EINLEITUNG
von Almut Schneider
Der vorliegende Band widmet sich der Übergangszeit vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit und damit der Zeit von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis nach 1500. Die Grenzen dieser Epoche – wenn sie sich mit der Vielfalt und Vielschichtigkeit ihrer Strömungen und Entwicklungen als eine solche überhaupt bezeichnen lässt – sind unscharf: Altes und Neues, Tradition und Innovation befinden sich auch hier im steten Nebeneinander. Am Beginn der Zeitspanne steht in Deutschland – nach dem Ende der Stauferzeit – das Interregnum als eine Phase, in der es nach dem Tod Friedrichs II. zwar etliche Könige gibt, doch keinen, der Frieden und Recht im Reich sichern kann. An ihrem Ende finden sich vielfältige Faktoren, die den Übergang zur Neuzeit einleiten: Buchdruck, Humanismus, Reformation und Renaissance sind nur einige Stichworte, die diesen Übergang markieren. So ist statt von einer Epochengrenze eher von einer allmählichen Ablösung vom Mittelalter zu sprechen, die sich in den Ländern Europas in unterschiedlicher Weise vollzieht. Dennoch lassen sich Charakteristika dieses Zeitraums skizzieren, die ihren Niederschlag auch in der Gestaltung von Schlüsselfiguren finden. Das Epochengefühl des Spätmittelalters ist das der Krise. Grund dafür sind insbesondere wirtschaftliche und soziale Faktoren: Pestwellen und Hungersnöte prägen das 14. und 15. Jahrhundert, auch als Folge klimatischer Veränderungen. Die Allgegenwart des Todes, der den Einzelnen mitten aus dem Leben reißt, ist unübersehbar und provoziert die Frage nach eigener Schuld und Sündhaftigkeit – und damit auch nach dem Bösen in der Welt, personifiziert in der Figur Satans.
Ein wachsendes Anschauungs- und Konkretionsbedürfnis lässt gerade diese Figuren Gestalt gewinnen. Hatte die verbindliche Erwartung der bevorstehenden Endzeit noch die Imagination Friedrichs II. als Antichrist oder Friedenskaiser und damit als Vorboten der Apokalypse bestimmt, so schwindet im Spätmittelalter diese Endzeitgewissheit. Weltangst und Lebensbejahung stehen unmittelbar nebeneinander. Zentrales Kennzeichen ist das Brüchigwerden der Ordnungsmuster. Die verworfene, heilsbedürftige Welt ist zum einen in Fortuna verkörpert, als der doppelgesichtigen Macht der Wechselfälle, zum anderen findet die Hoffnung auf Erlösung Ausdruck in der Imagination des heiligen Georg als einer überlieferten, in Beatrice als einer neu entworfenen Figur. Die zunehmende politische und wirtschaftliche Selbständigkeit der Städte fördert neben dem Ideal der Unabhängigkeit und Selbstregulierung auch eine soziale Utopie der Gleichheit mit der Hoffnung auf gerechte Lebensbedingungen. Robin Hood gehört in diesen Kontext ebenso wie Jeanne d’Arc, die verdeutlicht, dass in den Prophetien des ausgehenden Mittelalters Hoffnung nicht länger auf dem Friedensfürsten ruht, sondern auf dem Volk selbst. Damit rückt der Einzelne in den Blick, wie dies auch im Zuge wachsender Innerlichkeit und Laienfrömmigkeit geschieht: die persönliche Erfahrbarkeit des Heilsgeschehens prägt die Darstellung der Weihnachtsszene wie auch die Gestaltung von Dantes Beatrice.
Das Bild Friedrichs II., so zeigt WOLFGANG STÜRNER, war über die Jahrhunderte hinweg einer weitreichenden Mythisierung ausgesetzt. Schon zu Lebzeiten wird der Stauferkaiser, der ein modernes Staatswesen in Sizilien gründet, zugleich aber in eine bittere machtpolitische Auseinandersetzung mit der Kirche gerät, in der Spannung von Reformkaiser und Antichrist gesehen. Die Auslegungen antiker wie auch zeitgenössischer Weissagungen, besonders der Sibyllen und Joachims von Fiore, begreifen ihn als ein Werkzeug der Apokalypse, und so erscheint er – in übersteigerter Umdeutung zum Positiven wie zum Negativen – als Retter und Satans-Imago zugleich. Die heilsgeschichtliche Deutung Friedrichs als Kirchenverfolger und apokalyptisches Untier entfaltet seine Wirkung auch über seinen Tod hinaus und findet Eingang in die mittelalterliche Geschichtsschreibung. Doch nicht allein die endzeitlichen Erwartungen des 13. Jahrhunderts, auch die Hoffnungen auf ein erneutes Aufblühen staufischen Glanzes knüpfen sich an die Vorstellung seines Weiterlebens. Die Hoffnung auf seine Wiederkehr zeigt ihre Spuren bis in die Bauernkriege hinein. So spiegeln sich in der Vielfalt der Bilder insbesondere die Sehnsüchte und Erwartungen der Menschen nach gerechter, friedlicher und glanzvoller Herrschaft.
Timur der Schreckliche war dem europäischen Mittelalter weit bekannter als heute. Durch seinen Sieg über die Türken, mit dem er die Stadt Konstantinopel damals vor der Eroberung durch die Heiden bewahrt hatte, erschien er – so führt FELICITAS SCHMIEDER aus – zunächst als Retter Europas und blieb als der Feldherr im Gedächtnis, der die bedrohliche türkische Macht hatte schlagen können. War er um 1380 aufgebrochen, um das Reich Dschingis Khans wiederzuerrichten, so wurden seine Eroberungen im europäischen Raum genauestens wahrgenommen, vor allem durch Mönche, Kaufleute und Gesandte, die seine politischen Aktivitäten zeitnah dem europäischen Raum vermittelten. Seine Feindschaft gegen die Türken ließ in Europa die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit, ein Bündnis gegen die türkische Gefahr keimen – trotz des Wissens um Timurs Rücksichtslosigkeit auch gegen Christen. So wird Timur in Europa zu einem Faktor im politischen Kalkül, sein Einfluss jedoch ist durch seinen frühen Tod begrenzt. Was bleibt, sind seine Mythisierung als Held und die Berichte von seiner Grausamkeit. Die Vorstellung seiner unerreichbaren kriegerischen Gewalt formte das Bild des prachtvoll-orientalischen und zugleich grausamen sarazenischen Tyrannen, das in der kollektiven Erinnerung Europas bis ins 18. Jahrhundert in Literatur und Legende weitergetragen wurde.
Als eine positive Identifikationsfigur hingegen tritt uns der heilige Georg entgegen, der als Staatssymbol nicht allein in der Frühen Neuzeit, sondern bis in die Gegenwart hinein fungiert. Die zentralen Motive des Heiligenkultes, die Bedeutung Georgs als Nothelfer, Adels- und Militärpatron, führt WOLFGANG HAUBRICHS auf seine legendarischen Ursprünge zurück: Zugrunde liegt ihnen ein Märtyrerroman des vierten nachchristlichen Jahrhunderts, in dem Georg als Bekenner des christlichen Glaubens, von unvorstellbaren Martern mehrfach zum Leben erweckt, zuletzt Gott um die Gnade bittet, als Nothelfer wirken zu dürfen. Als ‚Heiliger der vielen Todesarten‘ verkörpert Georg die Hoffnung christlicher Vitalität und Auferstehung. Seine Charakterisierung als adliger Krieger gründet in spätantiker Überlieferung, ihren Durchbruch erreicht sie jedoch mit den Kreuzzügen und der Darstellung Georgs als des überirdischen Schlachtenhelfers an der Spitze der christlichen Ritterschaft. Als ein solcher findet er im höfischen Erzählen Gestalt, wird aber auch etwa von Maximilian I. in die eigene Genealogie aufgenommen. Zum – in der bildenden Kunst vielfach dargestellten – Drachentöter hingegen wird Georg erst im Mittelalter, sein Banner führen Fürsten und Städte in ihrem eigenen Kampf gegen das Böse und auch zahlreiche Ritterorden unterstellen sich seinem Patronat: dem Ritter, dessen überirdische Taten sich der Gnade Gottes verdanken.
Einen vergleichbaren Fall göttlicher Begnadung führt SABINE TANZ mit Jeanne d’Arc vor, einer historischen Figur, die jedoch wie kaum eine andere schon zu ihren Lebzeiten untrennbar mit Mythisierung verbunden wurde: Sie lässt sich als ein Beispiel dafür anführen, in welcher Weise Mythen legitimierend und identitätsstiftend wirken können, wie Hoffnungsaspekt und Zukunftsdimension ihre Gestalt bestimmen. So wird die ‚Jungfrau von Orleans‘ in kaum vergleichbarer Weise zu einem Freiheitssymbol nicht nur ihrer eigenen Zeit. Ihr Auftreten in Frankreich während des Hundertjährigen Krieges fällt in eine Zeit tiefer Krise und Erschütterung, als das französische Königreich an England verloren scheint. Die weit verbreitete Hoffnung auf ein göttliches Wunder findet Ausdruck in zahlreichen Weissagungen, in deren Gefolge Johannas Visionen wie auch deren Bewertung stehen: Nicht eine Glaubensfrage, sondern politisches Kalkül ist es, das den französischen Königshof dazu bringt, die messianischen Prophezeiungen von der Jungfrau als Retterin zu verbreiten, deren erfolgreiches Erscheinen dann auch literarisch glorifiziert und mystifiziert wurde.
Die Hoffnung auf gerechte Herrschaft prägt, wie schon bei Friedrich II., auch den Mythos um Robin Hood, den geächteten und anarchischen Räuber, der den Armen gibt, den Reichen nimmt und der in fast unveränderter Gestalt bis in die Gegenwart des Hollywoodfilms verzaubert und provoziert. Historische Ursprünge dieser Figur allerdings sind kaum zu greifen. Vor allem Balladen, aber auch Komödien, Tragödien und Romanzen sind es, die seit dem 14. Jahrhundert in England seine Taten in immer neuen Varianten besingen und ihren Niederschlag auch in den Chroniken ihrer Zeit finden. Sie entwerfen ein vielschichtiges, keineswegs konsistentes Bild ihres Helden, wie GÜNTHER BLAICHER zeigt. Dramatische Fassungen verweisen auf volkstümliches Brauchtum und zeugen von der...