EINLEITUNG
von Christine Strobl
Auf der wunderlichen Reise durch die Weltmeere, die François Rabelais im vierten Buch von Gargantua und Pantagruel (1532 ff.) schildert,
stund Pantagruel auf und spähet’ so aufrechtstehend in die Fern. Dann sprach er zu uns: ‚Lieben Brüder, hört ihr nichts? Mir ist, als hör ich Leut in der Luft parliren; aber ich seh doch niemand. Horcht!‘ Wir also paßten fleißig auf, wie er befahl, und schlurften die Luft mit offnen Ohren, wie gute Austern in der Schal, ob eine Stimm oder Laut darin schwämm: und daß uns ja nichts entgehen sollt, hielten wir unser etliche, nach Kaiser Antonini Beispiel, die flachen Händ uns hinter die Ohren […] Je länger wir horchten, je mehr Stimmen wir unterschieden […]1
Die Kunde des Steuermanns, die Besatzung höre den Lärm einer Schlacht, der im Winter gefroren sei und nun aufzutauen begänne, zeugt von Rabelais’ Rezeption antiker, aber auch zeitgenössischer Quellen, die auf die Vielstimmigkeit einer Zeit verweisen, die heute im Echo der französischen und deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als „Renaissance“ bezeichnet wird.
Der vierte Band der Mythen Europas reiht die Schlüsselfiguren der Imagination der Renaissance damit sowohl in die Nachfolge des Mittelalters als auch insbesondere der Antike ein. Die Mythen der Renaissance finden ihren Anfang im Mythos der Renaissance selbst, der sich seit Mitte des vierzehnten Jahrhunderts aus der Vorstellung der Wiedergeburt der Antike konstituiert. Jacob Burckhardt hat den Metaphern des Erwachens und der Wiederbelebung die Konzepte des Individualismus und der Moderne hinzugefügt, doch fußt seine Darstellung der Renaissance noch auf klaren Abgrenzungen: von Mittelalter und Renaissance, von Italien und dem restlichen Europa, von guten und bösen Helden, – Grenzen, die entsprechend der heutigen Forschungslage in den Beiträgen des vorliegenden Bandes überschritten werden. Mit Peter Burke wird somit unter dem Begriff der „Renaissance“ ein Ensemble an Veränderungen in der abendländischen Kultur verstanden, das die Vielstimmigkeit der Zeit betont. Der vorliegende interdisziplinäre Band stellt Schlüsselfiguren der Imagination vor, die gleichsam als Klangkörper fungieren und die Vielstimmigkeit der Renaissancen in Europa repräsentieren.
Mit dem Mythos des Doktor Faustus als einer der schillerndsten Figuren der Epoche führt TOBIAS DÖRING den Leser in das Machtzentrum der Renaissance, dem Kaiserhof Karls V. im 16. Jahrhundert. Die Tatsache, dass die Visitenkarte des historischen Faustus dem Wahrsager und Astrologen auch Kenntnisse der Nekromantie, der Kunst, Tote ins Leben zurückzurufen, bescheinigt, lässt an der Schilderung der leibhaftigen Begegnung Karls V. mit Alexander dem Großen aus heutiger Sicht Fragen zu, die der Autor durch die Einordnung der Schlüsselfigur in den Gesamtkontext der europäischen Kulturgeschichte zu beantworten vermag. Die große kulturelle Hoffnung der Renaissance, so Döring, bestand darin, der antiken Überlieferung erneut habhaft zu werden, die bis dahin geltenden Grenzen und Beschränkungen des Menschendaseins hinter sich zu lassen und sich aus eigener Kraft in einen höheren Stand zu erheben. Zwar gelingt es Faustus, den Renaissancekaiser als Wiedergänger seines antiken Vorbildes zu inszenieren. Als Lohn für das Heranziehen solch dunkler Beschwörungsmächte findet Faustus selbst jedoch ein schreckliches Ende in der Hölle, das auf den Theaterbühnen der Zeit, insbesondere von Christopher Marlowe, dramatisiert wurde und erklärt, warum Faustus aufgrund seiner curiositas in der Zeit der Renaissance seinen großen Auftritt hatte.
Ebenfalls Kaiser Karl V. stand auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 Martin Luther gegenüber, der sich für seine Anhänger auf die Mächte des Himmels, für seine Gegner hingegen auf die Mächte der Hölle zu berufen schien. WOLFGANG BRÜCKNER geht der Frage, Luther als heiligem oder falschem Propheten, in der Spiegelung der Legende und Antilegende im Detail nach und zeigt an einer Vielzahl zeitgenössischer Quellen, so auch der Flugschriften, auf, welche Stationen die Mythisierung der Vita Luthers aufgreift. Während aus katholischer Sicht der Tod Luthers, ähnlich wie bei Faustus, die Bestätigung eines unheiligen Lebens bedeutete, stellte aus protestantischer Sicht der Mythos Luther die wirksame Imagination für das Selbstverständnis der deutschen Reformation dar. Luther wird als neuer Paulus und letzte Instanz für die Auslegung der Bibel gesehen: Fundament einer neuen Kirchlichkeit im Zuge der einsetzenden Konfessionalisierung der Religionsgemeinschaften.
Als Hoffnungsträgerin der Protestanten in England waren die Aussichten von Elisabeth, Tochter König Heinrichs VIII., auf die Regentschaft über ein Land, das von inneren und äußeren Unruhen getrieben war, ebenfalls von religiösen Interessenskonflikten geprägt. Wie VERA NÜNNING überzeugend darlegt, verstand es Elisabeth I. seit Beginn ihrer Herrschaft 1558 als Königin von England, die Imagination ihrer Zeitgenossen so zu lenken, dass sie die Mythisierung ihrer Person maßgeblich zu beeinflussen vermochte. Mit dem Verweis auf ihre göttliche Auserwähltheit und der Berufung auf ihren politischen Körper – gemäß der aus dem Mittelalter stammenden Theorie der zwei Körper eines Herrschers – schuf Elisabeth I. ein neues Herrscherideal mit männlichen und weiblichen Attributen. In der Verehrung der Königin war die Nation geeint.
Die Regierungszeit Elisabeth I. sah ein Aufblühen der Künste. Insbesondere auf den Bühnen Englands wurden unter neuen Vorzeichen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die damit verbundenen Möglichkeiten der Selbstbestimmung thematisiert. Der Erfolg des dramatischen Experiments, das Shakespeare mit der Liebestragödie Romeo und Julia wagt, beruht, wie WOLFGANG WEISS an markanten Textstellen verdeutlicht, auf einer Fülle von Neuerungen in der Bearbeitung einer oft überlieferten Geschichte, die den Mythos der absoluten Liebe begründet. Durch den Bruch mit literarischen Traditionen schafft Shakespeare Freiraum und Spielraum für den vielstimmigen Dialog der Liebenden, die erst eine Sprache füreinander finden müssen. Gesellschaftliche Anerkennung wird dem Paar jedoch auf der Bühne erst nach ihrem Tod gewährt.
Seiner Zeit voraus war in vielerlei Hinsicht auch Leonardo da Vinci, wie THOMAS FRANGENBERG aus kunsthistorischer Sicht erläutert. Rätselhaft wie das Lächeln der Mona Lisa bleiben die Beweggründe eines Genies, dessen Mythisierung im Verlauf des 16. Jahrhunderts noch im Schatten von Michelangelo und Raphael verblieb und erst von späteren Generationen vorangetrieben wurde. Seine Zeitgenossen warfen ihm die Unfähigkeit vor, irgendetwas zu Ende zu führen. Aber Leonardos Größe bestand gerade in dem für die Renaissance so charakteristischen Versuch, geltende Grenzen überschreiten zu wollen, wie seine naturwissenschaftlichen Studien und technischen Konstruktionen zeigen. Da sich der Künstler wiederholt in die Abhängigkeiten seiner Gönner und Dienstherren begeben musste, so auch 1502 zu Cesare Borgia, sind die Facetten seines Mythos immer auch im Spiegel der Zeit zu sehen.
Wie VOLKER REINHARDT an den Figuren des Rodrigo Borgia, dem späteren Papst Alexander VI., seinem Sohn Cesare und seiner Tochter Lucrezia veranschaulicht, stellen die Borgias als unheilige Trinität den Wert der Familie über den Wert des Individuums im Sinne Jacob Burckhardts. Wie Gott selbst wollen sie an der Spitze der Kirche gebieten und schrecken dabei vor keinem Mittel zurück, wie der Untertitel des Beitrages „Gift in marmornen Särgen“ verheißt. Rom, oft als Wiege der Renaissance bezeichnet, wird zum Schauplatz des Verbrechens, wobei die Borgias die Umkehrung der gottgewollten Ordnung geradezu zelebrierten. Der Mythos macht, so Reinhardt, ihre Machtausübung zum „nachtschwarzen Karneval“.
Die heiteren Seiten der italienischen Renaissance schildert Javier Gómez-Montero in der Interpretation des Mythos um den Ritter Orlando, dessen Abenteuer als Roland, Orlando oder Roldán vom 11. bis ins 16. Jahrhundert tradiert wurden und zum Bestandteil eines europäischen Imaginariums wurden. Im späten 15. Jahrhundert schufen Luigi Pulci und Matteo Maria Boiardo in Florenz und Ferrara als Auftragswerke literarische Bearbeitungen des karolingischen Stoffes um Roland, von denen insbesondere Boiardos Fassung geradezu revolutionäre Züge zeigt. Im Orlando furioso schreibt Ludovico Ariosto am Mythos Orlando weiter und lässt den fortschreitenden Wahnsinn des Helden als Steigerung des Liebeswahns und damit als Verstärkung der Identitätsproblematik erscheinen. Die Popularität der Figur liegt in ihrer Wandelbarkeit, die in ganz Europa die Zuhörer in ihren Bann zieht.
Als Projektionsflächen unterschiedlicher Imaginationen sind auch die Geschichten von Melusinen, Undinen und anderen Feen, die sich mit sterblichen Männern verbinden, zu erklären, wie BEATE KELLNER am...