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WOZU IST DIE STIMME GUT? FUNKTIONEN UNTER DER LUPE
»DIE MENSCHLICHE STIMME (…) ist der durch die Stimmlippen eines Menschen erzeugte und in den Mund-, Rachen- und Nasenhöhlen modulierte Schall. Die Stimme wird vom Menschen zur Übermittlung von Informationen in Form von Sprache und anderen Lauten wie Schreien, Weinen, Lachen, Stöhnen etc. eingesetzt.« (Wikipedia 2016)
Die meisten Menschen in unseren Breiten kommunizieren täglich mit ihrer Stimme. Die Stimme gehört zur Grundausstattung des Menschen. Wir kommen auf die Welt und haben eine Stimme mit im Gepäck. Ausnahmen sind angeborene Fehlbildungen. Doch haben wir richtig sprechen gelernt?
Hier bringe ich mein Lieblingsbild ein: Sie kommen zur Welt und haben von Mutter Natur ein Auto mitbekommen. Ohne eine einzige Fahrstunde zu absolvieren, ohne eine Fahrschule auch nur besucht zu haben, ohne Schleuderkurs und Fahrtechniktraining fährt dieses Auto los und erfüllt seine Aufgabe: Es fährt. Und es fährt toll!
Die Stimme erfüllt, weil es in unserem menschlichen Bauplan und den Funktionsplänen so angelegt ist, eine unserer lebenslänglich wichtigen Aufgaben. Eine solche Aufgabe ist z.B. auch das Wachsen. Niemand muss uns das beibringen, das ist in jeder Zelle als Auftrag angelegt. Wenn wir aufhören, neue Zellen zu erzeugen, sind wir auf dem Weg ins Grab. Verbindung zu schaffen, ist ein wesentlicher lebenserhaltender Faktor. Verbindung und Bezug zu anderen Wesen sind für den Menschen ein Leben lang notwendig. Wir müssen Signale setzen und andere damit erreichen.
Gelingt es uns nicht, sofort nach der Geburt irgendein anderes Wesen auf diesem Planeten zu erreichen, damit es reagiert und für uns sorgt, ist unser Leben in Gefahr. Für die weise Natur war ein optisches Signal offensichtlich zu wenig. Bis man uns als Baby im Urwalddickicht gesehen hat, war der Löwe immer schon schneller. Schall hingegen breitet sich in alle Richtungen aus. Außerdem stehen Kindern hohe Töne zur Verfügung. Hohe Töne werden gerichtet wahrgenommen, das heißt, wir können orten, woher diese Töne kommen. Die Chance, gefunden zu werden, ist deshalb hoch. Alle unsere Alarmsysteme sind bis heute hochfrequent.
Außerdem hat die Stimme eines Kindes Ausdauer. Dreißig Minuten durchzubrüllen, ist für eine Säuglingsstimme kein Problem. Das Kind ist dann müde vor lauter Anstrengung – aber niemals heiser. Das sind bereits deutliche Hinweise, wann eine Stimme ihre Aufgabe wirklich erfüllt, nämlich:
1. Verbindung: den anderen wirklich erreichen;
2. Ausdruck: die richtige Sprechweise finden;
3. Ökonomie: mit minimalem Kraftaufwand die größtmögliche Wirkung erzielen;
4. Klangfülle: raumfüllend und präsent klingen mit dem ganzen Spektrum an Resonanz.
Diese vier Aspekte bilden den Hintergrund für alle folgenden Tipps, Übungen und Fragen in diesem Buch – mal einzeln, mal in ihrer Wechselwirkung werden sie immer wieder zum Thema.
GET CONNECTED – VERBINDUNG HERSTELLEN
ES GAB EINE ZEIT IN IHREM LEBEN, da mussten Sie kein Buch über Stimme lesen, um zu wissen, wie Stimme funktioniert. Sie haben einfach den Mund aufgemacht, das Zwerchfell automatisch eingesetzt, die Stimmlippen in Schwingung gebracht – und ein ganzes Einfamilienhaus war um zwei Uhr in der Nacht hellwach, um sich um Ihre Bedürfnisse zu kümmern.
Das Grundprinzip ist im Berufsleben das Gleiche, wir nennen es nur anders: Wir wollen unsere Inhalte gut verpackt, motivierend und überzeugend zu anderen Menschen transportieren. Wozu? Damit diese ihren Allerwertesten heben und machen, was wir gerne hätten: Produkte bestellen, Aufträge geben, Dienstleistungen ordern, Projekte umsetzen etc.
Ich behaupte, Sie können das! Sie konnten es früher. Und die Erinnerung ist in jeder Ihrer Zellen gespeichert. Sie müssen sich wieder daran erinnern. Dabei hilft ein Stimmtraining effizient und wirkungsvoll. Für alle Sprechsituationen, die Sie als Erwachsener erleben, werden die verschiedenen Parameter überprüft.
Dialog statt Monolog
DAS SPRECHEN »IN VERBINDUNG« bezeichnet man in der Kommunikation als Dialog. Dabei hat Ihr Zuhörer den Eindruck, Sie wenden sich an ihn, Sie sind neugierig auf seine Reaktionen, auch wenn er – je nach Setting – natürlich nicht verbal antwortet.
Das Sprechen »ohne Verbindung« ist ein Monolog. Die kommunikative Abmachung ist beim monologischen Sprechen eine ganz andere. Beim Zuhörer entsteht eher der Eindruck: Du sprichst, und ich schaue dir beim Sprechen zu. An meinen Reaktionen bist du nicht interessiert. Du lieferst Infos ab und hoffst, dass sie schon irgendwie ankommen.
Im angloamerikanischen Raum oder beispielsweise auch in Skandinavien wird viel mehr dialogisch präsentiert. Warum gehen viele junge Menschen gerne zum Studium dorthin? Weil der Lernstoff dialogisch vermittelt wird. Diesbezüglich haben wir hierzulande noch Nachholbedarf, aber es wird besser. Das gibt Hoffnung.
Wenn die Verbindung verloren geht
VIELE VON UNS HABEN IM VERLAUF ihres sprechenden Lebens die Fähigkeit der Stimme, uns mit unseren Hörern in Verbindung zu bringen, verloren. Wenn wir mit etwa eineinhalb Jahren beginnen, unseren »Kofferraum« mit Inhalt, also Wörtern zu füllen, beginnt die Umwelt üblicherweise – mit bester Absicht –, sich in unsere Fahrweise einzumischen: Kind, sprich leise. Sprich lauter. Mach den Mund auf beim Reden. Kinder reden nur, wenn sie gefragt sind. Sprich in ganzen Sätzen. Unterbrich mich nicht. Sag nicht »ich«. Rede nicht mit vollem Mund. Sprich in ganzen Sätzen. Schön sprechen. Solche Wörter sagt man nicht. Mädels pfeifen nicht. Erst denken, dann reden. Etwas sachlicher, bitte. Schau mich an beim Reden. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Du kannst nicht singen, geh lieber zum Sportverein.
All das interpretieren wir meist so, dass mit unserem Auto und unserer Fahrtechnik offenbar etwas nicht stimmt. Da beschließen viele Menschen, oft unbewusst, nicht mehr gerne zu sprechen. Sie vernachlässigen ihr Auto. Die Schulzeit kommt, und mit ihr kommen so einige Situationen, die uns den vollen Stimm- und Sprecheinsatz verleiden.
Laut vorlesen, bis man einen Fehler macht; alleine vorsingen und ausgelacht werden; Gedichte auswendig lernen und monoton herunterleiern (gefragt ist die Merkleistung, nicht der schauspielerische Eindruck); vor versammelter Klasse Referate halten, bei denen niemand zuhört – all das sind für unsere Instinkte Situationen, die wir als bedrohlich erleben! Schon wenige Referate vor unaufmerksamen Zuhörern lassen Menschen zu dem Schluss kommen, das Reden vor anderen sei nichts für sie. In kleinen Gruppen oder am Telefon – kein Problem, aber bei mehr als sieben Zuhörern … nein, man sei doch eher introvertiert.
Das Auto ist extrovertiert gebaut, um nach vorne zu fahren – die Stimme ist eine Äußerung, keine »Innerung«! Auch der introvertierteste Mensch hat eine Stimme, um nach außen hörbar zu werden! Und wir alle haben Luxusautos – Ferraris und Jaguars und BMWs und Audis und Rolls Royce und Mercedes – unterm Allerwertesten. Die sind nicht bloß für die Garage gebaut!
TRAKTOR UND FERRARI – WER WAREN IHRE VORBILDER?
UNSERE ALLERERSTE SPRECHTECHNIK übernehmen wir von unseren frühesten Bezugspersonen. Wir spüren körperlich, wie Mama es macht, und setzen unseren Stimmapparat genauso ein. Wir empfinden, wie es bei Papa funktioniert, und ahmen es nach. Bezugspersonen des ersten Lebensjahres(!) sind bereits Vorbilder für Betonung, Melodie und Rhythmus unserer Sprechweise. Es gibt einiges an Nachweisen, dass wir als Kinder sehr früh unökonomischen Stimmgebrauch nachmachen.
Des Öfteren passt leider Großvaters Sprechweise nur zu seinem eigenen Traktor, aber nicht zu unserem Mercedes. Ein Mercedes mit Traktor-Fahrtechnik ist ökonomisch nicht sinnvoll. Nicht zu viel sagen, man könnte ja etwas Falsches äußern; man spielt sich nicht in den Vordergrund – das sind meist keine passenden Sprechregeln und -muster für die kommunikative Zeit, in der wir leben.
Weil es für Kinder so wichtig ist, scheint mir gerade der Beginn der Elternschaft ein äußerst günstiger Zeitpunkt für ein eigenes Stimmtraining zu sein!
UND JETZT SIE!
Mit welchen Sprechregeln sind Sie aufgewachsen? Wurden Sie zum Sprechen ermutigt, entmutigt oder teils, teils? Wie mussten Sie zu Hause (z.B. am Familientisch) sprechen, um gehört zu werden? Sind Sie in einer eher lauten oder eher leisen Familie aufgewachsen? War gesprochenes Wort ein gelebter Wert? Reflektieren Sie doch mal ein bisschen.
INHALT BRAUCHT PERFORMANCE – DAS TRANSPORTMITTEL STIMME
AN UNSERE STIMME VERSCHWENDEN WIR IM...