»Ein altes Buch, vom Ahn vermacht«
DIE GENE
Meine Mutter, Marielouise Kollo, geborene Herting, stammte aus nordfriesischem Geblüt. Sie kam zwar aus dem fast schon südlichen Flensburg, aber ihre Wurzeln sind noch auf die nordfriesischen Inseln zurückzuverfolgen. Sie hätte schwesterlich mit der Fürstentochter Ortrud aus dem LOHENGRIN verwandt sein können, genauso stur, aber auch genauso großartig war sie. Das normale Leben schien nicht für sie gemacht zu sein; sie bewährte sich besser in Ausnahmesituationen, die ihr dann aber auch reichlich geboten wurden, im Krieg, auf der Flucht, in ihren letzten Stunden: da zeigte sie, zumindest nach außen hin, große Würde und Gelassenheit.
Das normale, so genannte schöne Leben sah sie meist nur missmutig, unzufrieden und nordisch fröstelnd. Eine Bergmann’sche Figur. Richtig aufgetaut und lustig wurde sie erst, wenn sie »’n Lütten« getrunken hatte. Was sie liebte, waren wir, meine Schwester und ich. Man muss gewiss auch Generationen zurückgehen, um zu verstehen, wie ihre Zeit, ihre Erziehung dazu beitrugen, sich in allen Gefühlsäußerungen zurückzuhalten; und das Friesische kam wohl dazu.
Ich selbst hörte es ja noch in meiner Jugendzeit, dass den Deutschen »einer, der zuviel redet und lächelt«, suspekt war. »Der ist nicht ehrlich«, sagte man im Norden, »der hat was zu verbergen«.
Im Norden wurde wenig gelächelt und nur das Nötigste geredet. Ein Witz gibt dies so treffend wieder, dass ich hier gar nicht anders kann, als ihn zu zitieren. Es ist auch der einzige Witz in diesem Buch, das, wie ich hoffe, nicht ganz ohne Witz ist.
Ein Friese sagt: »Moin!«
Sagt der andere Friese: »Moin. Moin.«
Sagt der erste Friese zu seiner Frau: »Komm, wir gehen,
der redet zuviel.«
In diesem nicht sehr amüsanten Dunstkreis wuchs meine Mutter auf. Heute hätte sie es allemal leichter gehabt, denn heute lächeln wir nur noch, geben Küsschen, Küsschen und Küsschen, und die Reden hören gar nicht mehr auf.
Nicht alle Frauen fahren gut Auto, das ist ein köstliches Märchen, aber meine Mutter war eine hervorragende Autofahrerin, und in meinen frühen Jugendjahren bin ich mit ihr zusammen einige Male in Italien gewesen, am Gardasee. Mit einem untrüglichen Riecher für die besten Lokale – schließlich war sie die Tochter eines Hotelbesitzers – fuhr sie in wildfremde Städte hinein und fand – der Himmel weiß, wie sie es machte – immer die richtigen Straßen und Plätze mit den wunderbarsten Restaurants.
Wenn wir an einem viel versprechend aussehenden Lokal vorbeifuhren, dann hielt sie an, wobei es nicht besonders schick und aufwändig aussehen musste, es konnte auch eine ganz einfache Trattoria sein.
»Du bleibst im Wagen«, hieß es zu mir gewandt, und sie ging »mal gucken«. Das bedeutete: Sie ging auf die dortige Toilette. Hier entschied sich alles!
Wenn die Toilette sauber und gepflegt war – und das war im Italien dieser Jahre wirklich selten –, war der Test bestanden, und sie winkte mich hinein. Im verdreckten Fall fuhren wir eben einfach weiter. Mit dieser Methode landeten wir immer beim besten Essen und beim besten Wein.
Körperliche Komplikationen haben das Leben meiner Mutter oft begleitet, und bei meiner Geburt, so hat man mir erzählt, wäre sie beinahe gestorben. Die Ärzte hatten sie schon aufgegeben, hatten aber nicht mit ihrem Willen – sie war Widder – und auch nicht mit ihrem friesischen Blut gerechnet. Stoisch überstand sie alles Schlimme.
Zu ihrem Sternbild Widder gibt es eine hübsche Geschichte, die man heute wohl erzählen darf. Sie hatte mit dem »Führer« am 20. April Geburtstag (zwei Tage später hatte übrigens auch Lenin Geburtstag, was wohl nur wenige wissen). Nun wurde zu Hitlers Geburtstag in allen Berliner Fenstern die Hakenkreuzfahne herausgehängt, pflichtgemäß oder auch nicht. Wenn mein Vater mit meiner Schwester und mir damals Hand in Hand durch die Straßen ging, zeigte er auf die Fahnen und meinte zu uns: »Da seht ihr mal, und alles für Mama!«
Mit 65 Jahren ist meine Mutter dann sehr krank geworden, woran ihre anerzogene Unsicherheit und Verkrampftheit sicher einen großen Anteil hatten. Aber davon später.
Ihr Leben liegt, da sie nie zu uns darüber gesprochen hat, in nebliger Vergangenheit. Irgendwann als junges Mädchen ging sie von Flensburg nach Berlin und wollte im Film landen, doch sie landete – bei unserem Vater.
Der erzählte später, sie sei damals eine der schönsten Frauen gewesen, die er bis dahin gesehen hatte – und er hatte schon sehr viele schöne Frauen gesehen. Er war ein attraktiver, hoch berühmter Mann und den Damen in jeder Beziehung eine Stütze. Seine Frauenbekanntschaften waren am Ende wohl doch zahlreicher, als man sich das im naiven Flensburg vorstellen konnte, und so bekam ihre Verbindung gleich nach der Hochzeit einen gehörigen Knacks.
Mein Vater selbst hatte slawische Wurzeln. Die Eltern kamen zwar schon aus Königsberg, aber davor war man noch in Warschau zu Hause gewesen. Auch er fing an, seine Memoiren zu schreiben, die allerdings nach nur wenigen Seiten in seiner Jugendzeit stecken blieben. Er hat sie eigenartigerweise nie weitergeschrieben oder gar beendet. Deshalb möchte ich hier in der Familienchronik etwas auf die Vorfahren der Familie Kollo zurückblicken.
Willi Kollo wurde 1904 in Königsberg, das heißt im »Tragheimer Ausbau«, in der dortigen Kirche getauft, und alles, was mein späteres Leben beeinflusst hat, schien da schon seine Wurzeln zu graben. In dieser Kirche haben Richard Wagner und Minna Planer auf ihrer Reise nach Riga – Wagner sollte dort eine ungeliebte Dirigentenstelle antreten – geheiratet. So sind in diesem Kirchenregister zwei Komponisten eingetragen, wobei unserer Familie der künstlerische Unterschied zwischen Wagner und Kollo sicher bekannt ist. Eigenartig bleibt es für mich schon. Hier kamen die Namen Wagner und Kollo zum ersten Mal in engere Nachbarschaft.
Mein Vater ist die ersten drei Jahre seines Lebens in der Obhut seiner Großmutter bei Petroleumlicht aufgewachsen, was er wundervoll fand, »denn es war so schön warm und roch so schön«. Von dort kam er nach dem Tod der Großmutter nach Berlin ins kalte Gaslampenlicht zu seinen Eltern, die sich nicht um ihn gekümmert hatten. Er geriet, wie er selbst schreibt, an wildfremde Leute. Der Vater – Walter Kollo – war damals als Korrepetitor und kleiner Kapellmeister tätig, und die Mutter – Marie Preuß – war Sängerin und Soubrette mit dem Künstlernamen Mizzi Josetti. Sie mussten wie alle anderen Menschen Geld verdienen.
Dazu mein Vater in einem privaten Gespräch, das die Journalistin Gudrun Gloth auf Tonband aufgezeichnet hat (aus diesem Grund ist der Text nicht so geschliffen formuliert, wie wenn er ihn selbst geschrieben hätte):
»Es war jedenfalls für mich eine interessante Zeit, weil ich mit einem Herrn konfrontiert wurde, der mein Vater war, und selbstverständlich liebte ich ihn sehr. Er war auch sehr liebenswürdig von Natur aus, sehr still und weich und gut. Meine Mutter war ein bisschen exaltierter, nicht so bekömmlich wie mein Vater. Und er duftete auch immer so schön, ich nehme an, nach Brillantine und Haarpomade und sicher auch nach Parfüm, er war ja immer sehr gepflegt. Und er spielte mir zum ersten Mal auf dem Klavier vor ›Weißt du, wie viel Sternlein stehen‹, und da war ich im siebten Himmel, weil ich ganz fassungslos war, bei so viel Wohlklang.
In unseren möbliert gemieteten Räumen in der Potsdamer Straße gingen Leute ein und aus, die dann später historisch wurden. Zum Beispiel Claire Waldoff ging rauf und runter, sie wohnte in der vierten Etage, und sie war immer bei uns zu Gast. Heinrich Zille war ein Freund der Familie. Claire Waldoff und mein Vater, die schlossen sich immer ein, und dann lachten die beiden über Anekdotenwitze, und meine Mutter stand vor der Tür und wurde eifersüchtig, weil sie glaubte, sie hätten ein Verhältnis. Dabei hätte die Claire Waldoff eher mit meiner Mutter ein Verhältnis gehabt als mit meinem Vater, aber das wusste man damals noch nicht, das war damals noch nicht bekannt.«
Bei meinem Großvater gingen auch Leute wie der Sänger und Humorist Otto Reutter oder Robert Steidel ein und aus, der dann als erster das Lied »Immer an der Wand lang« öffentlich sang. Einer der ersten großen Erfolge Walter Kollos!
»Mein Vater Walter hatte damals einen Grad von Berühmtheit, den man sich heute in Deutschland gar nicht mehr vorstellen kann. Sein Name drang, schon damals, bis nach Amerika. Ich hielt meinen Vater natürlich lange Zeit überhaupt für den größten...