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E-Book

Die Komplextheorie

Ihre Weiterentwicklungen und Anwendungen in der Psychotherapie

AutorGustav Bovensiepen
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl151 Seiten
ISBN9783170301085
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Einen 'Mutterkomplex' oder einen 'Neidkomplex' zu haben, ist als psychologische Zuschreibung inzwischen in der Umgangssprache gebräuchlich geworden. Komplexe sind lebendige innere Teilstrukturen der Psyche, die sich aus der zwischenmenschlichen, emotionalen Erfahrung von Beginn des Lebens an entwickeln. C. G. Jung betrachtete die Komplexe als die Architekten der Träume. Komplexe werden heute als autonome Teilpsychen oder Teilpersönlichkeiten angesehen, die untereinander vernetzt sind, und so das Erleben und das Verhalten beeinflussen. Zahlreiche Fallbeispiele aus der Psychotherapie von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern illustrieren die Ausführungen.

Dr. med. Gustav Bovensiepen arbeitet als niedergelassener Psychoanalytiker in Köln. Er ist Lehranalytiker der DGAP, Lehr-und Kontrollanalytiker am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie im Rheinland e.V., Köln, DGPT und Leiter von Supervisionsgruppen. Er hat zahlreiche Publikationen mit Schwerpunkt zur analytischen Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen und zu behandlungstechnischen Fragen analytischer Psychotherapie verfasst.

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Leseprobe

1          Jungs Modell der Psyche und die Komplextheorie


 

 

 

1.1       Was ist ein Komplex nach Jung?


Der Gebrauch des Begriffes Komplex als laienpsychologische Zuschreibung, manchmal auch abwertend oder pseudopsychologisch, ist schon länger in der Alltagssprache angekommen: »Er hat einen Mutter-Komplex« oder »Sie hat einen Vater-Komplex«, wenn wir damit ausdrücken wollen, dass jemand mit seinen Elternfiguren auf nicht mehr altersgemäße oder auf neurotische Weise verwickelt oder identifiziert ist. Oder wir sprechen von Neidkomplex, Machtkomplex oder Minderwertigkeitskomplex, wenn diese Motive und Affekte für jedermann ersichtlich im Vordergrund stehen.

Jung entwickelte das Konzept der Komplexe im Laufe seiner experimentalpsychologischen Arbeiten an den Assoziationstudien zwischen 1904 und 1911. Samuels, Shorter & Plaut (1989) definieren den Komplex als eine »Sammlung von Bildern und Vorstellungen, die um einen Kern gruppiert sind, der sich aus einem oder mehreren Archetypen ableitet; sie sind durch eine gemeinsame emotionale Tönung charakterisiert. Wenn sie ins Spiel kommen (›konstelliert werden‹), tragen die Komplexe zum Verhalten bei und sind – ganz gleich ob man sich ihrer bewusst ist oder nicht – durch das Auftreten eines Affekts gekennzeichnet.« (S. 124).

Jung hielt sein Konzept der Komplexe für so bedeutsam, dass er zeitweise in Erwägung zog, seine psychoanalytische Theorie als Komplexe Psychologie zu bezeichnen. In seiner großen Arbeit »Über die Psychologie der Dementia praecox: Ein Versuch« 1907 (1907/1971, GW Bd. 3) entwickelte Jung seine wesentlichen Ideen zur Komplexlehre, die als klinisches Konzept als eine Art von jungianischer Neurosenlehre verstanden werden kann. Für S. Freud waren zu jener Zeit die experimentalpsychologischen Arbeiten von Jung sehr wichtig ( Kap. 2), bestätigten sie doch sein Konzept des Unbewussten und ließen ihn hoffen, dass seine Gedanken in der damals führenden akademischen Psychiatrie (E. Bleuler am »Burghölzli« in Zürich) jene Anerkennung erfuhren, die ihm in Wien versagt wurde. Jung sah die zentrale klinische Bedeutung der Komplexe in der Psychologie der Affekte:

»Die wesentliche Grundlage unserer Persönlichkeit ist die Affektivität. Denken und Handeln ist sozusagen bloß Symptom der Affektivität. Die Elemente des psychischen Lebens, Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle sind dem Bewußtsein in Form gewisser Einheiten [Hervorhebung d. Autors] gegeben, die man etwa, um eine Analogie zur Chemie zu wagen, dem Molekül vergleichen kann.« (Jung, 1907/1971, GW Bd. 3, § 78)

Hier klingt bereits an, dass Jung, der als einer der ersten Psychiater ein psychologisches Verständnis und eine Psychotherapie der Schizophrenie versucht hatte, ein für die heutigen Verhältnisse sehr modernes Verständnis der zentralen Rolle der Affekte für die Persönlichkeitsentwicklung vertrat.

Um die große theoretische und klinische Bedeutung der Komplexe und die Modernität der Komplextheorie einschätzen und verstehen zu können, muss zunächst Jungs Konzept der Psyche betrachtete werden. Jung entwickelte sein Modell der Psyche vor allem aufgrund seiner klinischen Arbeit mit psychotischen Patienten. Daraus entstand eine von Freuds Modell grundsätzlich verschiedene Auffassung über den Aufbau der Psyche.1

1.2       Das Modell der Psyche von C. G. Jung


Jungs Modell der Psyche unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Psychoanalyse. Es umfasst die »Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, der bewussten sowohl wie der unbewussten« (Jung, 1921/1971, GW Bd. 6, § 877). Als »Dimension des menschlichen Seins« ist für Jung die »psychische Wirklichkeit« (Jung, 1929/1971, GW Bd. 16, § 111) neben dem geistigen und dem biologischen Bereich ein eigenständiger Bereich. Jung spricht von der autonomen Psyche, sieht sie aber in beständiger Wechselbeziehung zur biologischen und zur geistigen Dimension. Dies hat der englische Jungianer A. Samuels, (1994) als die Pluralität der Psyche bezeichnet. Die Wandlungs- oder Veränderungsdynamik der Psyche sieht Jung in einer die intrapsychischen Gegensätze verbindenden Energie und in einer transformativen Kraft dieser Energie, die sich z. B. in Symbolen, aber eben auch in Symptomen oder psychischen Erkrankungen manifestieren kann. Dass sein Aufsatz »Die Transzendente Funktion« (1958/1971, GW Bd. 8) zwar 1916 entstanden war, er ihn aber erst 1958 publizierte, zeigt, wie vorsichtig Jung mit dieser so wichtigen Annahme eines transformativen Faktors in der Psyche umging. Jungs Modell der Psyche ist ein holistisches, ganzheitliches Modell der Auffassung von Wirklichkeit. Aus der Auffassung einer ganzheitlichen und pluralen Natur der Psyche kann Jungs Annahme eines nicht nur persönlichen, sondern auch eines kollektiven Unbewussten hergeleitet werden. Für Jung ist das Unbewusste die Hauptquelle schöpferischen Potenzials, es hat eine final-prospektive Tendenz und steht in einer kompensatorischen Beziehung zum Bewusstsein. Die Herstellung einer durchlässigen Wechselbeziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten (vgl. Jung, 1916/1971, GW Bd. 7) ist einerseits Ziel des psychotherapeutischen Prozesses und andererseits allgemeines Ziel eines lebenslangen, persönlichen Entwicklungsprozesses des Selbst, den Jung später als Individuation bezeichnet hat. Im Unterschied zur (psychoanalytischen) ichpsychologischen Auffassung des Selbst (vgl. Selbst-Objekt-Differenz) versteht Jung das Selbst als den zentralen, die Gesamtpsyche umfassenden Motor einer Entwicklungsdynamik, das in seiner Entfaltung (Individuation) über alle Lebensphasen bis ins Alter aktiv sein kann.

Eine umfassende, aktuelle und kritische Würdigung von Jungs Konzept des Selbst im Kontext von Subjektivität und Intersubjektivität hat Roman Lesmeister (2009) publiziert. Lesmeister (S. 266 ff.) zeigt, dass Jung bereits sehr früh von einem bereitliegenden Entwicklungspotenzial (Lesmeister nennt es »primordiale Matrix«) zur individuellen Entwicklung ausging, das Jungs Konzept des Selbst zugrunde liegt. Im Hinblick auf das Ziel des psychotherapeutischen Prozesses formuliert Lesmeister: »Der Andere (Patient) erzeugt durch seine Einwirkung auf mich (Therapeut) in meinem psychischen System einen Abdruck seines Selbst beziehungsweise bestimmte Aspekte seines Selbst. Dieser Abdruck ist zugleich die Wirkung, von der Jung spricht, und in diesem Abdruck drückt sich das individuelle Sein des Patienten aus. Nur dies ist die genuine Form, in der sich das Lebendig-Individuelle des Anderen mitteilt«. (S. 272).

In meinem Verständnis beschreibt Lesmeister, wie sich aus diesem Konzept ein modernes Verständnis von Psychotherapie ableiten läßt, das ich auch teile: Es ist weniger die Deutung als mutative Intervention das Ziel der Psychotherapie, sondern die Art und Weise wie Therapeuten in der Lage sind, den Patienten einen inneren Raum zur Verfügung zu stellen, in den sich Teile der Psyche der Patienten einnisten können. Aus meiner Sicht wird dieser Aspekt psychotherapeutischer Arbeit nach wie vor zu wenig gewürdigt und untersucht, da ihm m. E. außerordentlich subtile Formen des Gegenwiderstandes des Therapeuten zugrunde liegen, die nicht allein durch bestimmte Übertragungs-/Gegenübertragungs-Konstellationen erkennbar sind (vgl. Bovensiepen, 2014). Wie viele seiner psychologischen Modelle, ist auch Jungs Konzept des Selbst in sich paradox: Das Selbst als das Zentrum der Persönlichkeit wird gleichzeitig als die umfassende Gesamtpersönlichkeit gesehen. Die zentrierende und anordnende Funktion des Selbst beeinflusst die Dynamik und das Zusammenspiel der Komplexe. Die basalen Strukturelemente der Psyche, ihre Bausteine, die Einheiten (Jung) sind in Jungs Auffassung die gefühlsbetonten Komplexe mit ihrem archetypischen Kern, welche die interpersonalen Erfahrungen von Geburt an intrapsychisch organisieren und psychosomatisch speichern. Psychosomatisch speichern deswegen, da Komplexe immer als psychisch und körperlich verwurzelt gedacht werden und vermutlich eine enge Verbindung zum Körpergedächtnis haben.

Zieht man die von Jung nachdrücklich betonte natürliche (nicht pathologische) Dissoziabilität (Spaltfähigkeit) der Psyche in Betracht, so kann man sagen, dass das Modell der Psyche bei Jung kein hierarchisches, vertikal strukturiertes ist, wie etwa das der psychoanalytischen Strukturtheorie (Über-Ich/Ich/Es bzw. Unbewusste). Vielmehr handelt es sich um ein sich selbst organisierendes System von psychischer Energie, die sich u. a. in...

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