeblasene Halsbänder), die unbewohnten Ebenen. Nie wusste ich genau, wo wir waren. Die Augen brannten, der träge Körper hing im Sitz, während wir minutenlang, stundenlang über leere Landschaften flogen, gleichmäßig gewellte Hügelketten ohne Vegetation, irgendwo zwischen Sibirien und Grönland, oder über die Salzwüsten von Chile, die Ausläufer des Himalaja. Eine Unruhe drang in meine Schläfrigkeit, und ich schaute auf die kleine Anzeigetafel direkt vor mir, um unsere Route zu begreifen – in einer Gegend, in der ein Absturz keine Spur hinterlassen würde, wo es nichts gäbe, wo wir bleiben könnten, keine Siedlungen, keine Vegetation, nichts. Dann richtete ich mich hellwach in meinem Sitz auf, der Wunsch nach Begrenzung, nach Überschaubarkeit war dort oben noch stärker.
Dass einen jemand findet.
Hunde können nicht fliegen. Wenn es nicht anders geht, kann man sie in Boxen sperren, sedieren und mitnehmen; vorher müssen sie geimpft werden, hinterher sind sie gezeichnet von der Reise und wollen nie wieder in die Box. Im Grunde geht es mir genauso. Auf Schiffen dagegen ist die Reise turbulent, aber begreiflich. Man überblickt die Entfernungen, und wenn es zu einem Unglück käme, wäre man in Lebensgefahr, aber nicht sofort zerschmettert; es gibt Schwimmwesten, Rettungsboote und den tapferen Seenotrettungsdienst, der auf den Friesischen Inseln um Spenden bittet, und ich stecke jedes Mal etwas Kleingeld in die Sparbüchsen.
Ich war immer wieder auf Inseln. Aber noch nie mit der Hündin. Wir kennen uns noch nicht lange, sie kommt von einer südlichen Insel, die sie durchstreift hat, bis jemand sie anfuhr und am Straßenrand liegen ließ. Dort sammelte man sie auf, versorgte sie und suchte ein Zuhause für sie. So fanden wir uns. Lange habe ich mir einen Hund gewünscht. Als Kind schon schrieb ich es hartnäckig auf jeden Wunschzettel, ich fragte ständig nach, manchmal täglich, führte alle Hunde der Nachbarschaft aus und stellte mir vor, sie gehörten mir. Ich ließ nicht locker; ich war sicher, ein Hund wäre das Glück meines Lebens. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir eine rote Leine aus Leder, weil ich sicher war, wenn die Leine an der Garderobe hing, würde sich auch der Hund einstellen. So war es nicht; ich wartete, sparte und verhandelte. Irgendwann brannte der Wunsch nicht mehr, es gab andere Träume, ich wollte reisen, lebte in anderen Ländern. Aber immer habe ich jedem Hund hinterhergeschaut.
Dann kamen Hunde in die Familie, und noch heute wundere ich mich, warum es so lange dauerte, bis ich mir diesen Wunsch erfüllt habe. Ich übte mich darin, ein Tier zur Gesellschaft zu haben.
Seit einem Jahr gewöhnt die Hündin sich an mich, an das Leben in einem Haus am Rande einer Stadt, an Futter aus dem Napf und die Leine am Hals. Und ich gewöhne mich an den mageren Körper an meiner Seite, an ihr Seufzen im Dunkeln, an Spaziergänge frühmorgens und spät in der Nacht. Wenn ich arbeite, liegt sie unter dem Tisch, seitlich auf dem Boden hingestreckt oder kompakt zusammengerollt. Sie erinnert mich daran, wann es Zeit wird, aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. Und sie zwingt mich dazu, jeden Tag eine Stunde lang über die Wiesen zu laufen. Ich gehe langsam bergauf, stecke auf der Obstwiese ein paar Äpfel ein, manchmal werfe ich ihr einen Stock und schaue ihr zu, wie sie ihre riesige Runde rennt, der Körper schmal und gestreckt, der Kopf nach vorn gereckt, die langen Beine weit ausgreifend. Irgendwann kommen Zäune, Gärten und Wege, die ihre Runden begrenzen, sie nimmt die Kurve scharf und rast zu mir zurück, so schnell, dass sie nicht rechtzeitig zum Stehen kommt.
Gereist sind wir noch nicht zusammen.
Warum ausgerechnet nach Amrum – die weite Fahrt, teuer und beschwerlich –, warum immer wieder dorthin? Wovon kann ich auf Amrum erzählen? Die Amrumgeschichten sind für Weitgereiste sonderbar still und kleinteilig. Von Nichtigkeiten und Nebensachen, von Windrichtungen und Lachmöwen, von Tee im alten Schulhaus. Die Fahrten nach Amrum: bescheidene Reisen, nicht dazu gedacht, klüger zu werden. Nur ortskundiger. Immer, wenn ich hierherfahre, ist es eine Rückkehr, und die vertraute Landschaft heißt mich...