Anfänge - Die Intention zu diesem Buch
Im Grunde begann mein persönlicher Weg zur Meisterin der Geburt im Jahre 2002. Auf dem Höhepunkt meines medizinischen Wissens arbeitete ich als Medizinische Fachangestellte in einer sehr gut angesehenen Arztpraxis in meiner Heimatstadt. Die Vorgänge des menschlichen Körpers faszinierten mich und ich hatte sowohl die Kompetenz, komplexe medizinische Sachverhalte verständlich zu erklären, als auch die Gabe, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Meine beste Freundin glaubte sich auf der sicheren Seite, als sie mich bat, bei der Geburt ihrer ersten Tochter dabei zu sein.
Eines Nachts rief sie mich um 3 Uhr an und ich eilte voller Vorfreude zu ihr ins Krankenhaus und war gewillt, sie auf jede erdenkliche Art zu unterstützen. Als ich den Kreißsaal betrat, lag meine liebe Freundin bereits auf dem Klinikbett. Angekleidet mit einem hellblauen Kliniknachthemd, lag sie auf der Seite, das CTG am Bauch und eine Venenverweilkanüle steckte in ihrem Handrücken. Dem regelmäßigen Pochen der Herztöne lauschend, blickte ich mich um. Ich sah meine Freundin, wie sie in der Erwartung, ihr lang ersehntes Baby endlich im Arm halten zu dürfen, stolz vor sich hinlächelte. Das klinische Umfeld wirkte vertraut auf mich. Ich kannte den Duft des Desinfektionsmittels, die medizinischen Geräte und diese Schübe an der Wand, die mit Spritzen und Kanülen jeden Durchmessers bis zum Rand gefüllt waren. Für mich war alles in feinster Ordnung, ich fühlte mich ein wenig wie auf Arbeit, bis sich die diensthabende Hebamme zu uns gesellte. Nachdem wir miteinander bekannt gemacht wurden, sagte sie so etwas wie „Dann wollen wir mal schauen, wie weit sie sind!“, entfernte mit flinken Händen das CTG vom Bauch und griff meiner Freundin zwischen die Oberschenkel. Beschämt starrte ich auf die Kacheln des Kreissaals. Sollte ich jetzt besser rausgehen? „Bleib nur hier“ sagte meine Freundin, die meine Gedanken lesen konnte, „Setz dich hier an meinen Kopf und schau dir schon mal die Videokamera an. Du musst nachher filmen!“ Ihr Partner saß derweil am anderen Ende des Kreissaals auf einem Gebärhocker. Den Kopf auf einen Arm gestützt schien er eingenickt zu sein.
„Da tut sich noch nicht so viel!“ meinte die Geburtshelferin und griff zu der kleinen Stellschraube des Tropfsystems, um die Geschwindigkeit höher zu drehen. Dann verschwand sie wieder. Meine Freundin und ich redeten und lachten, aber bald bemerkte ich, dass die Situation für sie immer unangenehmer zu werden schien. Sie hatte Schmerzen und sie konnte nicht so recht damit umgehen. Deshalb beschloss sie, sich eine PDA legen zu lassen. Wir klingelten die Hebamme herbei und binnen weniger Minuten wurde der Kreißsaal richtig voll. Der Anästhesist kam, erklärte sein Vorgehen und die Risiken, während meine Freundin die Augen weitete und fragend mein zustimmendes Nicken ersuchte. In diesem Moment hielt ich inne.
Geht so Geburt? fragte ich mich.
Die PDA saß gut und meine Freundin regelte mittlerweile selbst die Dosierung anhand ihres Schmerzempfindens. Sie lag auf dem Rücken, die Beine weit gespreizt und gewährte jedem der zu Tür hineintrat den vollsten Einblick in ihre Intimität. Vom Kopfende des Bettes aus, wo ich noch immer saß, betrachtete ich alle Hereinkommenden: den Stationsarzt, den Anästhesisten, eine Hebammenschülerin und eine kleine Gruppe von Medizinstudenten. Sie stellten sich alle höflich vor und schauten nach der Gebärenden. Mit stoischer Regelmäßigkeit ertastete immer mal einer von ihnen die Öffnung des Muttermundes. Immer wieder drangen sie mit ihren Fingern in meine Freundin ein. Mir war übel. Für einen Moment überlegte ich, ob ich vielleicht gehen könnte, doch mein Gewissen plagte mich schrecklich. Ich konnte sie jetzt nicht allein lassen. Also blieb ich. Und ich fühlte. Ich fühlte, dass hier etwas fehlte. Es fehlte die Würde und eine respektvolle Umgebung für meine liebe Freundin.
Bitte lasst ihr doch ein bisschen Intimität! Deckt ihren Unterleib wieder zu! Bitte schickt ein paar Leute wieder raus! Bitte macht doch etwas! Die Schreie aus meinem tiefsten Inneren drückten sich über meine fest zusammengepressten Lippen und meine aufgelehnte Körperhaltung aus.
Meine liebe Freundin … Sie wurde behandelt wie eine Patientin. Wie ein biologischer Körper mit einer Öffnung, genannt Vagina, aus der in den nächsten Minuten ein Baby herauskommen sollte.
Ich kämpfte mit meinen Gefühlen, ich wusste tief in mir, dass hier etwas nicht stimmig ist. „Loss, jetzt musst du filmen! Halte die Kamera drauf!“ riss mich meine Freundin aus meinem Gedanken-Gefühls-Karussell. Sie selbst wurde mittlerweile von der Hebamme angewiesen: „Jetzt hecheln! …und pressen! …und nochmal!“ Ich filmte und versuchte meine Gefühle auszublenden. „Pressen, pressen, pressen!“ Es wurde jetzt richtig laut im Kreissaal und dann sah ich die gebogene Schere in der rechten Hand der Hebamme. Sie schnitt. Ich blickte wie erstarrt auf den 3cm langen Schnitt zwischen Scheide und Anus.
Mir schossen die Tränen in die Augen und eine Welle der Wut erfasste mein sonst so sonniges Gemüt. Die Wut verwandelte sich in einen unbändigen Hass auf diese Hebamme. Ich wusste nicht wie mir geschah, meine Emotionen tobten in mir und ein Gedanke in mir wurde auf Dauerwiederholung gesetzt: Sie hat sie einfach aufgeschnitten! Einfach aufgeschnitten. Einfach aufgeschnitten.
Das Köpfchen des kleinen Babys drückte sich hervor, das Blut vom zerschnittenen Damm lief dem Baby ins Gesicht. Handschuhbezogene Finger der Hebamme wischten eifrig herum und drängten tiefer in die verletzte Scheide. Dann zog die Hebamme das Kind vollständig heraus.
Ich stand die ganze Zeit daneben, die Kamera in der Hand. Meine Augen waren auf das Geschehen gerichtet, doch sie schienen wie abgetrennt von meinem Empfinden. Ich hatte zu gemacht. Ich wollte das nicht mehr sehen.
Die Nabelschnur wurde getrennt und mit einem Mal brach Freude über die Ankunft des Babys aus. Alle staunten und bewunderten das kleine Wesen, welches jetzt sauber abgetrocknet auf einem gelben Handtuch lag. Ich übergab dem frisch gebackenen Papa die Kamera, der die erste Untersuchung und Vermessung seiner Tochter filmte, während ich mich wieder an das Kopfende zu meiner Freundin setzte. Der Stationsarzt nähte den Dammschnitt und scherzte darüber, ob er vielleicht doch ein bisschen enger zunähen sollte. Ich fand den Witz völlig unangebracht. Die Hebamme war gerade dabei mit einer silbernen Schüssel aus dem Kreißsaal zu rennen, da pfiff meine Freundin sie zurück. „Halt! Meine Freundin will sich das bestimmt noch mal ansehen?!“ Ich schluckte. Nein, eigentlich hatte ich genug gesehen. Weil ich nicht umgehend reagierte, kehrte die Hebamme kurzerhand zurück und zeigte mir die Plazenta. Sie versuchte mir etwas über den Mutterkuchen zu erklären, doch es drangen nur Wortfetzen zu mir durch. „…hier die vollständigen Eihäute … kindliche Seite … .“ Meine sonst so offene Neugier gegenüber der Physiologie des Körpers war irgendwie verschwunden. Ich konnte nur noch stumm nicken.
Als ich die Klinik verließ, bemerkte ich einen enormen Energieverlust. Ich fühlte mich nicht nur erschöpft, sondern zutiefst gedemütigt und verletzt. Verletzt an Körper und Seele. Betrogen um die schöne Weiblichkeit. Stellvertretend für alle Frauen dieser Welt nahm ich wahr, wie viel Schmerz in diesem und vielen anderen Kreißsälen produziert wurde. Entsetzt und erstarrt von der Gewalt und der Autorität der Geburtshelfer, fühlte ich tief in mir, dass ich so etwas nie wieder erleben wollte.
Rückblickend hatte meine liebe Freundin eine ganze Reihe medizinischer Eingriffe erlebt. Die gesamte sterile Atmosphäre, die Schnittverletzungen und der fehlende Respekt hatten mich der Magie der Geburt entfremdet.
Als ich mit meiner Mutter darüber sprach, setzte sie mit ihren eigenen zwei erlebten Geburten noch eine Demütigung obendrauf. Sie berichtete, dass der Gynäkologe sie mitten in einer Wehe anal untersuchte.1 Sie erzählte von eingeleiteten Wehen, die ihr bis in den Kopf schlugen, sodass sie Angst hatte, ihr würde der Schädel platzen. Meine Mutter empfand meine Geburt und die Geburt meines Bruders als ebenso gewaltig, dass sie uns nicht einmal sehen wollte, als wir geboren waren. Sie wollte einfach nur noch ihre Ruhe.
Noch ein paar Mal holten mich die Gedanken an Geburten ein und es gab da auch tatsächlich mal einen Mann, mit dem ich über meine Erlebnisse sprechen konnte. Allerdings ließ er mich in dem Verständnis, dass Frauen die einfachste Physik nicht verstanden hätten. Er pflegte gewöhnlich wie ein kleiner Rohrspatz zu wettern, dass Frauen selbst schuld wären, wenn sie sich denn zu einer Geburt auf den Rücken legen würden. „Ihr habt doch die Schwerkraft nicht verstanden! Steht einfach auf oder hockt euch hin, dann flutscht das Baby von alleine raus!“
Sollte es wirklich so einfach sein? Ich dachte lange darüber nach. Tatsächlich war ich keine „Leuchte“ in Physik, aber einen Gegenstand horizontal von A nach B zu bewegen ist anstrengender, als ihn vertikal der Erdanziehungskraft zu übergeben. Das erschien mir logisch.
Ich wechselte beruflich in den Vertrieb von Medizinprodukten und agierte ziemlich erfolgreich mit Ärzten und medizinischem Personal. Mit jedem Berufsjahr mehr begriff ich, wie sich die Schulmedizin gemeinsam mit den Produkten der Medizinindustrie entwickelte. Ich liebte diese Produkte, die ich verkaufte und ich hätte sie bedenkenlos an mir selbst angewendet, dennoch ließen mich die Gedanken nicht los, warum wir überhaupt krank werden und warum wir manchen Krankheiten so hilflos und machtlos...