Diese erste Reise zu den Berggorillas vor vielen Jahren hallte lange in mir nach. Wie bei anderen Tierarten, ist es bei den Berggorillas – trotz Wilderei und Trophäenjagd – nicht der Jäger, der sie an die Grenze des Aussterbens treibt, sondern schlicht die Zivilisation. Ruanda ist hierfür exemplarisch. Über 70 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Sie besitzen weder einen Fernseher noch ein Moped, nicht einmal eine Dusche, keine der Annehmlichkeiten, die unsere moderne Welt bietet. Die Menschen kämpfen Tag um Tag ums nackte Überleben. Viele Familien haben fünf, sechs oder sieben Kinder, Kinder, die abends vor Hunger oft nicht einschlafen können. In Ruanda kommt ein Arzt auf knapp 25 000 Menschen – und das bei einer Aidsrate von geschätzten zwölf Prozent. Wie soll man diesen Menschen klarmachen, dass sie die Berggorillas schützen sollen? Und deren Lebensraum: den Regenwald, Quelle für Feuerholz und für illegal hergestellte Holzkohle, die bis ins Ausland verkauft wird; die fruchtbaren Vulkanhänge, die so dringend benötigtes Ackerland hergeben? Das geht nur, indem man ihnen einen Job gibt, in dem sie mehr verdienen als in der Landwirtschaft, eine Arbeit, die sie und ihre Familien ernährt – zum Beispiel als Guide oder als Park Ranger. Doch diese Möglichkeit ist naturgemäß begrenzt.
Das weltweite Bild vom Druck der Zivilisation auf die Natur ist noch viel dramatischer: Im Jahr 2008 lebten über 6,7 Milliarden Menschen auf der Erde. 20 Jahre zuvor, 1988, waren es gerade mal fünf Milliarden. Um die Mitte des Jahrhunderts wird die Weltbevölkerung laut Prognosen der UNO auf 9,2 Milliarden angewachsen sein. Ab da wird sie zwar zu schrumpfen beginnen und damit vermutlich auch der Druck auf die Umwelt allmählich nachlassen, doch für viele Tierarten wird es dann zu spät sein: 2008 führte die Weltnaturschutzunion (IUCN, International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) knapp 17 000 vom Aussterben bedrohte Tierarten in der Roten Liste. Zehn Jahre zuvor waren es »nur« knapp 11 000.
Wo der Mensch zu dominant wird, wo er abholzt, Sümpfe trockenlegt oder die Umwelt verschmutzt (in der Regel macht er alles gleichzeitig), leiden Tiere unter Habitat- und Futterverlust, müssen sich in Stresssituationen paaren (schon die Nähe des Menschen bedeutet Stress) und ihre Jungen großziehen. Hinzu kommen Klimaveränderungen und Umweltkatastrophen, ob nun natürlich bedingt, durch den Wandel der Welt, die nicht stillsteht – es gab immer warme und kalte Phasen, auch ohne unser Zutun –, oder vom Menschen verantwortet. Tierarten, denen es an der Fähigkeit fehlt, sich an solch neue Bedingungen anzupassen, sind zum Aussterben verdammt.
Das führt gleichzeitig dazu, dass sich andere Arten unkontrolliert vermehren können, vor allem jene, die einen Vorteil aus der menschlichen Zivilisation zu ziehen in der Lage sind. Davon gibt es genug: Kaninchen, Elstern, Krähen, Möwen, Wildschweine und andere, die sehr anpassungsfähig sind, die sehr generalistisch leben können, die sich da, wo viel Mais angebaut wird, vorwiegend von Mais ernähren, und da, wo es viel Getreide gibt, von Getreide. Früher war zum Beispiel das Wildschwein in Mitteleuropa ein relativ seltenes Tier – die Winter waren kalt und rau, die Böden gefroren, es gab wenig Nahrung, dafür eine Menge Predatoren: Wölfe, Bären und Luchse. Heutzutage haben Wildschweine kaum noch natürliche Feinde und finden auf den riesigen landwirtschaftlichen Nutzflächen immer etwas zu fressen. Als klassische Kulturfolger – im Gegensatz zu Kulturflüchtern – leben sie wie im Schlaraffenland.
Als ich mir all dies nach meiner Rückkehr aus Zentralafrika zum ersten Mal so richtig bewusst machte, war die nächste Frage: Wie steht es eigentlich um andere Arten, die ich auch sehr charismatisch finde? Was ist mit den letzten Löwen Asiens, mit den Komodowaranen, mit den großen Salzwasserkrokodilen? Wie steht es um Tiere, über die man wenig bis gar nichts weiß, wie etwa das Marco-Polo-Argali?
Je mehr ich recherchierte, desto stärker wurde meine Unruhe, meine Angst, zu spät zu kommen. Ich spürte, wie mir die Zeit regelrecht davonlief. Mit Sicherheit ist es etwas Besonderes, ein seltenes, vom Aussterben bedrohtes Tier in einem Zoo zu besichtigen, aber das ist kein Vergleich mit dem Erlebnis, es in seinem ureigenen Territorium zu erleben, zu riechen, zu hören, zu sehen, auf Film zu bannen.
Die Faszination, Tiere in freier Wildbahn und nicht nur in irgendeinem Gehege zu beobachten, begleitet mich schon fast mein ganzes Leben lang. Ich erinnere mich noch, wie meine Eltern am Wochenende des Öfteren mit mir auf einem kleinen Motorroller in den Wald fuhren, um auf einer großen Lichtung ein Picknick zu machen. Es wurde eine Decke ausgebreitet, es gab Kuchen, für die Eltern Kaffee und für mich eine Brause. Mein Vater hatte dunkelbraune Lederschuhe mit einer fast schwarzen Innensohle, und wenn er sie ausgezogen hatte, dauerte es meist nicht lange, bis eine der vielen Waldeidechsen mit der schönen orangefarbenen Bauchfärbung ankam, in den Schuh kroch und sich auf der schwarzen Ledersohle sonnte und aufwärmte. Ich konnte mich an diesen Tieren kaum sattsehen und entwickelte eine richtige Manie für Reptilien.
Als Neun-, Zehnjähriger fing ich an, alle möglichen Tiere, in erster Linie aber Eidechsen und Schlangen, nach Hause zu schleppen – sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die mit dem Kriechgetier auf Kriegsfuß stand. Ständig kam es zum Streit wegen der Tiere, die ich in einem Terrarium, in einem Gurkenglas, einem Drahtkäfig oder in irgendeiner Holzkiste hielt. Ob Feldhamster – ein heute übrigens vom Aussterben bedrohtes Tier –, Zauneidechse oder Schlange: Meine Mutter konnte sich mit meiner Sammelleidenschaft nicht anfreunden. Einmal gab es richtig Ärger, weil eine Kreuzotter aus dem Terrarium ausgebüchst war und alles Suchen nichts half. Meine Mutter bekam fast einen Herzinfarkt, denn immerhin handelte es sich bei der Vermissten um eine Giftschlange. Da Kreuzottern nachtaktiv sind, blieb mir nichts anderes übrig, als mich am Abend ganz ruhig in die Wohnung zu setzen und darauf zu warten, dass sich die Schlange zeigte. Erst mitten in der Nacht, als ich seit Stunden gegen den Schlaf ankämpfte, tauchte das Biest endlich auf, und ich konnte es wieder einfangen.
Ein anderes Mal hatte ich eine Ringelnatter, die in der ganzen Schule berühmt war. Sie wurde sehr zahm, da ich sie ständig bei mir trug, ob im Schulranzen, in einem speziellen Turnbeutel oder einem Schuhkarton. Die Mädchen haben sich deshalb vor mir geekelt, dafür war ich für die Jungs der Größte. Nach der Schule lud ich oft Freunde auf eine kleine Vorstellung zu mir nach Hause ein. Sie mussten sich flach auf den Boden legen, den Kopf auf die Hände gestützt. Dann holte ich einen der Frösche, Molche oder Kleinfische, die ich vorher gefangen hatte, aus dem Gurkenglas, in dem ich sie aufbewahrte, und verfütterte sie lebend an die Schlange. Völlig gebannt beobachteten wir, wie die Würgeschlange ihr Opfer packte, es mit ihrem Körper umschlang und schließlich kopfüber verschluckte – und wie die Beute als große Beule langsam in der Schlange entlangwanderte.
In dieser Zeit war es mein Traum, mal Tierpfleger zu werden; am liebsten in einem Zoo, wo man sich mit großen exotischen Tieren beschäftigen konnte. (Die Phase, in der ich, wie fast alle Jungs, Panzerfahrer oder Feuerwehrhauptmann werden wollte, gab es natürlich auch, aber sie war sehr kurz.) Doch nach und nach verlor ich das Interesse am eingesperrten Tier, das nicht in seinem natürlichen Umfeld lebte.
Aus dem Tierfänger wurde sehr bald der Tierbeobachter. Schon mit zehn, elf Jahren konnte ich stundenlang irgendwo im Wald sitzen und darauf warten, dass ein Tier sich zeigte. Oft schlich ich mich dazu nachts heimlich aus dem Haus. Einer dieser Nachtausflüge bescherte mir ein Erlebnis, das bis heute nachwirken sollte. Am Tag zuvor hatte ich unter einem Gestrüpp ein totes Hirschkalb gefunden, an dem bereits Tiere gefressen hatten. Nur welche? Ein Fuchs? Ein Marder? Um das herauszufinden, zog ich das Hirschkalb auf eine Lichtung und kletterte nach Einbruch der Dunkelheit auf den Hochsitz, der in etwa 80 Meter Entfernung stand. Es war eine bitterkalte Februarnacht, und wollte ich meine Anwesenheit nicht verraten, musste ich mich absolut ruhig verhalten, denn der Hochsitz knarrte bei der kleinsten Bewegung.
So verharrte ich etwa eine Stunde regungslos und starrte auf die verschneite und vom Vollmond beschienene Lichtung. Meinen kaputten Feldstecher aus NVA-Beständen, dem die linke Hälfte fehlte, hielt ich so, dass ich nur den Kopf ein bisschen zu senken brauchte, um durch die übrig gebliebene rechte Hälfte schauen zu können. Als ich gerade überlegte, meinen Beobachtungsposten aufzugeben und in mein warmes Bett zurückzukehren, erschien ein Fuchs am Rand der Lichtung – und vergessen war die Kälte. Nach kurzem Wittern trippelte der Fuchs zielstrebig auf das Hirschkalb zu und begann an dem gefrorenen Kadaver zu fressen.
Auf einmal glitt völlig lautlos ein riesiger Schatten heran, und mir fiel vor Schreck beinahe mein Fernglas aus den Händen. Der Fuchs ergriff die Flucht, und der Schatten, der sich als Uhu entpuppte, ließ sich neben dem Hirschkalb nieder und versuchte nun seinerseits, ein paar Brocken aus dem bocksteif gefrorenen Fleisch zu reißen. Ich war total gebannt. So einen enorm großen Vogel hatte ich nie zuvor gesehen. Zwar wiegt ein Uhu, wie ich in den folgenden Tagen dank meines Biologielehrers herausfand, der mir einige seiner Tierbestimmungsbücher lieh, nur etwa drei...