Einführung:
Marketing in der Dauerkrise?
»Ich weiß, die Hälfte meiner Werbung ist hinausgeworfenes Geld.
Ich weiß nur nicht, welche Hälfte.«
Henry Ford
Vielleicht kennen Sie Henry Fords berühmten Stoßseufzer in Sachen Werbung schon. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es offenbar nicht einfach, Kunden gekonnt anzusprechen. Doch im Vergleich zu heute befand sich der Gründer der Ford Motor Company in einer geradezu paradiesischen Situation. Sein Produkt war so innovativ und so begehrt, dass der (Absatz-)Erfolg kaum zu vermeiden war. Hundert Jahre später haben sich die Märkte dramatisch gewandelt. Nicht nur bei Fahrzeugen, sondern praktisch bei jedem Angebot, vom Automobil bis zur Zahncreme, hat der Kunde die Qual der Wahl. Jeder Kleinstadt-Supermarkt führt mindestens ein Dutzend Sorten Senf, und vor dem Kühlregal könnte man Stunden verbringen, wollte man alle Angebote vergleichen.
Auf die Vielfalt der Produkte hat das Marketing mit einem wahren Trommelfeuer an Werbung reagiert. In den Neunzigerjahren schätzte man, dass jeder Konsument pro Tag durchschnittlich 3.000 Markenbotschaften ausgesetzt war. Glaubt man dem neuen Star der Marketingszene, Martin Lindstrom, ist diese Zahl inzwischen auf 5.000 angestiegen. Kein Wunder, dass die Umworbenen längst vor der Dauerberieselung kapituliert haben und die meisten Botschaften schlicht ignorieren. »1965 erinnerte sich der Durchschnittszuschauer an 34 Prozent der Werbespots im Fernsehen. 1990 konnte er sich nur noch 14,5 Prozent ins Gedächtnis rufen«, schreibt Lindstrom in seinem Buch Brand Sense.1 Zu befürchten ist, dass sich der Erinnerungswert von TV-Werbung, fast drei Jahrzehnte später, noch einmal drastisch verringert hat. Brachten die öffentlich-rechtlichen Kanäle es bis zur Gründung der Privatsender gemeinsam auf 20 Minuten Werbung, gehen die Experten von Serviceplan und der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) heute von 10.000 Spots täglich (!) aus.2 Und dennoch scheint in vielen Unternehmen, in den meisten Agenturen ein hektisches »Weiter so!« den Ton anzugeben.
Allein in Deutschland gibt es 80.000 beworbene Marken, im Bereich »Fast Moving Consumer Goods« werden jedes Jahr rund 30.000 Artikel neu eingeführt. Nur ein knappes Drittel dieser Produkte überlebt das erste Jahr im Handel, rund 70 Prozent verschwinden binnen 12 Monaten wieder aus den Regalen.3 So viel zur Wirksamkeit der Werbung heute. Obwohl die Methoden der Marktforschung immer ausgeklügelter, die Kampagnen immer aufwendiger werden, drängt sich der böse Verdacht eines Trial-and-Error-Verfahrens auf, in dem man immer wieder neue Produkte in die Schlacht um die Aufmerksamkeit längst übersättigter Konsumenten wirft, in der meist vergeblichen Hoffnung, dass es dieses Mal gut gehen wird.
In vielen Fällen geht es aber eben nicht gut, und so wird seit Jahren die Krise des Marketings heraufbeschworen. »Weder innovative Produkte oder Dienstleistungen noch ausgeklügelte Vertriebs- und Preisstrategien oder kreative Werbung sind heute eine Garantie für Erfolg«, schreibt etwa Klaus-Dieter Koch von der Beratung Brand Trust.4 »Das Marketing, wie es in den letzten Jahren in vielen Unternehmen betrieben wurde, stirbt. Die Welt der Checklisten, der sicheren Rezepte und Regeln, der richtigen Antworten und ausgefeilten Methoden bricht zusammen«, sekundiert der Schweizer Marketingexperte Otto Belz in einer Standortbestimmung.5 Selbst Philip Kotler, der Marketingpapst der Neunzigerjahre, beginnt Texte inzwischen gerne mit dem apodiktischen Statement: »Marketing funktioniert nicht mehr.«6 Symptomatisch für ein inzwischen verbreitetes Misstrauen in die Erfolgsversprechen klassischen Marketings ist der Reflex, die Budgets gerade in Krisenzeiten drastisch zu kürzen. Wenn Marketing funktioniert, sollte bei schwächelndem Absatz dort eigentlich mehr Geld hineinfließen, nicht weniger. Auch das hektische Propagieren immer neuer Erfolgsmethoden, vom Guerilla-Marketing über Neuromarketing bis zum Social-Media-Hype, ist ein ausgeprägtes Krisensymptom. Denn teure Hirnscans zeigen nur, welche (existierenden) Marken die Kunden lieben. Warum sie das tun, diese Frage beantwortet der Magnetresonanztomograph nicht, und ebenso wenig kann er Erfolgsprognosen für die Zukunft abgeben. Es gibt keinen »Kaufen!«-Knopf im Gehirn, der sich per Scan eindeutig identifizieren ließe, wie Hans-Georg Häusel, ein namhafter Vertreter des Neuromarketings, betont.7
Es ist an der Zeit, einen Moment innezuhalten und sich wieder auf das zu besinnen, was Unternehmen tatsächlich Kunden beschert: eine starke Marke. Ob Coca-Cola als Traditionsmarke oder Google als Shootingstar des letzten Jahrzehnts, ob Apple als Kultmarke in der Informationstechnologie oder Nespresso als Goldgrube im hart umkämpften Kaffeemarkt: Erfolgreiche Marken sind die Leuchttürme in einem Meer gesichtsloser Produkte.
Was macht eine Marke zu einer starken Marke? – so lautet die Eine-Million-Dollar-Frage des Marketings. Es lohnt sich, diese Frage neu zu stellen, denn nicht nur die Märkte haben sich verändert, sondern auch die Menschen. Marketing wird nicht nur deshalb schwieriger, weil es von vielem ohnehin schon zu viel gibt und jedes neue Produkt sich gegen eine große Zahl von Mitbewerbern durchsetzen und um Aufmerksamkeit kämpfen muss. Marketing wird schwieriger, weil die tradierten Rezepte nicht mehr greifen. Die Kunden kapitulieren nicht nur passiv vor der Vielzahl der Werbebotschaften, viele von ihnen haben die traditionelle Werbung satt.
Niemand glaubt heute noch ernsthaft, dass ein neues Waschmittel noch weißer waschen, eine verbesserte Windel das Baby noch trockener halten, ein neuer Rasierer noch besser rasieren kann. Und doch setzt eine erstaunliche Zahl von Werbebotschaften immer noch auf das rationale Prinzip des »Besser, schneller, weiter«. Die Kunden sind kritischer, sie sind misstrauischer, sie sind besser informiert. Mit wenigen Mausklicks lassen sich Preise vergleichen, Konkurrenzangebote ermitteln oder Bewertungen anderer Kunden recherchieren.
Doch wenn viele Produkte mehr oder weniger dasselbe können, nach welchen Kriterien fallen dann Kaufentscheidungen? Entweder nach dem Preis, was vielen Branchen einen ruinösen Wettbewerb beschert. Oder nach Kriterien, die das Marketing erst langsam ins Visier nimmt. Ich bin überzeugt: Wir sind Zeuge eines umfassenden Wertewandels, zu dem beispielsweise gehört, dass man nicht nur ein gutes Produkt kaufen möchte, sondern auch ein gutes Gewissen. Wie kommt es denn, dass manche Banken plötzlich damit werben, sie investierten bei der Kreditvergabe für Renovierungen in Klimaschutz?8 Oder dass Kaffeeketten sich über die Lebensbedingungen der Kaffeebauern öffentlich Gedanken machen?
Zu diesem Wertewandel gehört auch, dass immer mehr Menschen die Rolle des passiven Konsumenten verweigern und in einen Dialog mit den Unternehmen und mit anderen Kunden treten wollen. Wie kommt es, dass erfolgreiche Unternehmen wie Amazon nicht nur Bücher liefern, sondern ein ausgeklügeltes Bewertungssystem pflegen, über das Kunden in Kontakt mit anderen Kunden treten können? Warum kommt ein Schuhversender auf die Idee, ein neues Schuhmodell von Kunden entwerfen zu lassen und ihm eine Doppelseite seines Katalogs zu widmen?9
Zum Wertewandel gehört weiterhin, dass Produkte heute nicht mehr nur »Bedürfnisse befriedigen«, sondern stärker denn je dazu dienen, den eigenen Lebensstil zu definieren. Kaum jemand hat das besser verstanden als Apple mit seiner Fähigkeit, Angebote zu designen, die Coolness verströmen. Ob das neue iPhone technische Probleme hat oder das ultradünne Notebook zu wenig Anschlüsse, ist sekundär. Viele Kunden nehmen das bewusst in Kauf, und trotzdem sind beide Produkte ein Must-have für die Apple-Gemeinde, die jeder Neuentwicklung des Unternehmens entgegenfiebert. Doch es sind nicht nur die Produkte, die die Kunden an das Unternehmen binden: Ohne den früheren, charismatischen Apple-Chef Steve Jobs, der es sich nicht nehmen ließ, jede Neuentwicklung persönlich in einer mitreißenden Präsentation einem großen Auditorium vorzustellen, wäre der Hype um iPod, iPad und Co. kaum so groß geworden. Jobs gab dem Unternehmen ein Gesicht: Apple ist nicht irgendein IT-Unternehmen, Apple ist Jobs. Die Börse verstand das längst: Hustet der CEO, fiel der Kurs. In unübersichtlichen Zeiten sorgen Menschen, an denen man sich orientieren kann, für Übersicht. Damit wandelt sich die Rolle des Topmanagements: Öffentlichkeitsscheue Technokraten verschenken Marktpotenziale.
»Die Marke ist der Geist der Gemeinsamkeit von Unternehmen und Kunden, ein Heimatrevier, das Sinn stiftet«, schreibt Publizist Wolf Lotter hellsichtig im Magazin Brand eins.10 Ausnahmemarken gelingt es, ein Gefühl der Verbundenheit zu ihren Kunden herzustellen, das über ein bloßes Nutzenversprechen hinausgeht und ihnen langfristige Loyalität sichert. Im Idealfall haben diese Marken Anhänger oder Fans und eben nicht nur »Käufer«. Um dieses Wir-Gefühl von Kunden und Marken zu umschreiben, spreche ich von WIR-MARKEN. Wenn es einem Unternehmen gelingt, ein solches Band zu seinen Kunden zu knüpfen, kann ihm der Wettbewerb wenig anhaben. Im Gegenteil: Wenn »die anderen« wahrgenommen werden, dann um sich davon abzugrenzen und der eigenen Identität zu versichern. Was wäre der Mac ohne das Heer gesichtloser PC-Besitzer? Was der Lonely-Planet-Reiseführer ohne die vermeintliche Massenware großer Reisebuchverlage? Feindbilder haben schon immer geholfen, die eigenen Reihen fester zu schließen.
Warum es einigen...