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Die Nordsee

Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste

AutorTom Blass
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783866483538
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Die Nordsee: Sie zeigt sich oft stürmisch und rau, ist jedoch so viel mehr als nur unbeständiges Wetter, meterhohe Wellen und Bohrplattformen. Künstler und Dichter ließen sich von ihren Küstenlandschaften im ewigen Wandel inspirieren; als Handels- und Kriegsschauplatz hat sie das Schicksal ganzer Nationen entschieden; und auch heute noch formt sie die Identitäten ihrer Anrainerstaaten und derer Bewohner auf vielfältige Art und Weise. Tom Blass ist an die entlegensten Ufer der Nordsee gereist, er hat Fischer, Historiker und Bürgermeister getroffen und ist mit einem gewaltigen Fundus an Mythen, Anekdoten und Kuriositäten zurückgekehrt. Entstanden ist ein facettenreiches Porträt der Nordsee, das uns dieses vermeintlich unversöhnliche Meer in einem neuen Licht zeigt.

Tom Blass, Jahrgang 1970, geboren und aufgewachsen in London, lebt heute mit seiner Familie in Hastings. Er hat Anthropologie, Jura und Politische Geografie studiert und ist Journalist und Lektor mit den Spezialgebieten Wirtschaft, Recht, Menschenrechte und Außenpolitik.

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Leseprobe

1EINE NORDSEE-ÜBERFAHRT


Eine graugrüne Weite aus trübem Wasser,
die einen mit weißen Schaumkronen zornig angrinst,
und darüber ein freud- und lichtloses Gewölbe,
wie aus nassem Löschpapier gemacht …

Joseph Conrad, Poland revisited

Eingepackt in Pullover, Jacken und Handschuhe, schaute ich vom Deck eines Frachters hinunter auf eine Stadt aus Lichtern, die sich traumgleich entlang des südlichen Humberufers erstreckte. Noch herrschte Flut, und der Frachter MV Longstone mit Ziel Göteborg an der gegenüberliegenden Nordseeküste hatte seine Leinen bislang nicht gelöst. Doch er brummte und stampfte in Vorfreude. Hafenarbeiter in leuchtenden Overalls verteilten sich in der Dunkelheit entlang des Kais, und noch über das dumpfe Rumoren der Schiffsmaschinen hinweg flogen Gesprächsfetzen wie Papiertaschentücher zu mir hoch, doch ehe ich sie aufschnappen konnte, hatte die herbstliche Nachtbrise sie meist verweht. Auf der warm anmutenden Brücke, deren Besatzung ich mich bisher nicht vorzustellen getraut hatte, blinkten und leuchteten Bildschirme und Armaturen.

In Schutzhelm und Warnweste hatte ich auf dem Weg zum Schiff einen Wirrwarr aus Kontrollpunkten und Durchgangsbereichen passiert und zuvor eine Erklärung unterschrieben, dass ich das Hafengelände auf eigene Gefahr betrat. Mehr als ein paar unbeaufsichtigte Schritte hinter die Absperrungen waren strengstens verboten – zu Recht, bei meiner Ungeschicklichkeit und der Vielzahl seltsamer Fahrzeuge, die durch das Labyrinth der Containerschluchten kurvten. (Besonders eins, ein turmhohes, rumpfloses Beinpaar auf Rädern und mit einer Fahrerkabine in etwa sechs Metern Höhe, erinnerte zugleich an Georges Braque und Hieronymus Bosch.) Es sei wesentlich sicherer, erklärte man mir, sich von einem klemmbrettbewehrten Aufpasser zum nächsten weiterreichen zu lassen. So wurde ich schließlich wohlbehalten abgeliefert und betrat die riesige Halle des Schiffsbauchs.

Am Nachmittag hatten noch gedämpfte, nüchterne Farben das Bild bestimmt. Kurz vor Sonnenuntergang jedoch glänzten die Frontscheiben Tausender fabrikneuer Kombis wie die Schilde eines Heers vor einer wilden, weit entfernten Schlacht in grauer Vorzeit. Eine Stunde später, die Sonne war bereits im Westen verschwunden, zerriss ein ganz anderes Leuchten die Dunkelheit: gespenstische Blitze in Halogenorange, Magnesiumweiß und Peridotgrün, stilles Getrommel ohne Takt gegen die Nacht. Kurz vor Mitternacht schließlich kam alles ins Rollen. Das Brummen der Maschinen wurde tiefer, die Longstone löste sich vom Kai und glitt hinaus ins Dunkel des Kanals.

Gut eine Stunde lang begleiteten uns steuerbords die sagenhaften, ins Dunkel eingebrannten Lichterketten, während sich auf der Backbordseite der Fluss schwarz, bedrohlich und undurchdringlich zur See hin weitete.

Ich schlief in einer spartanisch eingerichteten, aber großen und bequemen Kabine, vom Dunst und von den Gerüchen der Kombüse durch einen Flur getrennt. Was die Passagiere vor mir zurückgelassen hatten, lag in der Messe verstreut: zerfledderte Truckstop-Ausgaben und anderer Lesestoff. Patrick, der Erste Maat (dem trotz seiner Funktion als »Aufsichtsperson« der Grund meines Aufenthalts nicht ganz klar schien), entschuldigte sich für die fehlenden Reisegefährten. Am Wochenende, so sagte er, sei das Schiff immer rappelvoll mit irischen Lastwagenfahrern, die Rinderhälften nach Schweden brachten. Ich versicherte ihm, dass mir das Alleinsein nichts ausmache.

Am Morgen wurde ich nur langsam wach und starrte durch das Bullauge auf eine graue Wasserscheibe, bevor ich schließlich hoch zur Brücke ging, wo ich mit einem Becher Kaffee in beiden Händen zusah, wie der mächtige Rumpf unseres Frachters auf die sprühenden, biegsamen Wellen schlug.

Wie gut man vorankommt, ist auf See quälend selten erkennbar, und der Tag läuft nur schleppend an. Patrick, der Zweite Maat Steve und ich standen allein auf der Brücke und betrachteten den Horizont und die herabstoßenden Möwen. Der Kapitän war in seiner Kabine, wo er die meiste Zeit des Tages auch blieb. Patrick sagte, es verspreche eine gute Überfahrt zu werden. Den größten Teil des vergangenen Jahres hatte er auf der Falkland-Route zugebracht; drei Wochen hin, bis man vom ständigen DVD-Schauen und mangels anregender Gespräche leer und apathisch in Port Stanley ankommt, dann drei Wochen wieder zurück. Dagegen war unsere Reise die reinste Busrundfahrt, in vier Tagen von der Humbermündung zum tausend Meilen entfernten Göteborg an der Küste des Kattegats.

In früheren Jahrhunderten befuhren kleinere und zerbrechlichere Schiffe, beladen mit Wollballen und bündelweise Unterröcken, dieselbe Strecke und kehrten mit warmen Pelzen aus dem hohen Norden, uraltem Bernstein und Holz zurück. Wir transportierten Autoteile und Katzenfutter nach Schweden; zurückfahren sollte das Schiff mit Volvos und Weihnachtsbäumen.

Es war die übliche Route der Longstone, die – benannt nach dem berühmten Leuchtturm – in mir Erinnerungen an einen Ausflug zur Insel gleichen Namens weckte. In Sichtweite des bunt gestreiften Turms aus Portland-Kalk, in dem einst Grace Darling, die Tochter des Leuchtturmwärters, zu Hause gewesen war, hatte mein Sohn damals ein Seehundjunges aufgeschreckt, das seinerseits ihn erschreckte. Beide zogen sich ein Stück zurück, um einander zu beobachten, der eine, indem er hinter mir hervorlugte, der andere aus dem sicheren Versteck eines Gezeitentümpels heraus. Nur die Augen und die zuckenden Barthaare hoben sich noch von dem dunklen, aber klaren Wasser ab.

Das war der Höhepunkt eines herrlichen Tages gewesen, die uralten Felsen, bekleckst mit dottergelben Flechten, hielten der Sonne ihr raues Spiegelbild vor, und die See lag so glatt da, als schliefe sie. Wir hatten Eis gegessen und in T-Shirt und Sonnenbrille die Lummen gezählt. Im Herbst würden sich die Farne-Inseln in einen lebensfeindlichen, ungastlichen Ort verwandelt haben. Früher trieben die Herbststürme bereits ab September die Schiffe in den Schutz der Häfen, wo sie bis zum Frühling blieben. Doch solche Ruhepausen kennen moderne Schiffe wie die Longstone nicht, wieder und wieder befährt sie ihre Route bei nahezu jedem Wetter, vom Humber aus südlich entlang der Doggerbank, wie es umsichtige Skipper seit jeher tun, wenn sich Nordwind ankündigt.

Innerhalb des nächsten Tages sollten wir auf unserem Weg entlang der friesischen Inselkette – Schiermonnikoog und Terschelling, dann nordwärts Richtung Amrum und Sylt – auch Helgoland und die Halligen passieren und unterwegs einen Wald aus Bohrinseln durchqueren, die zu Ölschlick gewordene Überreste uralter Bäume aus der Tiefe saugen, ihre Gasfackeln wie ferne Streichholzflammen. Erst eine Generation sind diese Inseln alt, sie zählen damit zum jüngsten Zuwachs der Nordsee. Doch es sind andere Eigenschaften, die dieses gegen Narben gefeite Meer in jeder seiner Launen prägen: das schmutzige Graugrün, das Conrad schildert, und das zornige Grinsen des Wassers, über allem der düstere Himmel. Auch Phönizier und Römer, so sinniert er, »hatten solche Tage erlebt, die sich mit ihrem Winterlicht so sehr von allem unterschieden, was sie aus ihrer Mittelmeerheimat kannten«.

Auf See bestimmen die Mahlzeiten den Tagesrhythmus. Mittags kam durch die Sprechanlage auf der Brücke eine kratzige Durchsage aus der Kombüse: »Das Mittagessen für den Passagier ist fertig«, ließ Lewis, der Koch aus Liverpool, verlauten. Er hatte graue Haut, einen Schädel glatt wie ein Aal, und bei unserer ersten Begegnung hatte er mich mit einem auswärtsschielenden Auge fixiert und gefragt: »Kannste Englisch?« Vor Verlegenheit stumm, konnte ich nur nicken, was ihn nicht überzeugte.

An der Kombüsentür reichte er mir ein glänzendes, radkappengroßes Omelett und schob mich in Richtung der vereinsamten Messe, wo ich einen Happen herunterschlang und dabei ein paar Leserbriefe aus dem Meat Trades Journal überflog.

Während die Longstone schlingerte und gierte, erfreute ich mich an den Vögeln, die hier und da die triste Weite bevölkerten. Am häufigsten waren die gängigen Möwenarten. Zu meinen selteneren und daher spannenderen Sichtungen zählten einzelne Dreizehenmöwen und Schwärme winziger schwarzer Sturmschwalben, die mit schwindelerregendem Wagemut knapp über die Wellenkämme dahinschossen. (Am 17. September 1798 beobachtete Samuel Taylor Coleridge an Bord eines Paketboots mit Ziel Deutschland während seiner ersten Reise zum Festland »eine einzelne einsame Wildente. Man vermag sich nicht vorzustellen, wie interessant sie wirkte, inmitten dieser leeren Wasserwüste ringsumher.«)

Auf See ist jedes Schiff in Sichtweite eine Bemerkung wert, so wie man bei einsamen Spaziergängen auf dem Land die Eigenheiten der Leute kommentiert, denen man begegnet. Zuerst einige Trawler, als Nächstes ein unwirklich hoch beladenes Containerschiff und dann ein...

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