ZWEITES KAPITEL
WAS WÄCHST – DAS WÄCHST
Weinend saß ich vor meinem Vater und flehte ihn an, mir die Genehmigung zu geben, als Kriegsfreiwilliger einzutreten – er blieb unerbittlich und sagte nein. Ohne schriftliche Genehmigung des Erziehungsberechtigten konnte ich mich aber mit 17 Jahren noch nicht melden. Wie habe ich damals mit dem Geschick gehadert, welche Angst ausgestanden, daß der Krieg zu Ende gehen könnte – selbstverständlich siegreich –, ohne daß ich daran teilgenommen hätte; man würde später mit den Fingern auf die Leute zeigen, die in dieser großen Zeit gelebt hatten und keine Kriegsteilnehmer gewesen wären.
Das Ausrücken des Paderborner Husarenregiments in den ersten Augusttagen 1914 wird mir immer unvergeßlich sein. Im ersten Morgengrauen ritt das Regiment durch die Straßen der Stadt zum Bahnhof, von einer großen Menschenmenge begleitet. Nur das Trappeln der Hufe war auf dem Pflaster zu hören – die Husaren hatten ihre neuen feldgrauen Uniformen an, die die meisten zum erstenmal sahen; die Sättel waren hochbepackt mit zum Platzen gefüllten ledernen Packtaschen, mit gerolltem Mantel und mit Karabinern im Schuh auf der einen Seite und dem langen Kavalleriesäbel auf der anderen Seite – da kam von vorn, als das erste Licht im Osten glänzte, erst von wenigen, dann langsam anschwellend und schließlich von allen mitgesungen, das Lied:
„Morgenrot, Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod . . .
Bald wird die Trompete blasen,
Dann muß ich mein Leben lassen,
Ich, und mancher Kamerad!“
Es kehrten 1918 nicht viele zurück, die dieses Lied im August 1914 gesungen hatten! Da im Sommer 1915 der Krieg noch nicht zu Ende war, mußte mein Vater sein Versprechen einlösen und mir die Genehmigung erteilen, mich freiwillig melden zu dürfen. Ich wurde Feldartillerist in Kassel beim 1. Kurhessischen Feldartillerie-Regiment Nr. 11 und bin den ganzen Ersten Weltkrieg beim aktiven Regiment, in dem stets ein vorbildlicher Geist und eine ausgezeichnete Kameradschaft herrschten, geblieben. Das Jagen wurde nun kleingeschrieben. Nur am Styr und Stochod schossen wir einzelne Enten, auch wohl mal einen Hasen, als die Fronten erstarrt waren und der zermürbende Stellungskrieg modern geworden war. Einige herrliche Jagdtage erlebte ich im Winter 1916–17. Ich kam zum erstenmal auf Urlaub nach Hause – als Leutnant mit dem Eisernen Kreuz! Es lag tiefer Schnee, und ich nahm mir an der Bahnstation einen Schlitten und fuhr stolz nach Haus Gierken. Das Glück und die Freude meiner Mutter, die jederzeit ihr Leben hingegeben hätte, wenn sie meines dadurch hätte retten können, werde ich nie vergessen. Mein Vater stieg in den Keller, um die beste Flasche Wein zu holen, die er besaß; ich weiß es noch, als ob es gestern gewesen wäre: „1896er Mouton Rothschild premier cru“, von denen nur noch drei Flaschen vorhanden waren und die für ganz besondere Familienereignisse aufgespart waren – der Wein aber war völlig verdorben, eine rotbraune, ölige Flüssigkeit, die kaum zu trinken war.
Ein Jagderlebnis aus dem Kriege will ich noch schildern: Im Winter 1917/18 lagen wir an der männermordenden Front vor Verdun. In unserem Abschnitt an der Maas lagen die deutschen und französischen Stellungen weit voneinander entfernt, und auf der im Vorfeld fließenden Maas entwickelte sich ein reger Entenstrich. Eines Tages ließ es mir keine Ruhe, und ich ging nachts bei Vollmond, nur von meinem Burschen begleitet, weit ins Vorfeld und setzte mich am Ufer der Maas an. Außer Handgranaten und Karabiner hatte ich die Doppelflinte mitgenommen. Ich schoß von den hin und her streichenden Enten vier Stück und sagte mir, daß es nun bald Zeit würde zu verschwinden, da französische Patrouillen, durch die Schießerei angelockt, bald erscheinen würden – da tauchte vor mir im gurgelnden Wasser der Maas, wenige Meter vom Ufer entfernt, ein merkwürdiger Kopf auf – ein Fischotter, durchfuhr es mich, und ohne zu überlegen schoß ich auf etwa 20 Schritt auf den halb aus dem Wasser ragenden Kopf. Der Otter war im Schuß verschwunden – sicher war er tödlich getroffen und sofort untergegangen. Hätte ich gewartet, dann wäre er sicher an Land gegangen, und ich hätte meinen ersten Fischotter erlegen können.
Als ich stolz mit meinen Enten wieder in der Feuerstellung ankam, gab es ein heiliges Donnerwetter meines Kommandeurs – ich war damals Abteilungsadjutant – und das strenge Verbot für weitere jagdliche Eskapaden – aber an dem Entenessen nahm der Major dennoch teil!
Auch einen Fuchs, den ich in der Nähe der Protzenstellung vor Verdun schoß, haben wir gegessen. Nachdem er gestreift war, wurde er mehrere Tage, mit Telefondraht festgebunden, in fließendes Wasser gelegt und dann wie ein Hase zubereitet. Da die Verpflegung im Winter 1917/18 schon sehr mäßig war, schmeckte uns der „Hasenbraten“ ausgezeichnet.
Der Zusammenbruch 1918 traf mich und meine Generation sehr hart. Bis zum Sommer 1918, ja bis zur Panzerschlacht bei Cambrai, in der ich zum zweiten Male verwundet wurde, hatten wir noch an den Sieg geglaubt. Bei Cambrai erlebten wir zum ersten Male die völlige Überlegenheit der amerikanischen Panzer. Wir wurden uns klar, daß das Material den Krieg entscheiden würde. Trotz dieser Erkenntnis hatten wir kein Verständnis dafür, daß der Kaiser seine Soldaten verließ und nach Holland ging. Kaiser und Reich waren die Ideale unserer Jugend gewesen, dafür hatten wir freiwillig gekämpft und geblutet – nun brach das alles zusammen, und wir flüchteten uns in ein Landsknechtstum. Was ging uns Studieren oder bürgerlicher Beruf an? Es war vergessen worden, uns vor Verdun oder bei Cambrai totzuschießen – jetzt wollten wir weiterkämpfen, um irgendwo in der Welt den Lorbeer oder den Tod zu finden.
Eine verworrene, ja gefährliche seelische Reaktion, die, zurückblickend, verständlich ist und aus der sich viele nicht wieder befreien konnten. Diese Elemente gewannen den Anschluß an die bürgerliche Gesellschaft nicht zurück, sie gingen in die Freikorps, ins Baltikum, kämpften gegen Spartakus in Berlin und im Ruhrgebiet und schließlich in Oberschlesien und fielen Hitler zu als spätere SA- und SS-Führer.
Ich habe am Anfang dieser Entwicklung auch gestanden, aber früh genug wandte ich mich von diesen wurzellosen Existenzen ab, begann mein Forststudium, und damit bekamen wieder die Lebensimpulse Herrschaft über mich, die in meiner Jugend wirksam gewesen waren: Liebe zu Gottes herrlicher Natur, die Freude an Wald und Wild und die Passion zum Waidwerk.
Während meines Studiums in Hannoversch Münden und München hatte ich nicht viel Jagdgelegenheit. Die Kriegsjahrgänge studierten alle auf einmal, und in den Hörsälen herrschte eine drangvolle Enge. Die großzügigen Jagdeinladungen der umliegenden Forstämter und der Jagdpächter trafen allzuselten den einzelnen, da natürlich die Einladungen reihum gingen. Ich erinnere mich an eine Hasenjagd bei Witzenhausen, wo wir zu viert eingeladen waren und nach einer durchzechten Nacht in einer ziemlich animierten Verfassung beim Stelldichein eintrafen. Der Jagdherr war bei der Begrüßung – unsere Fahne flatterte uns voran – etwas frostig. Bei den Kesseln – man ließ uns grundsätzlich die Kessel anlaufen – wurden wir bald wieder nüchtern und schossen zu viert 35 Hasen bei einer Gesamtstrecke von 60 Hasen. Abends beim Schüsseltreiben sagte der Jagdherr in seiner Rede, daß er erst etwas pikiert gewesen sei ob unseres leicht blauen Zustandes, daß er sich nun aber deswegen glücklich schätze, denn was würden wir wohl geschossen haben, wenn wir nüchtern gewesen wären! Sicher wäre dann für die anderen Gäste überhaupt nichts mehr übriggeblieben.
Im Winter gab es häufig im Reinhardswald, im Bramwald, auch im Stadtwald von Hannoversch Münden Saujagden, und an solchen Tagen blieben die Kollegs und die Institute leer. Ein Kommilitone von mir, B., hatte bei diesen Jagden einen sagenhaften Anlauf. Es war gleichgültig, wo man ihn hinstellte – ihm kamen die Sauen; und da er vorzüglich schoß, hatte er bald eine unglaubliche Strecke zusammen. Bei jeder Jagd wiederholte sich dasselbe: „Nun, Herr B., Sie haben schon so viel Sauen in diesem Winter geschossen, Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich Sie an den Feldrand stelle.“—Die Sauen kamen an den Feldrand! Es war gleichgültig, ob er in vollem Wind stand, ob er an einer großen Wiese postiert wurde und ob alles dagegen sprach, daß die Sauen dort kommen würden, aber sie kamen mit tödlicher Sicherheit immer bestimmt wieder zu B. Zum Schluß entspann sich immer ein Kampf um die Nachbarposten, um wenigstens etwas von der Fülle des Dusels abzubekommen.
Ich habe auch später im Leben Ähnliches erlebt, aber einen plausiblen Grund dafür kann ich nicht angeben. Es ist im übrigen Leben, außerhalb des Jagens, auch häufig so, daß einzelne Glück haben und andere vom Unglück geradezu verfolgt werden. „Glück hat auf Dauer nur der Tüchtige“, heißt ein altes Sprichwort, aber ich kenne auch sehr tüchtige Menschen, die nie Glück haben. Eines ist sicher, daß heutzutage jemand, um wirklich etwas zu erreichen, nicht nur Tüchtigkeit, Fleiß, Zähigkeit und andere Tugenden nötig hat, sondern zusätzlich auch noch Glück haben muß. Die erstgenannten Eigenschaften sind selbstverständliche Voraussetzungen. Vielleicht liegt es auch daran, daß man die Gabe haben muß, das vorbeischwebende Glück beim Schopf zu packen und zu halten – aber auf der Jagd trifft das nicht zu. Guter Anlauf ist einfach Dusel und unerklärlich.
Schon...