Der mediterrane nordöstlichste Zipfel Ostpreußens
Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebensogut als Spanien oder Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll. Ein schmaler Strich toten Sandes, an dem das Meer unaufhörlich an einer Seite anwütet, und den an der anderen eine ruhige große Wasserfläche, das Haff, bespült.
Wilhelm von Humboldt, 1809
Ein bisschen sitzt mir der Schreck noch in den Gliedern. Nur ungern bin ich in Hamburg-Fuhlsbüttel über die aus dem Flugzeugbauch ausgelassene kurze Treppe in das Hinterteil der winzigen sowjetischen Yakovlev YAK 40 der Air Lithuania gekrochen und habe mich dann gebückt durch die enge Kabine zu meinem Sitz begeben. Gleich nach dem Abheben hatte die Maschine Schwierigkeiten, die richtige Flughöhe zu erreichen, mit stotterndem Motor sackte sie wiederholt ab. Mein Sitznachbar und ich blickten uns beklommen an, bis die endgültige Flughöhe erreicht war und wir in ausreichender Sicherheit über den Wolken flogen. Nach einer Stunde Flugzeit unter dem immer mehr aufklarenden Himmel über der Ostsee und einigen dänischen Inseln bereitet der Pilot jetzt langsam seinen Anflug auf den litauischen Flughafen Palanga vor.
Die mit etwa 30 Sitzen ausgestattete Maschine ist nur halb besetzt. Ein kleiner Teil sind deutsche Touristen. Ansonsten sind es vermutlich Litauer, darunter auffallend viele junge, ziemlich grell geschminkte Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht, die aussehen wie eine Gruppe heimkehrender Models. Eben hat die Stewardess damit begonnen, die abgegessenen Tabletts und die leeren Flaschen mit österreichischem Exportbier von den wackligen, bei jeder Bewegung des Vordermannes fast umkippenden Klapptischchen abzuräumen. Mit wachsender Ungeduld blicke ich zu einer der vorderen Flugzeugtüren, deren russische Aufschrift Vychod (»Ausgang«) mit einem leuchtend roten Exit überklebt ist.
Es ist Sommer 1997. Ich bin neugierig auf meinen ersten Besuch in Litauen und insbesondere auf der Kurischen Nehrung und in Nidden, mit dem dort vor einem Jahr eingeweihten Thomas-Mann-Kulturzentrum im ehemaligen Sommerhaus meiner Familie. Ursprünglich hatte man mich zum ersten zehntägigen Thomas-Mann-Musikfestival eingeladen, dessen Beginn für den 16. Juli, den Geburtstag des Hauses, festgesetzt war. Da ich jedoch wegen anderweitiger Verpflichtungen daran nicht teilnehmen konnte, habe ich einen Vortrag für eine vierzehn Tage vor dem Festival in Nidden tagende Seminargruppe zugesagt. Die Gruppe ist gerade in diesen Tagen vom Gerhart-Hauptmann-Haus auf Hiddensee in Nidden angereist, um dort ihr Symposium über Gerhart Hauptmann und Thomas Mann fortzusetzen. Da ich gerade dabei bin, für den kommenden Herbst im brasilianischen Paraty, dem Geburtsort von Heinrich und Thomas Manns Mutter Julia da Silva-Bruhns-Mann, ein Kulturfestival mitzuorganisieren, habe ich angeboten, in Nidden über »Die Manns – eine Familie zwischen den Kulturen« zu sprechen.
Jetzt erscheint verschwommen der erste Landstreifen Litauens am Horizont. Unsere Maschine fliegt inzwischen wieder so tief, dass sich aus der Meeresoberfläche langsam das Wellenrelief herausschält und auch die Küste erste Konturen erhält. Die nur durch die Hafenstadt Klaipėda unterbrochene Dünenkette entlang der ganzen litauischen Bernsteinküste sieht im Sonnenlicht aus wie ein goldenes, mit dem Blau des Wassers um die Wette glänzendes Sensenblatt. Bald werden auch dunkle Wälder und dazwischengesprenkelte Häuschen sichtbar. Und schon setzen wir, als einziges Flugzeug weit und breit, zur Landung auf dem zwischen Wald und Wiesen eingebetteten und nur aus einer Baracke bestehenden Flughafen des Seebades Palanga nahe der lettischen Grenze an.
Nach der Gepäckausgabe und der Zollabfertigung nimmt mich die neue wissenschaftliche Mitarbeiterin des Thomas-Mann-Kulturzentrums, Ruth Kibelka, in Empfang. Nach den nur 13 Grad Celsius in Hamburg herrschen hier, völlig überraschend, Temperaturen von über 30 Grad. Wir fahren mit dem Auto die schnurgerade Straße Richtung Klaipėda entlang, vorbei am kleinen Ort Nemirseta, dem früheren Nimmersatt, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs der Grenzort gewesen ist zwischen Litauen und dem nördlich des Memelflusses gelegenen und sich als Landesteil Ostpreußens in die Kurische Nehrung hinein erstreckenden Memelgebiet.
Bald erreichen wir das westlitauische Wirtschaftszentrum Klaipėda, das frühere Memel, mit seinen heute rund 200 000 Einwohnern. Auf der Durchfahrtsstraße zum Fährhafen reihen sich vor allem in der Vorstadt endlos lange, wenig attraktive Neubaublocks und Plattenbausiedlungen, dann viele alte Gebäude aus roten Ziegelsteinen aneinander. Wir setzen an der Stelle, an der sich das Festland und die Kurische Nehrung fast berühren, mit der schweren Roll-on-roll-off-Autofähre an das andere Ufer über.
Dort tut sich mir eine neue Welt auf. Ich begreife jetzt, was es ursprünglich mit dem Namen Memel auf sich hat: Auf Kurisch-Lettisch lautet er memelis, was auf Deutsch »stiller«, »langsamer« oder »schweigender« bedeutet. Für mich ist es der Inbegriff einer friedlichen, reinen und idyllischen Natur mit dichten, kraftvoll grünen, teilweise windverkrümmten Kiefern- und Birkenwäldern auf Sandboden, die zwischendurch reichlich Ausblicke auf das Kurische Haff bieten. Etwas später öffnet sich auf der gegenüberliegenden Seite in Waldlichtungen andeutungsweise das Panorama einer gewellten, weiten Dünenlandschaft. Dahinter ist die Ostsee zu sehen, deren Größe und derzeit bewegter Wellengang mir sehr viel gewaltiger erscheinen als auf deutschem oder dänischem Gebiet, wo sie vergleichsweise tümpelhaft anmutet.
Ein Geruch aus Kiefernharz, Sand und Meersalz begleitet mich während der knapp einstündigen Fahrt auf der fast leeren Straße südwärts Richtung Nidden. Die an ihrer breitesten Stelle 3,8 Kilometer, an ihrer schmalsten nur 380 Meter breite Nehrung ist immerhin 98 Kilometer lang. Kurz nach dem Eintritt in den Nationalpark durch eine Schranke müssen wir anhalten, weil dort eine ganze Wildschweinfamilie gemächlich die Straße überquert. Von den berühmten Elchen, welche die vielen Erinnerungen meiner Familie schmücken, existieren hier nur noch wenige, und man bekommt sie praktisch nicht mehr zu sehen.
Bald erreichen wir den ersten Ort, Juodkrantė, das frühere Schwarzort. Es ist ein beschaulicher Flecken aus restaurierten, puppenstubenartigen Fischerhäusern mit Giebelverzierung, Bernsteinhöfen und Touristenläden. Dazwischen hebt sich, als abgrundtief hässliches sozialistisches Relikt, der Betonbunker des örtlichen Kulturzentrums heraus. Vor der begrünten und gegenwärtig kaum bevölkerten Promenade am Kai auf der Haffseite dümpeln einige Fischerboote.
Nach einer weiteren Fahrt durch besonders dichtes Waldgebiet biegen wir, kurz vor dem Schlagbaum vor der russischen Grenze, nach links Richtung Haff ab und steuern auf Nidden zu. Ich werde gleich in mein auf der Anhöhe über dem Ort und mitten im Wald gelegenes Hotel Auksines Kopos (»Goldene Düne«) gebracht. Es stammt ebenfalls aus der sowjetischen Zeit: ein sich über mehrere Seitenflügel erstreckender, grauer und schlecht verputzter Steinkasten mit schürzenähnlichen, dünnen Vorhängen vor den Fenstern und violettbraun angestrichenen Balkonen. Die geräumige Empfangshalle ist innen großzügig mit hellem Holz verkleidet. In diesem Hotel ist auch die Seminargruppe aus Deutschland untergebracht, mit der zusammen ich gleich zu Abend essen und dann morgen früh durch den Wald zum Thomas-Mann-Haus aufbrechen werde.
Am nächsten Morgen schüttet es wie aus Eimern, und es hat sich deutlich abgekühlt. Ich habe mich bereits mit einigen Mitgliedern der Seminargruppe zusammengetan. Es sind insgesamt an die 25 literarisch interessierte Angehörige verschiedenster Berufe vor allem aus den nördlichen alten wie neuen deutschen Bundesländern. Während des eher kargen Frühstücks bekennt mir eine Teilnehmerin aus Lübeck etwas wehmütig, dass der typische Geruch der unterschiedlichen Quark-, Molke- und Käseangebote am Frühstücksbuffet sie an die nostalgischen Erzählungen ihrer aus dem Memelland stammenden Mutter erinnere.
Nach dem Frühstück machen wir uns auf zum Thomas-Mann-Haus. Bald bewegt sich eine Karawane schwarzer Regenschirme auf weichen Sand- und Moospfaden durch den durchnässten Wald, dessen leuchtendes Sattgrün bei schlechter Witterung besonders zur Geltung kommt. Die für diese nördlichen Breiten ungewöhnliche Farbkraft im überhellen Licht lässt die hiesigen Kiefern ein bisschen wie Pinien erscheinen. Auf den sanften Anstieg einen Dünenhügel hinauf folgt ein ziemlich steiler Abstieg zum Haff, an welchem entlang uns ein asphaltierter Weg zwischen Kaimauer und Häusern zu unserem Ziel bringt. Wir passieren eine kunterbunte Mischung aus Baustilen, die viel über die verwirrende jüngste Geschichte des Landes aussagen. Alte Niddener Fischerhäuser in den...