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E-Book

Mein Leben mit Wagner

AutorChristian Thielemann
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783406701719
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR

"Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war in meinem Leben: der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren." Christian Thielemann kennt Richard Wagner wie kaum ein anderer. In diesem vielgepriesenen Buch schildert er seinen Lebensweg mit dem Komponisten von seinen Berliner Anfängen bis nach Bayreuth. Er führt persönlich durch den Kosmos der Opern und schaut in Wagners Giftküche, wo die narkotischsten Klänge der Welt gemischt wurden. Daneben lässt er uns in die Werkstatt des Dirigenten blicken: Was muss er alles beachten, wenn sich Wagners Zauber am Abend von neuem entfalten soll? Vor welchen Fallen muss er sich hüten? Und worin besteht die Einzigartigkeit von Bayreuth? Wagner wurde seit seinem Tod leidenschaftlich verehrt und leidenschaftlich verabscheut. Auch damit beschäftigt sich dieses Buch. Am Ende aber macht es allen, Kennern wie Debütanten, klar, warum sich ein Leben mit Wagner lohnt.



<p>Christian Thielemann wurde 1959 in Berlin geboren. 1988 wurde er in N&uuml;rnberg Deutschlands j&uuml;ngster Generalmusikdirektor. Von 1997 bis 2004 war er Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, von 2004 bis 2011 leitete er die M&uuml;nchner Philharmoniker. Seit 2012 ist er Chefdirigent der S&auml;chsischen Staatskapelle Dresden und &uuml;bernahm 2013 die K&uuml;nstlerische Leitung der Salzburger Osterfestspiele. Im Jahr 2000 gab er sein enthusiastisch gefeiertes Deb&uuml;t bei den Bayreuther Festspielen, deren Musikdirektor er seit 2015 ist.</p>

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Leseprobe

I
«Du spielst doch nicht etwa Orgel?»
Mein Weg zu Wagner


 

 

 

 

Richard Wagner wurde mir in die Wiege gelegt. Ich bin in einem bürgerlichen Elternhaus groß geworden, damals sagte man auch «gutbürgerlich», und das meinte nicht nur den Majoran zur Weihnachtsgans, sondern etwas Verlässliches, Grundsolides, auf das man im Leben bauen konnte, etwas Behütetes und Bewahrendes. Ich habe das genossen und sicher sehr gebraucht. Für die Erziehung in den frühen Sechzigerjahren bedeutete der «gutbürgerliche» Hintergrund: Das Kind wuchs mit Musik auf, mit Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner. Und, in meinem Fall, mit Richard Wagner. Die Musik war einfach da, von Anfang an, wie das Essen auf dem Tisch, wie der Schlachtensee im Sommer zum Schwimmen. Bachs Oratorien, Bruckners Symphonien, Sonaten von Mozart und Schubert, Lieder, Kammermusik, Opernarien, all das erreichte vom ersten Tag an mein Ohr, über die gut bestückte Plattensammlung zuhause, über Konzertübertragungen im Radio und vor allem über das Klavier: Meine Eltern spielten beide sehr gut. Und ich dankte es ihnen, indem ich früher singen konnte als sprechen. Meine Mutter notiert das einmal in ihrem Tagebuch, als sie zufällig hörte, wie ich die Gute-Nacht-Lieder, die sie mir gerade vorgesungen hatte, vor dem Einschlafen noch einmal nachsang – ohne Text natürlich. Da war ich ungefähr ein Jahr alt. «Scheint musikalisch zu sein», schreibt meine Mutter vorsichtig.

Die Musikalität liegt bei uns in der Familie. Mein Vater hatte das absolute Gehör (das er mir vererbte), und schon von seinem Vater, meinem Großvater, der als Konditormeister von Leipzig nach Berlin ging und sich dort sehr schnell sehr gut stand, gibt es viele Geschichten, die mit Musik zu tun haben. Im Ersten Weltkrieg wurde er als Kulissenschieber in die Hofoper Unter den Linden abkommandiert, damals war Richard Strauss dort Intendant, und während sich die anderen Bühnenarbeiter nach getaner Arbeit verdrückten, blieb mein Großvater in der Gasse stehen, um zuzuhören, und war ganz berauscht. «Die Meistersinger» zählten zu seinen Lieblingsopern – auch das hat sich über meinen Vater auf mich übertragen. Allerdings erst nach einer längeren Inkubationszeit. Anfangs, mit 12 oder 13 Jahren, fand ich den dritten Akt sterbenslangweilig: Dieses doofe Festwiesengedöns, das olle Meistergeschwätz!, so dachte ich. Mein Vater war entrüstet. Leider hat er meine ganz besondere Liebe zu Wagners einziger komischer Oper dann nicht mehr miterlebt, er starb, als ich 26 war. An diesem Abend habe ich in Düsseldorf Smetanas «Verkaufte Braut» dirigiert. Das Klavier, an dem mein Vater Klavierspielen gelernt hat, ein altes Blüthner mit einer bewegten Geschichte, besitze ich noch heute.

Meine Begabung wurde glücklicherweise früh entdeckt. Ich bekam Klavier- und Geigenunterricht, und wir gingen viel ins Konzert. Meine Eltern hatten bei den Berliner Philharmonikern ein Abonnement, und ich weiß noch, wie die Sitznachbarn mich mitleidig tätschelten: Der arme Junge, muss er wieder so geduldig sein! Ich glaube, ich war das einzige Kind weit und breit, und es hat niemand verstanden, wie ein Fünfjähriger mit roten Backen auf der Stuhlkante sitzen konnte, während vorne Beethoven gespielt wurde. Ich wollte das aber. Ich wollte nicht zuhause bei meinem ostpreußischen Kindermädchen bleiben, ich wollte Orchestermusik hören, das Schillern der Farben, diese Wogen und Wellen, in denen man sich zugleich verlieren und wiederfinden konnte. Den Dirigenten übrigens, wer immer es war, fand ich eine eher lachhafte Figur: Was soll das, habe ich mich gefragt, wieso ballt der die Fäuste, wieso führt der einen solchen Veitstanz auf? Erst bei Karajan bekam ich langsam das Gefühl, dass Dirigieren auch organisch aussehen kann, ja sogar richtig schön.

Ich habe in der Musik das Überbordende von Anfang an mehr geliebt als das Schmallippige und Sparsame. Für mich musste es die große Besetzung sein, der volle Klang – von den Fortissimi im «Heldenleben» von Richard Strauss kann ich bis heute nicht genug bekommen. So wie mich von Anfang an die langsamen Sätze fasziniert haben, nicht die schnellen, schnurrigen Sachen. Schnell ist leicht, dachte ich, das kann jeder. Aber langsam ist schwer, das musst du füllen mit deinen Ideen und Gedanken, mit Farben und Nuancen. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis ich von der Geige auf die Bratsche umstieg, des wärmeren, samtigeren, dunkleren Timbres wegen – und vom Klavier auf die Orgel kam. An Heiligabend sind wir meist in die Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche ins Hansaviertel gefahren, zur Orgelmesse, da hat Peter Schwarz den dritten Teil der «Clavierübung» von Johann Sebastian Bach gespielt, mit dem herrlichen Es-Dur-Präludium und der Tripelfuge, Vater, Sohn, Heiliger Geist. Wenn die Orgel so richtig dröhnte, war ich selig, dann war Weihnachten. Bach hatte für mich einen Reichtum, eine innere Monumentalität, die mich ungeheuer anzog.

Mit elf versuchte ich, mir heimlich das Orgelspielen beizubringen. Das heißt, der Küster schloss mir die Johanneskirche in Schlachtensee auf, und ich übte dort Choralvorspiele – was natürlich nicht funktionierte. Die verschiedenen Manuale, die Pedale, die Koordination von Händen und Füßen, all das klappte nicht. Was ich aber merkte, war, dass man die Finger völlig anders übersetzen musste als am Klavier. Und das hat mich letztlich verraten. Meine Klavierlehrerin, die Frau des Philharmoniker-Flötisten Fritz Demmler, wurde mit meiner Technik immer unzufriedener und rief eines Tages aus heiterem Himmel: «Du spielst doch nicht etwa Orgel?» In diesem Augenblick war meine Karriere als Organist beendet. Das Orgelspiel wurde mir verboten, man war da rigoros – und ich musste mir für meine ungebärdigen Klangphantasien ein neues Ventil suchen. Das fand ich schnell, in gewisser Weise lag es ja nahe: im Orchester. Und im Wunsch zu dirigieren. Und bei Richard Wagner. Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war: der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren. Das ist in meiner Erinnerung extrem stark miteinander verquickt. Beim Wagner-Orchester jedenfalls, so man überhaupt von dem Wagner-Orchester sprechen kann, denke ich bis heute an die Register einer Orgel.

Am Flügel

In musikalischen Dingen musste mich niemand zu irgendetwas anhalten oder ermuntern, ganz im Gegenteil. Meine Großmutter lag mir oft in den Ohren, «nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter!» Das schöne Wetter aber interessierte mich nicht, ich wollte üben, und zwar bis sechs Uhr abends. Ich sollte die Arbeit einstellen, nur weil draußen die Sonne schien? Das kam mir völlig absurd vor. Meine Sonne, mein Vergnügen, meine Erfüllung war Bachs «Wohltemperiertes Klavier». Ich spürte, dass dies mein Weg war. Für mich hat es nie eine Alternative zur Musik gegeben und niemals auch nur den leisesten Wunsch danach.

Das Erlebnis Wagner hat diesen Autismus noch verstärkt. Einerseits war da die Musik, die ich hörte: die «Walküre», sehr früh, 1966 unter Karajan, oder meinen ersten «Lohengrin» an der Deutschen Oper, in der alten Wieland-Wagner-Inszenierung, die ich später lustigerweise selber repetiert habe – jedes Mal war ich wie erschlagen. Ortrud und Telramund im zweiten Akt, im Halbdunkel des Bühnenbilds, «Erhebe dich, Genossin meiner Schmach!», das hat mir tagelang die Sinne geraubt (ohne dass ich verstanden hätte, worum es ging). Andererseits war Wagner auch in Gesprächen zuhause immer präsent, und mir hat sich vor allem der Ton eingeprägt: Da schwang eine Bewunderung mit, eine Ehrfurcht – ganz anders als bei Haydn oder Verdi oder Debussy. Haydn und Verdi wurden durchaus geschätzt. Wagner aber musste etwas Besonderes sein, das spürte ich, und es machte mich neugierig. Außerdem umgab ihn natürlich die Aura des Nicht-Kindgerechten, was die Sache doppelt attraktiv machte. Lange Zeit hieß es, für den «Tristan» bist du zu jung, mit dem «Parsifal» warten wir noch. Das führte dazu, dass mich diese beiden Stücke, als sie mich dann ereilten, mit 13, 14 Jahren, bis ins Mark erschüttert haben. Als wäre ich in einem Vakuum groß geworden, einem wartenden Nichts, das die Musik Richard Wagners nun sukzessive füllte.

Dabei war ich nicht nur von der Atmosphäre, den Farben, der Instrumentierung hingerissen, sondern vor allem von der Idee, durch Musik überwältigt zu werden – und zu überwältigen. Dass ich der aktive Teil in diesem Spiel sein wollte, war mir schnell klar. Und also würde ich wohl Dirigent werden. Wie Karajan, dessen Schallplatten ich zuhause auflegte, wieder und immer wieder, die Partituren auf den Knien, vorzugsweise den «Ring», den er Ende der Sechzigerjahre in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche aufgenommen hat, mit dem fabelhaften Thomas Stewart als Wotan und Régine Crespin als Brünnhilde. «Nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter!», rief es von irgendwoher. Nein. Lasst mich in Ruhe. Was war das schöne Wetter gegen Siegfrieds Rheinfahrt in der «Götterdämmerung»!

Mit Wagner hat mich regelrecht der...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Widmung5
Inhalt7
Vorwort11
I «Du spielst doch nicht etwa Orgel?» Mein Weg zu Wagner15
II Wagners Kosmos39
1 «Wagalaweia» und «Hojotoho!»: Eine erste Annäherung an Wagners Musikdrama43
Das Wagner-Orchester45
Wort und Ton48
Die Stoffe53
2 «Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt»: Wagner und seine Dirigenten56
Wagner am Dirigentenpult57
Die Wagner-Schule61
Die Bayreuther «Verbrechergalerie»63
3 Spinnweben, Weihe, Wurstsalat: Bayreuth und sein Grüner Hügel78
Das Haus79
Der Graben84
Die Akustik86
Meine einzige Dirigentenschule91
Die Wagners96
Der Mythos106
4 Ein sehr deutsches Thema: Das sogenannte Weltanschauliche109
Ist C-Dur noch C-Dur?109
Exkurs: Wagner und Mendelssohn112
Pathos und Politik119
5 «Wollen wir Wagner, dann wollen wir Wagner» oder: Was ist eine gute Aufführung?127
Architektonisches127
Die Beherrschung der großen Form130
Exkurs: Der Kapellmeister135
Wagner lesen138
Regiefragen142
Wagner singen151
Interpretation158
6 Geld oder Liebe: Wagner für Anfänger166
Nur keine Angst!166
Die Botschaft168
Das Personal172
III Wagners Musikdramen179
1 «Die Feen» oder ein erster Blick in Wagners Botanisiertrommel185
2 Jugendsünde und Karnevalshymne: «Das Liebesverbot oder Die Novize von Palermo»187
3 Die Grand Opéra mit ihren eigenen Mitteln schlagen: «Rienzi, der letzte der Tribunen»190
4 Schmucklos, dürftig, düster? «Der fliegende Holländer» oder der Fluch des Willens198
5 «Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg» – von der Kunst des Maßhaltens und dem Scheitern daran207
6 Flutlicht aus dem Jenseits, Liebe ohne Reue: «Lohengrin»219
7 «Tristan und Isolde» oder der Akkord des Lebens232
8 Ein Plädoyer für Toleranz: «Die Meistersinger von Nürnberg»248
9 Geld, Macht oder Liebe? Ein Weltengemälde in Sonnenuntergangsfarben: «Der Ring des Nibelungen»261
10 Ein Anti-«Tristan», mit violetter Tinte komponiert: «Parsifal»290
Schluss305
Dank309
Anhang311
Literatur311
Bildnachweis313
Personenregister314

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