2 Grundlagen des mentalisierungsbasierten Ansatzes
2.1 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie
Das Mentalisierungskonzept umfasst Aussagen über psychisches Erleben, wie Regulierung von Emotionen, Aspekte von Resilienz und psychischer Gesundheit (Allen & Fonagy, 2009). In der Psychotherapie wird es bei Beziehungsproblemen, in der Erziehungsberatung und bei psychischen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, Depression und Traumafolgen als Erklärungsmodell und Behandlungsoption verstanden (Brockmann & Kirsch, 2010; Bateman & Fonagy, 2012).
Studien zur mentalisierungsbasierten Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen (z. B. mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung) sowie von Patienten mit Beziehungstraumata haben die Wirksamkeit des Ansatzes bestätigt (Allen, Fonagy & Bateman, 2008). Das Mentalisierungskonzept fokussiert auf spezifische Aussagen zur psychischen Wahrnehmung, dem psychischen Erleben und der Regulierung von Gefühlen. Es berücksichtigt Aspekte der Resilienz und Salutogenese (Allen & Fonagy, 2009). In der Psychotherapie ist die Behandlung von schweren chronischen psychischen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, Depression und Traumafolgestörungen ein weiterhin nur schwer lösbares Problem. Insbesondere hier bewährt sich der MBT-Behandlungsansatz (Bateman & Fonagy, 2012). Dabei ist die wissenschaftliche Operationalisierung der Kernfunktionen der Mentalisierungsfähigkeit als Basis für eine evidenzbasierte klinische Versorgungsforschung besonders wichtig geworden, um den MBT-Ansatz zu validieren (z. B. Reflective Functioning; RF-Skala; Fonagy, Target, Steele & Steele, 1998).
Der Anspruch der mentalisierungsbasierten Behandlung von Menschen mit erlittenen Traumata ist es, psychoanalytische, kognitiv-verhaltenstherapeutische und bindungstheoretische Ansätze zu integrieren (Allen, Fonagy & Bateman, 2008). Im Kern besteht die therapeutische Aufgabe darin, trotz traumageschädigtem Gehirn und posttraumatischen Verhaltensstörungen zu mentalisieren. Der Prozess des Mentalisierens steht im Zentrum der Therapie, nicht das traumatische Ereignis ( Abb. 2.1). Das innere Erleben ist die Gefahrenzone, die der Patient zu vermeiden versucht. Die bedeutungsvolle Erarbeitung der eigenen Geschichte angesichts der nicht umkehrbaren traumatischen Erinnerung und der posttraumatischen Affekte, soll – unterstützt durch gezielte Fragen des Therapeuten – zur Expression eines kohärenten Narrativs durch den Patienten führen. Dabei wird, so die neurobiologische Hypothese, die Überflutung basierend auf einer Aktivierung des limbischen Systems durch Kognitionen des Frontalhirns abgelöst. Das bedeutet, dass das therapeutisch unterstützte Einüben von Mentalisierungsprozessen den Patienten in die Lage versetzt, emotional bewegt zu berichten, ohne von seinen Gefühlen überflutet zu werden. Das Ziel ist es, über traumatische Inhalte sprechen zu können, ohne dass die Kohärenz im Mentalisierungsprozess erheblich gestört wird. Mit anderen Worten: Gutes Mentalisieren schützt vor emotionaler Überflutung und damit auch vor Dissoziation, als extreme Ausprägung einer Abspaltung von der Realität. Wirkungsvolle therapeutische Techniken zur mittelbaren Konfrontation mit den Folgen von Traumatisierung, die Patienten in die Lage versetzen, das traumatische Erlebnis zu erinnern und gleichzeitig den Affekt und die Bedeutung im Bewusstsein halten zu können, sind bereits aus der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT nach Linehan) bekannt. Unterstützend kann dabei je nach Qualität und Intensität der Traumatisierung die EMDR-Technik (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zur Behandlung traumatisierter Flüchtlinge eingesetzt werden.
Im Unterschied zur Theory of Mind (ToM), bei der es um die kognitive Zuschreibung und Antizipation von mentalen Zustanden geht, liegt beim Mentalisieren der Fokus auf dem affektiven und bindungsrelevanten Zusammenhang. Die Zuschreibung mentaler Zustände beurteilt dabei, inwiefern diese emotional besetzt und in dieser Besetzung bedeutsam sind. Im Gegensatz zur ToM, deren Schwerpunkt auf einer kognitiven Fähigkeit liegt, ist das Mentalisieren nach Fonagy & Luyten (2009) als multidimensionaler Prozess zu verstehen, der sich zusammensetzt aus kognitiven und affektiven, inneren und äußeren sowie impliziten und expliziten Aspekten (Hypothese der 4 Polaritäten).
Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit
Nach Fonagy, Gergely, Jurist & Target (2004) entwickelt sich die Mentalisierungsfähigkeit über vier verschiedene Stufen.
1. Teleologischer Modus: Mentale Zustände wie Bedürfnisse und Emotionen werden vor allem in körperbasierten Handlungen zum Ausdruck gebracht, weil nur die sichtbaren Aktionen und ihre (be-) greifbaren Folgen zählen. Worte und Vorstellungen entbehren dieses Realitätscharakters und werden nicht schwerpunktmäßig genutzt, um Realität zu schaffen und zu beeinflussen.
2. Äquivalenzmodus: Kinder verfügen anfangs noch nicht über die Fähigkeit, die eigene innere Realität als getrennt von der äußeren wahrzunehmen. Das eigene subjektive Erleben wird als »psychische Äquivalenz« mit der äußeren Realität gleichgesetzt. Oft wird die Wahrnehmung »angepasst«, damit Innen und Außen übereinstimmen.
3. Als-ob-Modus: Im Spiel weiß das Kind, dass sein inneres Erleben nicht der äußeren Realität entspricht. Es erlebt eine getrennte, nicht interagierende Koexistenz von eigener Wahrnehmung und Außenwelt.
Abb. 2.1: Der therapeutische Mentalisierungsprozess
4. Reflexionsmodus: Die Entwicklung des Selbst kann als interpersonaler Prozess verstanden werden, der sich in der Interaktion zwischen der eigenen inneren Welt und der der anderen abspielt. Die psychische Entwicklung des Kindes ist im ersten Lebensjahr vom Äquivalenzmodus und der markierten Affektspiegelung abhängig, ab dem zweiten Lebensjahr steht der Als-ob-Modus im Vordergund. Ab dem 4. Lebensjahr beginnt das Kind, die beiden Prozesse zu integrieren und einen Reflexionsmodus zu entwickeln, den Beginn der Mentalisierung.
Von zentraler Bedeutung für diese Entwicklung ist das Spiel (Schulz-Venrath, 2013) mit den primären und sekundären Bezugspersonen. Im Spiel lernt das Kind, die innere und äußere Realität zu unterscheiden und zu integrieren, indem es sich im Denken und Fühlen seiner Bezugsperson repräsentiert und lernt, seine eigenen Befindlichkeiten in einer haltgebenden Umgebung ohne existentielle Bedrohung wahrzunehmen. Es erkundet und verarbeitet die Welt. Als-ob-Repräsentation und Realität können unterschieden werden: der Mensch versteht, dass die äußere Realität nicht vom eigenen mentalen Zustand beeinflusst wird. Gedanken und Wünsche sind nicht mit äußeren Handlungen gleichzusetzen. Die Bezugsperson nimmt die spielerischen Fantasien und Gedanken des Kindes auf und grenzt sie von der äußeren Realität ab, so dass für das Kind das Prinzip affektregulierender Funktionen (Containment; Bion, 1970) in der Beziehung erlebbar wird. Dabei fördert eine sichere Bindung die Mentalisierungsfähigkeit, während eine unsichere Bindung und traumatische Erlebnisse die Mentalisierungsprozesse beeinträchtigen. Als Abwehr innerer Konflikte kann dann ein Rückzug aus der Welt des Mentalen stattfinden, der mentale Zustände bei sich und anderen verleugnet. Dies zeigt sich in konkretistischen und schematischen Zuschreibungen innerer Prozesse. So wird einerseits der Zusammenbruch psychischen Funktionierens nach einer Traumatisierung verhindert, andererseits bilden sich keine reiferen und komplexeren Mentalisierungsprozesse aus, die den Betroffenen bei der Verarbeitung des Traumas unterstützen können. Die Folge ist eine instabile, brüchige, partiell eingeschränkte und zersplitterte Mentalisierungsfähigkeit.
Psychische Krankheit kann dann definiert sein als generell eingeschränkte Mentalisierungsfähigkeit (z. B. bei Störungen des Autismusspektrums) oder als verzerrte (fehlgedeutete) Mentalisierungsprozesse (z. B. aggressive oder antisoziale Verhaltensstörungen). Neben einer solchen persönlichkeitsstrukturellen Beeinträchtigung kann der Reflexionsmodus auch durch ein starkes emotionales Arousal gestört werden. Der jeweilige Reifegrad der Mentalisierungsfähigkeit ist nicht störungsspezifisch zu verstehen, sondern er ist von kontextabhängigen...