Einleitung
Grenzgang als Zustand und Philosophie
Das Ziel der Grenzgänger vergangener Zeiten – zu Beginn des 20. Jahrhunderts nannte man sie noch Abenteurer – war es, die letzten weißen Flecken auf den Landkarten zum Verschwinden zu bringen. Ihnen ging es um die Pole: Nordpol, Südpol und um den Mount Everest, der damals als dritter Pol oder Ostpol bezeichnet wurde. Viele der Zeitgenossen haben sich mit ihren mutigen Landsleuten identifiziert, die stellvertretend für ihre Nation sich in die wüsten, lebensfeindlichen Landschaften hinausbegeben haben, um als Erste die Fahne ihres Landes dahin zu tragen, wo noch keiner gewesen war.
Damit hat meine Form des Grenzgangs nichts zu tun. Ich habe nie irgendwelche Fahnen mitgenommen, und 1978, gerade vom Mount Everest zurück, habe ich in Südtirol das Sakrileg begangen, in einer feierlichen Dankesrede zu erklären, dass höchstens ein Taschentuch meine Fahne sei. Denn wenn ich auf einem großen Berg stehe, bin ich zu klein für heroische Gebärden. Das hat mir viel Häme eingebracht, aber nach wie vor stehe ich zu dieser antinationalistischen Haltung des Grenzgängers. Gerade in der heutigen Zeit, denn wir haben nicht das Recht, ferne Orte in Besitz zu nehmen. Wir haben die Berge nicht als Kolonialreiche unter unseren Füßen, sondern betreten sie nur kurz, als Gäste. In Südtirol, wo es allerorten kreuzelt, wo die Berge mit Gipfelkreuzen verschandelt sind, gilt eine solche Haltung als ketzerisch. Aber gerade deswegen habe ich mich bemüht, den Wüsten, den Meeren, den Eiswüsten und den großen Höhen mit Demut und Respekt zu begegnen. Also habe ich angefangen, mit Beinen und Händen zu philosophieren, mit fliegenden Lungen zu denken und mit der »Geschwindigkeit des Fußgängers« – mein Freund Christoph Ransmayr soll zitiert sein – die Welt zu erfahren. Wir Menschen sind nicht dafür geboren, im Fliegen oder aus dem Auto heraus die Welt zu sehen, zu ertasten und zu hören. Alles geht dabei zu schnell. Unsere Sinne sind die Sinne von Fußgängern. In der Geschwindigkeit des Zu-Fuß-Unterwegsseins, des Hinaufsteigens, des Hinausgehens erkennen wir etwas über uns und die Welt.
Ich weiß, dass die Globalisierung alles Ferne und Fremde verschluckt. Wir erhalten durch die virtuellen Welten des Internets, durch Fernsehen und Kino den Eindruck, dass wir die ganze Welt kennen und im Nu auch erreichen können. Die Welt ist zum Zoo geworden oder zum Disneyland. Die Auseinandersetzung Mensch – Natur, die Begegnung Mensch – Berg findet leider kaum noch statt. Heute sind Nord-, Süd- und Ostpol-Reisen möglich. Der Everest wird im Reisekatalog angeboten, er ist zur Handelsware geworden. Die kommerziellen Expeditionen, die Big E, so der höchste Gipfel der Welt im Englischen, zum Highway-Trip, zu einer Art Angebot von der Stange gemacht haben, suggerieren größtmögliche Sicherheit. Dabei leisten beim Aufstieg Sherpas die Hauptarbeit. Zum Südpol kann man fliegen, und amerikanische Wissenschaftler haben dort seit 50 Jahren eine Station. Täglich fliegen Maschinen ein, um sie zu versorgen. Fast scheint es, als ob dort Heimat wäre. Auch der Nordpol ist per Flugzeug oder Hubschrauber erreichbar, oder die Reisenden benutzen komfortable atombetriebene Eisbrecher. Jedes Jahr sind es Tausende, die dem Kitzel frönen, die krachenden, hämmernden, sägenden Eisschollen zu hören, während das sichere Schiff das zwei Meter dicke Eis im Polarmeer Richtung Nordpol durchbricht.
Wir alle umrunden heutzutage die Welt als Touristen. Wir tun es schon seit etwa 40 bis 50 Jahren. Lange bevor die globalen Geldströme die Welt umkreisten, hat der Tourismus die Welt erobert. Die Revolution der Kommunikation tut ein Übriges. Von jedem Punkt der Erde können wir uns mit einem Satellitentelefon mit jedem anderen Punkt der Erde in Verbindung setzen. Die Abenteuer, die früher notwendig waren, um zum Nordpol, zum Südpol, in den Dschungel oder auf die großen Berge zu kommen, die notwendig waren, um Ozeane zu überqueren, sind heute keine Abenteuer mehr. Seit Neckermann Abenteuerreisen anbietet, habe ich das Wort Abenteuer aus meinem Wortschatz gestrichen. Die allermeisten Abenteuer, die heute im Fernsehen oder auch im Vortrag angeboten werden, sind Inszenierungen, die produziert werden wie Events in einem Freizeitpark. Gemacht für eine abenteuerhungrige Menschheit, die sich Abenteuer vorführen lässt, weil ihr selbst der Mut fehlt, in die Wildnis hinauszugehen. Aber die meisten »Abenteurer« gehen der Wildnis ebenso aus dem Weg wie jene Touristen, die Flugzeug und Reisebüro benutzen, um an die Orte zu kommen, wo sie ihre Träume vermuten. Früher ein Ausdruck für das Schwierige, Harte, Selbstverantwortete, ist der Begriff Abenteuer zum Schlagwort verkommen, um sich vom »normalen« Touristen abzusetzen.
Für mich persönlich ziehe ich den Begriff Grenzgänger vor. Der ist vor allem dadurch definiert, dass er mehr Künstler ist als alles andere. Ich weiß, das klingt etwas überheblich, aber ich werde versuchen klar zu machen, warum ich mich Künstlern mehr verwandt fühle, als meinen Abenteurergenossen. In einer Risikovermeidungsgesellschaft ist es nicht möglich, Abenteuer zu erleben. Die weißen Flecken auf der Landkarte sind alle erschlossen. Eine Welt, die vom Satelliten aus bis ins kleinste Detail vermess- und fotografierbar ist, bietet keine Dimension Wildnis im ursprünglichen Sinne mehr. Wir dürfen heute auf dieser Erde kaum noch von Wildnis sprechen. Aber es gibt sie noch, die weißen Flecken: Sie sind in uns selbst. Und für diese weißen Flecken lohnt es sich, hinauszugehen in jenen Bereich, der für den Menschen nicht gemacht ist.
Der Mensch ist ein Mängelwesen, und wenn er diese Tatsache akzeptiert und sich trotzdem in Gefahr begibt und diese nicht portionieren, also in Stücke schneiden will, indem er Seilbahnen baut, Flugzeuge benutzt, überall seine Sicherheitsnetze auslegt, dann bietet diese Wildnis nach wie vor die Chance, zu den eigenen inneren Wüsten zu finden. So sind für mich die Berge und die arktische Nacht als Wüsten nur Entsprechungen dessen, was auch in mir wüst, dunkel oder nicht greifbar ist. Wenn ich hinausgehe in die Wüsten, dann fehlt das Wasser. Wenn ich ins arktische Polarmeer gehe, fehlt in der Winterzeit das Licht. Wenn ich in die Antarktis gehe, fehlt die Wärme. Wenn ich in den Dschungel gehe, dann fehlt die Orientierungsmöglichkeit. Wenn ich eine steile Felswand hinaufklettere, fehlt mir der Boden unter den Füßen. Wenn ich auf den Everest hinaufsteige ohne Maske, dann wird der Sauerstoff knapp. Es fehlen also jene Elemente, die wir zwingend zum Leben, zum Überleben brauchen. Entziehen wir unserem Habitat, unserer Welt nur eines dieser Elemente, haben wir einen Mangel, und wir werden mit unseren Begrenztheiten, mit unseren Zweifeln und Ängsten und relativ schnell auch mit Hoffnungslosigkeit konfrontiert. Allein darum geht es beim Grenzgang.
Grenzgänger zu sein bedeutet nicht, Grenzen zu verschieben, bedeutet nicht, neue Grenzen zu erreichen. Es bedeutet in erster Linie, seinen eigenen Grenzbereich auszuloten und zu erkennen, dass es jenseits ein Mehr von Möglichkeiten gibt, die uns nicht zugänglich sind, die sich uns entziehen. Wir sind die Eroberer des Nutzlosen – ich nehme das für mich in Anspruch. Es ist nicht notwendig, auf den Everest hinaufzusteigen. Es bringt der Menschheit gar nichts, wenn wir die Antarktis oder Grönland der Länge nach durchqueren. Es ist nicht notwendig – es ist nur möglich. Zu entdecken gibt es dabei eigentlich nichts, zumindest im geographischen Sinne nicht, und zu erobern schon gar nichts, aber zu erleben gibt es etwas. Wir können uns an den Bildern satt sehen, an der Stille satt hören. Wir können unseren Hunger spüren, und wir erleben, welche Ängste, Zweifel, Hoffnungen über uns kommen, wenn wir draußen sind.
Ich habe schon als 20-jähriger Bursche erkannt, dass das Klettern im Fels und später in der großen Höhe nur dann sinnvoll ist, wenn ich es neu erfinde. Wäre ich nicht fähig, in jede meiner Touren, in jede meiner Besteigungen Sinnhaftigkeit hineinzulegen, dann würde ich nicht weit kommen. Ähnlich einem Künstler, der einer Vision folgt, erfinde ich im Zeitpunkt meines Aufbruchs zur Tat ihren Sinn. Dieser Sinn entsteht in mir selber, er fällt nicht vom Himmel, und er erlaubt mir, die Tour zu machen im Bewusstsein, dass sie zu dieser Zeit sinnvoller ist als alles andere. Nachher kann ich aus der Distanz darüber lächeln, sie relativieren, sie als Erfahrung analysieren.
Als Grenzgänger habe ich den Verzicht entdeckt, weil die Technik schon seit 50 Jahren alles zugänglich gemacht hat. Bis zum Rand der Erde, dort, wo wir nicht hingehören. Mit Bohrhaken können Sie jede Felswand der Erde erklettern. Mit dem Sauerstoffgerät können Sie jeden Berg der Welt besteigen. Mit Flugzeug oder Motorschlitten ist es keine große Kunst, Touristen bis zum Südpol zu bringen oder mit dem Eisbrecher zum Nordpol. Alles kein Problem. Es wird aber ein Problem, wenn wir freiwillig diese Hilfen und die moderne Technik nicht nutzen. Deswegen habe ich den Verzicht angestrebt, und mir selbst Regeln auferlegt, beispielsweise immer dorthin zu gehen, wo die anderen gerade nicht sind, ohne Infrastrukturen auszukommen und keine Spuren zu hinterlassen. Aus diesen Gründen ist für mich der Everest kein wünschenswertes Ziel mehr, nachdem er Jahr für Jahr von Tausenden von Sonntagsbergsteigern berannt wird. Ich will nicht Natur umbauen, um sie kurzfristig als mein Spielfeld zu benutzen und vorgegebene Wege sind keine Wege, um Erfahrungen zu machen.
Der Weg über Eis, Fels und Gletscherspalten ist immer auch ein Eindringen in die eigene Befindlichkeit.
Auf meinen Wegen,...