Einleitung
Des Menschen Gemüt
ist sein Geschick.
Herodot
Die Grundlagen der Menschenkenntnis sind derart, dass sie allzu viel Überhebung und Stolz nicht zulassen. Im Gegenteil, wahre Menschenkenntnis muss geeignet sein, eine gewisse Selbstbescheidung eintreten zu lassen, indem sie uns lehrt, dass hier eine ungeheure Aufgabe vorliegt, an der die Menschheit seit den Uranfängen ihrer Kultur arbeitet, ein Werk, das sie bloß nicht zielbewußt und systematisch angegangen hat, so dass man immer nur einzelne große Menschen auftauchen sieht, die über mehr Menschenkenntnis verfügten als der Durchschnitt. Damit berühren wir einen wunden Punkt. Wenn man nämlich die Menschen unvoreingenommen auf ihre Menschenkenntnis hin prüft, so findet man, dass sie meistens versagen. Wir besitzen alle nicht viel Menschenkenntnis. Das hängt mit unserem isolierten Leben zusammen. Nie dürften die Menschen so isoliert gelebt haben wie heutzutage. Schon von Kindheit an haben wir wenig Zusammenhänge. Die Familie isoliert uns. Auch unsere ganze Art des Lebens gestattet uns keinen so intimen Kontakt mit unseren Mitmenschen, wie er zur Entfaltung einer Kunst, wie es Menschenkenntnis ist, unumgänglich notwendig ist. Das sind zwei Momente, die voneinander abhängig sind. Denn wir können wieder den Kontakt mit den anderen Menschen nicht finden, weil sie uns mangels eines besseren Verständnisses allzu lange fremd anmuten.
Die schwerwiegendste Folge dieses Mangels ist die, dass wir in der Behandlung unserer Mitmenschen und im Zusammenleben mit ihnen meist versagen. Es ist eine oft hervorgehobene und empfindliche Tatsache, dass die Menschen aneinander vorübergehen und vorüberreden, den Zusammenschluss nicht finden können, weil sie sich fremd gegenüberstehen, nicht nur im weiteren Rahmen einer Gesellschaft, sondern sogar im engsten Kreis der Familie. Nichts tritt uns öfter entgegen, als Klagen von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, und von Kindern, dass sie von den Eltern nicht verstanden würden. Und doch liegt in den Grundbedingungen des menschlichen Zusammenlebens so viel Zwang, einander zu verstehen, weil unsere gesamte Haltung zum Nebenmenschen davon abhängt. Die Menschen würden viel besser zusammenleben, wenn die Menschenkenntnis größer wäre, weil gewisse störende Formen des Zusammenlebens wegfielen, die heute nur deshalb möglich sind, weil wir einander nicht kennen und so der Gefahr ausgesetzt sind, uns durch Äußerlichkeiten täuschen zu lassen und auf Verstellungen anderer hineinzufallen.
Wir wollen nun erklären, wieso gerade von Seiten der Medizin die Versuche ausgehen, in diesem ungeheuren Gebiet eine Disziplin festzulegen, die sich Menschenkenntnis nennt, und welche Voraussetzungen diese Wissenschaft hat, welche Aufgaben ihr zufallen und welche Ereignisse von ihr erwartet werden können.
Vor allem ist die Nervenheilkunde selbst schon eine Disziplin, welche Menschenkenntnis in dringendster Weise erfordert. Der Nervenarzt ist genötigt, sich so rasch wie möglich einen Einblick in das Seelenleben nervös erkrankter Menschen zu verschaffen. Auf diesem Gebiet der Medizin kann man sich nur dann ein brauchbares Urteil bilden, man ist nur dann imstande, Eingriffe und Kuren vorzunehmen oder vorzuschlagen, wenn man sich darüber klar ist, was in der Seele des Patienten vorgeht. Hier gibt es keine Oberflächlichkeit, hier folgt auf den Irrtum sofort die Strafe und auf das richtige Erfassen zumeist auch der Erfolg. Hier wird also ziemlich strenge und sofortige Prüfung abgehalten. Im gesellschaftlichen Leben darf man sich in der Beurteilung eines Menschen schon eher irren. Auch hier folgt zwar jedesmal die Strafe, doch kann die Reaktion darauf so spät erfolgen, dass wir meist nicht mehr in der Lage sind, die Zusammenhänge zu erfassen und staunend davor stehen, wie ein Irrtum in der Beurteilung eines Menschen vielleicht Jahrzehnte später zu schweren Misserfolgen und Schicksalen geführt hat. Solche Umstände belehren uns immer wieder über die Notwendigkeit und die Pflicht der Gesamtheit Menschenkenntnis zu erwerben und zu vertiefen.
Bei unseren Untersuchungen erkannten wir bald, dass jene seelischen Anomalien, Verwicklungen und Fehlschläge, die man in Krankheitsfällen so oft wahrnimmt, im Grunde genommen, ihrer Struktur nach nichts enthalten, was dem Seelenleben der sog. normalen Menschen fremd wäre. Es sind dieselben Elemente und Voraussetzungen, nur tritt alles krasser und deutlicher hervor und ist leichter erkennbar. Und so gestattet uns der Vorteil dieser Erkenntnisse hier zu lernen und durch Vergleich mit dem normalen Seelenleben Erfahrungen zu sammeln, die uns schließlich ermöglichen auch für normale Verhältnisse ein geschärftes Auge zu bekommen. Es war nicht mehr als Übung, verbunden mit jener Hingabe und Geduld, die jeder Beruf von uns verlangt. Die erste Erkenntnis, die sich uns bot, war die, dass die stärksten Anregungen für den Ausbau des menschlichen Seelenlebens aus der frühesten Kindheit stammen. An sich war das wohl keine besonders verwegene Entdeckung, denn ähnliche Erörterungen finden sich bei Forschern aller Zeiten vor. Das Neue hierbei war aber der Umstand, dass wir die kindlichen Erlebnisse, Eindrücke und Stellungsnahmen, soweit sie noch nachweisbar waren, mit späteren Erscheinungen des Seelenlebens dadurch in einen bindenden Zusammenhang zu bringen suchten, dass wir Erlebnisse der frühesten Kindheit mit späteren Situationen und mit der Haltung des Individuums in seiner späteren Zeit in Vergleich zogen. Und da erwies sich nun als besonders wichtig, dass man Einzelerscheinungen im Seelenleben nie als ein für sich abgeschlossenes Ganzes betrachten dürfe, sondern nur dann für sie ein Verständnis gewinnen konnte, wenn man alle Erscheinungen eines Seelenlebens als Teile eines untrennbaren Ganzen versteht und sodann versucht die Bewegungslinie, die Lebensschablone, den Lebensstil eines Menschen aufzudecken und sich klar zu machen, dass das geheime Ziel der kindlichen Haltung mit dem der Haltung eines Menschen in späteren Jahren identisch ist. Kurz, es zeigte sich in überraschender Klarheit, dass vom Standpunkt der seelischen Bewegung aus keine Veränderungen vor sich gegangen waren, dass sich wohl die äußere Form, die Konkretisierung, die Verbalisierung der seelischen Erscheinungen, das Phänomenale ändern konnte, dass aber die Grundlagen, das Ziel und die Dynamik, alles, was das Seelenleben in der Richtung auf das Ziel hin bewegt, unverändert blieb. Wenn z. B. ein Patient einen ängstlichen Charakter aufwies, immer von Misstrauen erfüllt und bestrebt, sich von den andern abzusondern, so war leicht nachzuweisen, dass ihm dieselben Bewegungen schon im dritten oder vierten Lebensjahre angehaftet hatten, nur in kindlicher Einfachheit und leichter zu durchschauen. Wir haben uns daher zur Regel gemacht das Schwergewicht unserer Aufmerksamkeit immer zuerst in die Kindheit des Patienten zu verlegen. Wir kamen so weit bei einem Menschen vieles aus seiner Kindheit voraussetzen zu können, es zu wissen, ohne dass es uns jemand gesagt hätte. Wir betrachteten das, was wir an ihm sahen, als die Abdrücke seiner ersten Kindheitserlebnisse, die ihm bis in das hohe Alter anhaften. — Und wenn wir andererseits von einem Menschen hören, an welche Begebenheiten aus seiner Kindheit er sich erinnert, so gibt uns das, richtig verstanden, ein Bild davon, was für eine Art Mensch wir vor uns haben. Hierbei benutzen wir auch die weitere Erkenntnis, dass die Menschen so schwer von der Schablone, in die sie in den ersten Lebensjahren hineingewachsen sind, loskommen. Es gibt nur wenig Menschen, die sie abzustreifen vermocht haben, wenn auch das Seelenleben im erwachsenen Alter in anderen Situationen anders in Erscheinung tritt und dadurch einen anderen Eindruck vermittelt. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Änderung der Lebensschablone; das Seelenleben ruht noch immer auf demselben Fundament, der Mensch zeigt die gleiche Bewegungslinie und lässt uns in beiden Altersstufen, in der Kindheit wie im Alter, das gleiche Ziel erraten. Auch deshalb musste das Schwergewicht unserer Aufmerksamkeit in die Kindheit fallen, weil wir erkannten, dass es, wenn wir eine Änderung planen, doch nicht angehe, gleichsam von oben her, all die unzähligen Erlebnisse und Eindrücke eines Menschen abtragen zu wollen, sondern dass wir zuerst seine Schablone finden und aufdecken müßten, aus der uns das Verständnis für seine Eigenart und damit zugleich für seine auffallenden Krankheitserscheinungen erwuchs.
So wurde für uns die Betrachtung des kindlichen Seelenlebens der Angelpunkt unserer Wissenschaft, und das war Erquickung und Belehrung genug. Eine Fülle von Arbeiten war dem Studium dieser ersten Lebensjahre gewidmet. Hier ist ein so ungeheures, noch nicht durchgearbeitetes Material angehäuft, dass noch für lange Zeiten vorgesorgt und jeder in der Lage ist, Neues, Wichtiges und Interessantes zu finden.
Diese Wissenschaft ist uns gleichzeitig ein Mittel Fehlern vorzubeugen; denn eine Wissenschaft, die nur um ihrer selbst willen da wäre, ist die Menschenkenntnis nicht. Auf Grund unserer Erkenntnisse kamen wir ganz von selbst in die Erziehungsarbeit hinein, der wir nun seit Jahren dienen. Erziehungsarbeit ist aber eine Fundgrube für jeden, der Menschenkenntnis als eine wichtige Wissenschaft erkannt hat, der sie erleben und sich erarbeiten will; denn sie ist keine Buchweisheit, sondern will praktisch gelernt sein. Man muss jede Erscheinung im Seelenleben sozusagen miterlebt und in sich aufgenommen, den Menschen durch seine Freuden und Ängste begleitet haben, wie etwa ein guter Maler in die Züge eines Menschen, den er porträtieren will, nur das hineinlegen kann, was...