Mount Abu
Am Mount Abu im Norden Indiens haben sich einige hundert Menschen versammelt, um in der Gegenwart eines Acharyas, eines Gelehrten, zu meditieren, seinen Lehren zu lauschen und vor allem um sein Charisma zu spüren, seine Energie zu trinken - denn er gilt schon in diesen frühen Tagen seines öffentlichen Wirkens bei seinen Landsleuten als erleuchtet. Der Acharya sitzt in einem kleinen Korbsessel und wirkt außerordentlich dynamisch und dynamisierend.
Den Menschen um ihn herum ist anzumerken, daß Entscheidendes in ihnen vorgeht. Es sind nur wenige Europäer und Amerikaner anwesend, aber diese Relationen werden sich in einigen Jahren ändern.
Zur gleichen Zeit betritt ein junger Mann in West-Berlin zum ersten mal als Arbeitnehmer, der sich für die Ausbildung in der Verwaltung entschieden hat, ein großes Dienstgebäude. Es ist das Landesversorgungsamt, das für die Kriegsopferrenten dieses Bundeslandes zuständig ist. Es gibt viele Menschen, besonders Kriegerwitwen, denen es ein gutes Gefühl gibt, zu wissen, daß ihre Akten hier hängen.
Auch der junge Mann hängt durch, allerdings innerlich, angesichts der Erkenntnis, daß er im Rahmen seiner Ausbildung zunächst nun hier sechs Monate lang täglich um halb-acht einzulaufen hat.
Was ihm eben bei der Annäherung an das große trostlos erscheinende Backsteingebäude niederschmetternd eingefallen ist, nimmt ihn gefangen, während er die breite Treppe in den zweiten Stock hochgeht - in der Bewältigung seiner für ihn erschreckenden Tiefe ebenso wie in der Suche nach dem Ausweg in eine innere und äußere Freiheit. Er wird sieben Jahre suchen und fragen, bis er wirklich springt... die Stufen in seinem Leben zu seiner Freiheit hinauf.
Viele Menschen sind bei uns heute von der Wissenschaft und ihren negativen Auswirkungen trotz aller erfreulichen Ergebnisse für unser aller Leben enttäuscht - sie suchen "das Andere" im Leben. Auch er hätte es damals so oder so ähnlich formulieren können, doch die Beengtheit der Lebensverhältnisse und das Eingesperrt-Sein in das Vorgefertigte verstellten den Blick auf die größeren Zusammenhänge. Zu groß war das täglich erlebte eigene Dilemma inmitten des vermeintlich so wunderbar Geregelten, als daß er seinen innersten und kühnsten Ahnungen folgend vom Leben hätte verlangen können, `das Göttliche´ hier in diesem Körper zu erfahren und es gleichzeitig ganz allgemein auch im diesseitigen Leben besser zu haben. Darum ging es ihm, das war seine Sehnsucht. Doch er wußte nicht, wie er es in der Praxis anfangen sollte.
Das Gehalt war nicht allzu schlecht; also fuhr er mit seiner Freundin nach Paris und London, sie besuchten die legendäre Kommune von Findhorn in Schottland, und er stand mit ihr auf der Akropolis in Athen und mit den Füßen im Atlantik zwischen den Bunkeranlagen des Atlantikwalls aus "großdeutschen Zeiten" - im Jahresurlaub, der so entsetzlich rasch vorbei war - auch dieses Jahr wieder...
Glauben heißt nicht, auch tatsächlich zu wissen. Deshalb forschen immer mehr Menschen möglichst direkt nach. Das ist der heutige Stand der allgemeinen Entwicklung. Die Esoterik boomt, geht zurück und erfährt wieder neue Höhen, und das ist gut so, denn nur so kann das Wichtigste passieren: Sich selbst zu erkennen und sich selbst zu verbessern, zu wachsen.
Auch er fand durch wundersame Fügungen nach den Jahren des Nichtglaubens seit dem ersten massiven Stören im Religionsunterricht und der fortschreitenden Abkehr von Gott im frühen Jugendalter zu einer besonderen Art von Glauben zurück. Es geschah praktisch gleichzeitig zum Kirchenaustritt, der durch die erste Gehaltsabrechnung ausgelöst wurde, die eine Kirchensteuer von fünfzig Pfennig ausgewiesen hatte, was er bei allem neuen Interesse für Jenseitiges unerhört fand.
Daß dieses Interesse nicht nur am Anfang des Weges eine Form der Flucht sein kann, sagte ihm niemand, denn er behielt seine Interessen für sich. „Die heimliche Lektüre“ damals ungeheuerlich anmutender Schriften theosophischen Inhalts hielten ihn in den Jahren der Ausbildung inmitten der rigiden Berufswelt der späten Sechziger Jahre regelrecht über Wasser, und nur wenige Freunde teilten sein Interesse.
Doch bald verließen die anfänglichen Wegbereiter und die ersten neuen Freunde seines neuen Lebensabschnitts die Bühne seines Lebens, und so war er sehr allein, als er sich eines Tages unverrückbar eingestehen mußte, daß ihn das Leben mitten hinein in das kalte Wasser gestoßen hatte.
Der Acharya kehrte mehrmals zum Mount Abu zurück, doch sein Hauptaugenmerk galt seiner Tätigkeit als Vortragender landauf-landab. Und Indien ist groß. Er war jahrelang unterwegs und sprach vor ungezählten Zuhörern, die ihn immer mehr zu verehren begannen, denn er erschien ihnen, den Hindus, weit über seinen Status als Professor der Philosophie hinaus als eine Inkarnation der Großen, als ein Verkünder der großen, ewigen Wahrheiten, die auch im Westen aus den Veden, den Upanishaden, der Bhagavad Gita bekannt sind.
Auch der junge Beamte in Berlin las sie, die Bhagavad Gita - wenn er es im Prüfungsstress für die Laufbahnprüfung einrichten konnte zwischen dem Beamtenrechtsrahmengesetz, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, der Zivilprozessordnung, der Landeshaushaltsordnung.
Nichts ungeprüft lassen, so lautete einmal eine Botschaft des Meisters Jesus vor zweitausend Jahren. Und heute ist die Gefahr der Esoterik die, als Trend zu verwässern und als Flucht in der persönlichen Krise herhalten zu müssen. Sie werden verflucht, diese Krisen, aber die sind meist sehr nötig, denn sonst kriegen wir den Hintern vom Beamtensessel und von anderen sicheren und bequemen Sitzgelegenheiten nie hoch.
Wir müssen gehen, jeder einzelne muß gehen. Das Sitzen in Meditation ist dabei ein unverzichtbarer Bestandteil, aber erst müssen wir gehen... Was bringt es uns?.... Das war und ist die Frage. Früher hieß es: Wohin kann ich gehen, um etwas zu finden, das mich weiterbringt. Bücher lesen kann ich hier auch... aber wie kriege ich - den Kick? Und heute?
Der junge Mann konnte seinem Empfinden nach nirgendwohin gehen, außer in die nacheinander wechselnden Dienstgebäude zu den jeweiligen Aufgabengebieten, den mehr oder minder erträglichen Kollegen und den mehr oder minder sinnvollen Tätigkeiten - und doch war er längst auf seinem Weg. Die Arbeitslosigkeit war damals eher eine theoretische Größe aus dem Studienfach Volkswirtschaft, was ihm beim gewagten Blick über die Beamtenlaufbahn hinaus beziehungsweise von ihr weg - besonders in Momenten der grauen Hoffnungslosigkeit des Arbeitsalltags - eine gewisse Sicherheit gab.
Und so konnte er in der für ihn viel zu knappen Freizeit immerhin einige Möglichkeiten im spirituellen Bereich wahrnehmen und sich außerdem ein passables Grundwissen zusammenlesen.
Daß es dabei aber nicht bleiben konnte und daß über das reine Verstehen von Buchwissen hinaus etwas Befriedigendes zu geschehen hätte, das wurde ihm immer deutlicher bewußt.
Er fühlte mehr und mehr die Dringlichkeit, einen wirklich stabilen inneren Halt zu suchen, und so bemühte er sich zunehmend um die eine oder andere praktische Erfahrung.
Er ahnte auf zeitweise schon beklemmende Weise, daß sein Leben aus der abgesicherten Situation heraus wohl eine vergleichsweise dramatisch angelegte Wendung erfahren würde - und nehmen müßte, und so bewegte er seinen „zur vorgezogenen Grauwerdung“ vorgesehenen Beamtenkopf samt den dazu erschlafften Beinen zu den Jüngern von Ananda Marga und Guru Maharaji, er probierte die transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi, er übte sich bei einigen Gruppen im Hatha Yoga und sehnte sich dabei nach den tatsächlich später in beglückender Weise stattfindenden Erfahrungen des Tantra.
Bei mitunter noch so dilettantisch angelegt erscheinenden Bekehrungs- und Vermittlungsversuchen der jeweiligen Protagonisten machte er doch fast überall die Erfahrung dessen, worum es überall geht - er machte die Erfahrung der Stille im Innern, realisierte einen Abstand zur Welt mit ihrem Stress und ihrem Irrsinn und erlebte eine Freude, die er in seinem normalen Alltag sonst nie hatte.
Es war ihm damals noch gar nicht klar, worin die wahren Ziele der Gruppierungen, die er aufsuchte, bestanden, was eigentlich tatsächlich vor sich ging anläßlich der oft sehr schönen und auch voneinander differierenden "Veranstaltungsinhalte". - Er hatte einen inneren Wegweiser, der ihn durch die Gruppen und Ereignisse hindurchführte, dem er vertraute, wohin er auch ging. - Später hörte er, daß viele andere Sucher es sehr ähnlich erlebt hatten.
Der Trend ist heute, auf dem weiten Gebiet der Religion, der Esoterik, der Spiritualität einen eigenen Weg zu gehen und dabei den eigenen Mix aus dem - inzwischen unüberschaubaren - Angebot zu kreieren, in der Hoffnung, das für die individuelle Entwicklung auch wirklich Passende zu tun.
Abgesehen von Drogenerfahrungen hat es fundamentale Erfahrungen, die im psychologischen Sinne existieren, auch damals schon gegeben, doch musste man dabei einem bestimmten Weg folgen.
Unterschiedliche Grenzerfahrungen wurden von der Einnahme von LSD berichtet, geschönte und bisweilen recht verzerrte Sinneseindrücke vermittelten Haschisch und Marihuana, und dabei ließen es viele der Suchenden bewenden. Sie waren Aussteiger, die nirgendwo einzusteigen vermochten, noch nicht einmal in eine tiefere Dimension ihrer selbst, und das trotz oft exszessiven Konsums aller als bewußtseinserweiternd geltenden Drogen.
Von Carlos Castaneda, dessen Bücher von vielen Gleichaltrigen verschlungen wurden, hielt er nichts, denn er fühlte,...