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E-Book

Memoiren

AutorKlaus Groth
VerlagBoyens Buchverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl392 Seiten
ISBN9783804230194
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Schon vor über hundert Jahren hätte dieses Buch erscheinen sollen. Groth selbst hatte die 'Memoiren' vorgesehen als 6. Band seiner Werkausgabe. Doch der Tod durchkreuzte diese Pläne. Nun endlich können die autobiographischen Schriften des Quickborn-Dichters als Buch erscheinen. Im Mittelpunkt stehen Groths persönliche Begegnungen mit bedeutenden Künstlern und Wissenschaftlern seiner Zeit: Brahms, Helmholtz oder Bettina von Arnim. Groth erweist sich als präziser Beobachter, doch er ist weit mehr als ein Zeitzeuge. Seine Beschreibungen gewinnen ihre besondere kulturgeschichtliche Bedeutung dadurch, dass sie in eigener Art Sichtweisen und Wertungen offenbaren, die typisch sind für die bürgerliche Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit diesem Band findet die Groth-Neuausgabe ihre Fortsetzung: nach der Lyrik ('Quickborn', 3-8042-0830-4, erschienen 1998) und der Prosa ('Vertelln', 3-8042-0868-1, erschienen 2001) folgt hier die Sachprosa. Wer Groth verstehen möchte, kommt um die Lektüre der Memoiren nicht herum.

Die Herausgeber Prof. Dr. Ulf Bichel, geb. 1925 in Kiel, vielseitiger Sprach- und Literaturwissenschaftler, der sich über Jahrzehnte mit dem Werk und dem Leben von Klaus Groth befasst hat. Seit über 20 Jahren Herausgeber der Jahresgabe der Klaus-Groth-Gesellschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen, insbesondere niederdeutschen Sprache und Literatur. Dr. Reinhard Goltz, geb. 1953 auf Finkenwerder, Geschäftsführer am Institut für niederdeutsche Sprache (Bremen). Versteht sich als Grenzgänger zwischen Wissenschaft, Literatur und Sprachpraxis. Zahlreiche Aufsätze und Beiträge zur plattdeutschen Sprache und Literatur. Seit 1998 Vorsitzender der Klaus-Groth-Gesellschaft.

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Leseprobe

Ich bin Autodidakt in allem, was ich weiß und kann – wenn es noch erlaubt ist, in jetziger Zeit von Selbstbildung zu sprechen, da alle Hülfsmittel der Bildung so zugänglich geworden sind wie niemals früher. Aber ich habe mir selbst die Ziele erkannt und gesteckt, schon frühzeitig darüber das Bewusstsein gehabt, habe die Wege mir dazu selbst gesucht und sie mit der eisernen Willenskraft eines Norddeutschen verfolgt und nie verlassen, bis ich es erreicht, was ich wollte. Habe ich Unterricht genossen, so hat er mir nur dazu als ein erkanntes Mittel geholfen. – Meine ersten Gedichte schrieb ich hochdeutsch von meinem 14.-16. Jahre1. Ich bin ein Spätreifer, sang noch in meinem 20. Jahre mit mädchenhaftem Angesicht, obgleich eines Kopfes länger als mittelgroße Männer, einen ungebrochenen Knabendiskant. Um jene Zeit meines 16. Jahres sah ich ein, dass meine Verse sich nicht über die Mittelmäßigkeit erhoben; ich dachte klar und konsequent, damit sei niemand gedient, weil genug von Mittelgut da sei, und nahm mir fest vor, erst etwas Ordentliches zu lernen, nach allen Richtungen hin Verstand und Herz offen zu halten und nicht eher einen Vers wieder zu schreiben, als wenn ich’s durchaus nicht lassen könnte. Das hielt ich wenigstens bis zu meinem 24. Jahre; nicht einmal ein Gelegenheitsgedicht habe ich gemacht; niemand hat geahnt (bis zuletzt auf ein paar Freunde), als mein Quickborn in meinem 33. Jahre erschien, dass ich einen Reim machen könnte. Dennoch habe ich nie den Gedanken aus dem Herzen verloren, einmal meinem Volke ein Dichter zu werden, der ihm seine Geheimnisse offenbare, ihm den Spiegel vorhalte. Meine äußeren Lebensverhältnisse sind daher untergeordnet für meinen Entwicklungsgang. Ich weiß freilich wohl, dass vielleicht etwas anderes aus mir geworden sein möchte, wenn sie anders gewesen; allein die Grundzüge meines Innern hätten sie nicht geändert.

Ich bin geboren in Heide, dem Hauptflecken2 der Nordhälfte des Ländchens Dithmarschen. (Sie finden über Ort und Landschaft hübsche Nachrichten in Müllenhoffs3 Einleitung zur 6. Aufl. des Quickborn). Meine Vorfahren sind von uralt freie Dithmarscher Bauern gewesen; ich vermute, dass ein Urahn wegen seiner Körpergröße einmal unseren Namen Groth (der Große) erhalten hat. Mein Vater4 hatte einen kleinen Landbesitz, worauf wir gegen 10 Stück Kühe und Jungvieh weideten. Eigentlich hatte er das Müller- und Zimmerhandwerk gelernt, kam aber heim und fasste seines Vaters Besitz an, als seine Mutter starb. Erst später kaufte er eine Windmühle, die, aus unserm Fenster sichtlich, einige hundert Schritte von unserm Hause ihm immer ins Auge gestochen. Bis dahin trieb er aus dem Hause den Verkauf von Mehl und Grütze. Es herrschte eine gewisse Wohlhabenheit und gänzliche Unabhängigkeit bei uns. Wir hatten Überfluss am schönsten Mehl, Milch, Butter, Fleisch und Gemüse und lebten fröhlich dabei. War doch genug da, dass noch immer ein armes Kind nebenbei mit ins Haus genommen und durchgefüttert wurde, und noch nennen zwei jetzt tüchtige Handwerker meinen Alten Vater.5 Ich verdanke diesem Leben alles, zumal eine Gesundheit, die zähe genug war, wirklich unglaubliche geistige Anstrengungen zu ertragen, ehe sie sich beugte, und noch blüht jetzt wieder nach zehnjährigem Druck meine Farbe jugendlich auf. – Mein Obbe (Großvater)6 wiegte mich, seinen erstgeborenen Enkel, auf den Knien; er hielt mir seine große silberne Taschenuhr ans Ohr, die noch hier vor meiner Schreibmappe glänzt als Andenken an den teuren Alten. Züge von ihm kommen im „Gewitter“ und im „Sonntagmorgen“ vor,7 in welchem letzteren mein Vater der Pockennarbige ist. Übrigens sprechen meine plattdeutschen Gedichte fast nie Selbsterlebtes in Goethescher Weise aus; man suche weder mich, noch andere in persona darin. Es sind lauter Ideale; natürlich aber ist jeder Zug in anderer Weise innerlich von mir erlebt. Großvater lehrte mich lesen, schreiben, rechnen, so früh, dass ich die Anfänge nicht erinnere. Ich weiß nur, dass mir in einem Rechnenbuche, das ich schon in meinem 5. oder 6. Jahre durchgemacht haben muss, die Brüche etwas Lebendiges, etwas Ameisenartiges hatten. Und nun entstand eine Wut zur Mathematik in mir, die noch meine Leidenschaft ist. Bis zu meinem 15. Jahre habe ich ganze Quartanten voll Lösungen von mathematischen, algebraischen, geometrischen, trigonometrischen Aufgaben schön zierlich geschrieben. Oft rechnete ich schon als 10-11jähriger Junge, selbst an Sonntagen, von morgens 6 Uhr bis abends 9, vergaß Spiel und alles, und mein Vater musste mich jeden Abend, den Gott werden ließ, von der Tafel zu Bette jagen. Ich denke noch an diese Zeit mit wahrhafter Wonne. Alles Übrige, was in der Schule getrieben wurde, kümmerte mich kaum; mein Gedächtnis hielt alles von selbst fest; nur das Rechnen war mir wie Übung, wie Arbeit, das andere wie Spiel. Ich erinnere nur, dass ein Kursus Naturgeschichte mich fesselte und eine Zeitlang ein geometrischer Unterricht. Natürlich verschlang ich nebenbei eine Masse Lektüre; doch ausgenommen etwa Coopers Lotse8, den Großvater sehr bewunderte und den ich abends vorlas (ich war vielleicht 9 Jahre alt), machte alles gegen jene Geistesgymnastik nur vorübergehenden Eindruck. Gedichte interessierten mich wenig; ich erinnere nur, dass Schillers Bürgschaft einen großen Eindruck machte, als ein Lehrer sie vorlas. Zur Schule ging ich mit solcher Lust und Leidenschaft, dass ich schon Jahre vor meinem Abgange die Tage berechnete, die ich noch nach hatte, und ich zog oft traurig wieder einige Wochen ab, die verflossen waren; Ehrgeiz mag mit dabeigewesen sein, hauptsächlich war es Lern- und Spiellust. Ich erinnere die Zeit nur als eine des immerwährenden innern Jubels. Strafe bekam ich nie, nur ein einziges Mal aus Versehen. Seit meinem 10. Jahre war ich gewohnt, der Oberste in den Klassen zu sein oder es gleich mit einiger Anstrengung, deren Gelingen ich mir sicher war, zu werden. Ich besuchte übrigens nur die Bürgerschule; die sog. Rektorschule, wo etwas Latein und Französisch gelernt wurde, war meinem Vater zu teuer; auch lag sie außer unserm Stande, und das fürchtete er noch mehr, und dazu konnte man dort nicht im Sommer einige Monate fehlen, wo ich mit aufs Feld an die Arbeit musste. Damals dankte ich ihm in meiner Lernwut nicht dafür; jetzt sei er aus tiefster Seele dafür gesegnet. Ich habe bei ihm auf dem Felde was Besseres gelernt. Erst in männlichen Jahren ist es mir durch Vergleich aufgefallen, welch scharfe Sinne wir Groths hatten. Mein Vater war selbst bis zum Geruch fast wie ein Wilder, und ich möchte wohl noch mit einem Indianer für Auge und Ohr einen Wettkampf eingehen. Da habe ich denn im Sonnenlicht Auge und Ohr vollgesogen in Gottes freier Welt, habe abends vor der Tür gesessen, müde, hungrig wartend aufs schöne Essen, Weisheit gehört vom Großvater, Kraft des Geistes und Körpers schätzen gelernt vom Vater, freier Männer freie Gesinnung empfunden. Großvater erzählte mir beim Heuen oder beim Torf von Odysseus, Homer, Sokrates, Alexander, von Napoleon, von den Kämpfen der alten Dithmarscher, deren Schlachtfelder wir rund um uns sahen. Heldengedanken kamen dabei aber nicht in mir auf, ich war eine Mädchenseele. Ich habe geweint, wenn ich im Bette lag und draußen der Nachbar die Flöte blies. Die wahre Poesie ist immer das gemeinsame Werk eines Volkes, niemals das eines einzelnen Menschen. Der Dichter wird geboren und erzogen: geboren mit reizbaren Nerven für die Eindrücke von außen, erzogen von seinem Volke, das ihm die Eindrücke liefert. Ich bin genug in der Welt umhergewandert, um mit klarer Erkenntnis sagen zu können, ein Völkchen wie meines, von solcher Wahrhaftigkeit, Treue, Verstand und Charakter, möchte schwer auf Erden zu finden sein. Meine Bücher sind nichts anderes als die Darstellung desselben. Wenn man es daraus erkannt hat, wird man mir einen großen Teil des Verdienstes abziehen können, und ich wäre glücklich, wenn ich sähe, dass man’s täte; ich weiß meinem Vaterlande nicht besser Dank zu sagen. Man hat noch nicht darauf aufmerksam gemacht, dass der berühmte Niebuhr9 vielleicht nirgends in der Welt hätte zu dem Historiker werden können, der er geworden, als in einem Ländchen, das länger als jedes andere in Europa seine alte Freiheit verteidigt, seine freien Institutionen bewahrt. In diesem gesegneten Lande Dithmarschen bin ich aufgewachsen. Nur in einem solchen Ländchen dringt man in das innerste Wesen der Menschenseele schon als Kind. Es gibt nirgends vielleicht eine solche allgemeine Personenkunde; man weiß von Tausenden, „was an ihnen“, weil niemand sich scheut, seine Meinung über jede zu sagen. Nirgends kommen Leute sich so nahe. Mich kennt fast jeder Norderdithmarscher; mein Vater wusste von Hunderten, wie es um Vermögen, Ruf, Zuverlässigkeit stand, da er mit halb Dithmarschen in Handelsverkehr stand. In unserer ganzen Feldmark kannte ich jedes Fleckchen Land, wem’s gehörte, was es wert sei, ob vernachlässigt, ausgepowert; jede Koppel hatte ein Gesicht und eine Geschichte. Wegebauten, Armenpflege, Prozesse, Familienangelegenheiten waren mir schon als Kind Sachen, an denen mein Herz teilnahm. Meine Mutter10 war eine hübsche, rasche Frau; mehr noch als sie wirkte meines Vaters Schwester auf mich, eine große, schöne, sanfte Gestalt. Ich habe ihr in meinen „Hundert Blättern“ 4 Sonette gewidmet.11 Sie beschützte mich gegen des Vaters härtere Weise. Strafe bekam ich freilich auch von ihm nie. Aber sein Blick und seine Vorwürfe waren mir schon schrecklich. Und wieder, wenn ich ihn mir vorstelle, wie er in seiner Mühle in der Tür lehnte, am Abend über den stillen Ort sah, so kenne ich kaum ein Bild größerer...

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