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Mensch sein neu buchstabieren

Vom Nutzen der philosophischen und historischen Kritik für den Glauben

AutorHansjürgen Verweyen
VerlagVerlag Friedrich Pustet
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783791760841
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Der theologische Ansatz Hansjürgen Verweyens gehört zu den profiliertesten und meistdiskutierten im deutschen Sprachraum. Wer einen universalen Anspruch göttlicher Offenbarung glaubwürdig vertreten will, muss vor allem zwei Fragen beantworten: Ist wenigstens ein Begriff letztgültigen Sinns denkbar? Wenn ja: Wie ließe sich dieser Begriff so in Realität umSetzen, dass ich ihn als einen unbedingten Anspruch an meine Existenz kritisch verantworten kann? Wer sich diesen Fragen nicht ernsthaft stellt, Setzt sich dem Verdacht aus, ein fundamentalistisches Schlupfloch für den Ernstfall bereitzuhalten. Der Autor hat seinen in 'Gottes letztes Wort' dargestellten Ansatz noch einmal gründlich überarbeitet. Zur besseren Verständlichkeit für einen größeren Kreis von Leserinnen und Lesern trägt vor allem bei, dass er die entscheidenden Punkte seiner Argumentation nun Schritt für Schritt anhand von Beispielen aus der Literatur veranschaulicht.

Hansjürgen Verweyen, Dr. theol., Dr. phil. habil., geb. 1936, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg i. Br.

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Leseprobe

2. Versuch einer Phänomenologie des Staunens


a) Der Regenbogen


Das Staunen über den Regenbogen hat sich in die Mythen fast aller Völker eingeschrieben27. Es findet sich aber selbst dort noch, wo in streng philosophischer und theologischer Reflexion Mythen entmystifiziert werden28.

In Platons Dialog „Theaitetos“ sagt nach einer längeren Ausführung des Sokrates der Gesprächspartner, er sei darüber zutiefst erstaunt (155c). Sokrates antwortet darauf, diese Gefühlsregung (pathos), das (Er-)Staunen (thaumazein), sei einem die Weisheit liebenden Manne (philosophos) höchst angemessen; ja, es gebe keinen anderen Anfang (archê) der Philosophie als diesen (155d). Dann fügt er29 hinzu: „und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben“ (ebd)30. Thaumas gilt als Gott der Wunder des Meeres, Iris, der Regenbogen, als Botin der Götter. Aus der Tiefe der Wasser entspringend umschreitet sie in dem noch nicht ganz gewichenen Dunkel der von oben herabströmenden Wasser das Himmelsgewölbe mit ihrem feingewebten Schleier und führt dem Menschen ein berückendes Farbspiel vor Augen, das die Götter des Lichts aus sich allein nicht hervorbringen können.

Sokrates dürfte in seiner Antwort auf die Rede des Theaitetos an dieses wunderbare Schauspiel gedacht haben. Dann wird das Wort thaumazein von den beiden Gesprächspartnern aber nicht in demselben Sinne gebraucht. Als Äußerung des Er-staunens meint es nicht viel mehr als die Verwirrung, in die Sokrates den Hörenden durch seine Argumentation gebracht hat. Er selbst aber will in seinem von Ironie durchsetzten Lob den und die Hörenden zu einem tieferen Verständnis des Wortes hinführen. Es geht um etwas, das mehr als eine plötzliche, aber nur zeitweilige Unterbrechung des Diskurses zur Folge hat.

Der Terminus archê in dem zitierten Text ist mit „Anfang“ kaum zureichend wiedergegeben. Er hatte bei den Vorsokratikern eine so zentrale Bedeutung angenommen, dass die Antwort des Sokrates wohl nicht ohne diesen Hintergrund zu verstehen ist. Jene Philosophen fragten nach dem ontologischen Ursprung und bleibenden Grund aller Dinge. Sokrates geht es darum, dass das Urprinzip, auf dem Philosophie als Suche nach der Wahrheit fußt, nicht aus dem Blick gerät. Gerade dies war aber seiner Auffassung nach in der Gesprächssituation, in der die Sophisten das Sagen hatten, der Fall. Sokrates weiß, dass ein Argumentieren, das nur vom Argumentieren lebt, immer ins Leere laufen wird. Seine Infragestellung dieser Art von Diskurs entspringt einem Staunen, in dem sich das Schöne (das Wahre und das Gute miteinander verbindend) wenn auch nur für einen kurzen Augenblick zeigt. Dennoch wirkt es fort in dem Fragen, das nach dem Vergehen dieses Augenblicks aufbricht. In der Vielfalt der Dinge und Aspekte, die im Diskurs zur Sprache kommen, gewährt das erinnerte Staunen dem nach Wahrheit Suchenden Licht auf dem Wege zu jedem neu zu erringenden Ziel.

b) „Die Ros ist ohn warum“


Die Grundzüge des durch ein Schönes in der Natur erweckten Staunens hat Angelus Silesius auf einmalige Weise in zwei Zeilen zum Ausdruck gebracht31:

„Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“

Martin Heidegger spricht – mit Blick auf das von den Griechen beschriebene Staunen – von einem Akt des „Erstaunens“32. Auf den Unterschied zwischen „Er-Staunen“ und „Staunen“ wurde bereits kurz im letzten Abschnitt hingewiesen. Es handelt sich hier in der Tat um zwei grundverschiedene Phänomene – ähnlich wie bei dem als „Warten“ und „Erwarten“ Bezeichneten. Wer etwas oder jemanden erwartet, verhält sich diesem anderen gegenüber im Modus des Vorstellens. Die Einordnung des anderen in bestimmte Kategorien der Objektivität zeigt sich etwa darin, dass ich dauernd auf die Uhr schaue, ob die erwartete Person sich an die für ein Zusammentreffen verabredete Zeit hält. Das Wesen des Wartens kommt, ins Absurde versetzt, gut in dem Theaterstück „Warten auf Godot“33 zum Ausdruck. Wer wirklich wartet – etwa auf eine Antwort der Liebe –, darf die Freiheit des oder der anderen keinen für das Erwarten charakteristischen Vorstellungen unterwerfen.

Im Erstaunen bricht das Staunenswerte in meine bereits geordnete und zur Verfügbarkeit vorbereitete Welt ein und bringt mich selbst in Verwirrung. Dann muss ich dem Objekt der Bewunderung möglichst rasch einen festen Platz in meinem System des Umgangs mit anderem zuweisen, um dadurch wieder „zu mir selbst“ zu kommen. Aus dem Erstaunen kann aber auch ein Staunen werden, dann nämlich, wenn das völlig Unerwartete mein gesamtes aus Intentionen und Kategorien gewobene Netz, das ich über die mir als wirklich erscheinende Welt werfe, zerreißt und damit auch meine subjektiven Selbstverständlichkeiten durcheinanderwirbelt. Um dieses Staunen geht es in dem Gedicht des schlesischen Dichters.

Wie soll sich die Behauptung „… ohne warum“ überhaupt rechtfertigen lassen? Alles, was in dieser Welt ist oder geschieht, hat doch eine Ursache. Wir kennen etwas erst dann genau, wenn wir seinen zureichenden Grund gefunden haben. In einem 1970/1971 gehaltenen Hauptseminar von Hermann Krings über J. G. Fichtes „Über die Bestimmung des Gelehrten“ von 1794 verwies ein Teilnehmer auf die Parallelität der Formulierung „sie blühet, weil sie blühet“ zu Fichtes Satz: „Ich bin schlechthin, weil ich bin“34. Er gab den Anfang des Gedichts aber (unwidersprochen; ich legte mir einen Maulkorb um) mit „Die Blum’ ist ohn’ warum“ wieder. Damit hatte er den Wahrheitsanspruch des ersten Satzes bereits widerlegt. Denn das Blühen von Blumen – einer von Kindern oder heute von Supermärkten bestimmten Spezies des Genus Pflanzen – kann man natürlich wie alle pflanzlichen Phänomene auf biologische bzw. biochemische Prozesse als ihre Ursache zurückführen. Auch das Blühen von Rosen ist aufgrund der in dieser Blume enthaltenen Essenzen nutzbar, woran ich 1965, während ich an meiner Dissertation arbeitete, jäh beim Besuch eines Klosters erinnert wurde, in dem man Rosenwasser herstellte. Das, was Silesius von der Rose sagt, ist aber ein Phänomen, das jeden, der es wahrzunehmen vermag, im Innersten seines Geistes berührt. „Objektiv“ gesehen, ist es ein bloßer Schein oder ein Produkt der Phantasie.

Im Unterschied zu einer Schönheit, die in den Spiegel schaut, um sich ihrer selbst und ihrer Wirkung auf andere Menschen zu versichern, hat die Rose diese Selbstvergewisserung nicht nötig. Während im ersten Teil des Gedichts zunächst das Wesen der im Staunen aufleuchtenden Rose beschrieben wurde, ist im zweiten Teil der Betrachter aufgerufen, zu werden wie die Rose. Behalten angesichts dieser beiden Aspekte des Staunens aber noch die eingangs gemachten Ausführungen über die Erkenntnis des „anderen als anderen“ ihre Geltung? Trifft erst recht die daran angeknüpfte transzendentale Analyse der jenem Phänomen zugrunde liegenden „Einheit in Differenz“ – des Ichs in seiner Beziehung zu anderem – auch für das Phänomen des Staunens zu? Im Unterschied zum Erstaunen wird der Staunende doch, von einem Schönen verführt, in eine Einheit hineingezogen, die dem Ich entgleiten würde, sobald es sich nur auf sich selbst besänne.

Diese Beobachtung ist richtig, wird aber bei genauerem Hinsehen von der Einsicht überholt, dass das Ich im Staunen sich weitaus intensiver erfährt als in Akten des Vorstellens. Dort fühlt sich das Ich zwar als Subjekt über das seinem Fragen und Urteilen „unterworfene“ Objekt erhaben. In Wirklichkeit bleibt es aber insofern arm, als sein Versuch, alles ihm Begegnende zur Einheit mit sich selbst zu bringen, in einen nicht vollendbaren Prozess des Aneignens führt. Im Staunen angesichts eines schlechthin Schönen hingegen werden in einzigartiger Weise das andere, gerade als anderes, wie auch das Ich geachtet. Das andere tritt hier in einer überraschenden Gestalt von Andersheit ans Licht: als sich anderen frei gewährend. Von einer solchen Gabe beschenkt, erkenne ich meinen eigenen Wert, ohne einer Reflexion auf mich selbst oder einer Bestätigung durch andere Menschen zu bedürfen.

Wie steht es aber mit der Frage, ob die Rose wirklich ohne Warum ist? Die Möglichkeit, ihr Staunen erregendes Blühen nach Maßgabe des „Satzes vom Grund“ auf Wirkursachen zurückzuführen, wurde bereits abgewiesen. Ist sie damit aber auch ohne Grund? Im Staunen selbst stellt sich diese Frage nicht. Wenn die Rose einen Grund hat, so ist dieser in der Schönheit ihres Blühens so voll gegenwärtig, dass es kaum möglich erscheint, ihn von der Rose abzuheben. Nun währt das Staunen aber nur für eine kurze Zeit. Wenn die Rose dahinwelkt, vergeht auch ihre Schönheit. Dann aber bricht – je tiefer mich das Staunen getroffen hatte, desto intensiver – die Frage nach dem Grunde dieser Schönheit hervor, die mich wenigstens für einen Augenblick die Welt in all ihrer Hinfälligkeit vergessen machte. Die Dynamik der hier aufbrechenden Frage werden wir im vierten Kapitel genauer untersuchen. Zunächst erhebt sich aber ein Problem ganz anderer Art.

Der Mystiker Angelus Silesius verfasste den „Cherubinische[n] Wandersmann“35 zu derselben Zeit, als der Barockdichter Calderón de la...

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