1 Einleitung: Napoleon III., das Stiefkind der Geschichtsschreibung
Wer im heutigen Paris nach dem Namen Napoleons III. Ausschau hält, der wird lange suchen müssen. Zwar stammen die meisten der Boulevards, der Plätze und ein Großteil der Gebäude, die Paris sein unverwechselbares Gesicht geben, aus seiner Regierungszeit, aber keine Straße trägt seinen Namen. Gewiss, die mächtigen Achsen, die die östliche Stadthälfte durchschneiden, sind entweder nach Siegen benannt, die unter seiner Herrschaft errungen wurden (der Boulevard de Magenta, der Boulevard de Sébastopol), oder sie tragen wie im Falle des Boulevard Haussmann den Namen einer Persönlichkeit, deren Wirken er ermöglicht hat. Allein der Initiator solcher Taten fristet ein Schattendasein im öffentlichen Geschichtsbewusstsein der Franzosen. Nur der wenig anheimelnde Platz vor der Gare du Nord (Nordbahnhof), genau genommen dessen nördliche Hälfte, ist nach ihm benannt. Es gibt kein spezielles Bauwerk, das an ihn erinnert, wie der Invalidendom an Napoleon I. Sein Grab liegt fern von Frankreich in der Saint-Michael’s Abbey in Farnborough in der Nähe Londons, und bis heute sind alle Versuche einer Umbettung seiner Gebeine im Ansatz steckengeblieben. Der Erneuerer von Paris, der wie kein zweiter der Stadt seinen Stempel aufgedrückt hat, scheint ein Paria in der französischen Geschichte zu sein.
Napoleons Nachleben
Für das Ende steht stellvertretend der Name der nordfranzösischen Stadt Sedan, und obwohl dieser Name durch den Sieg der deutschen Wehrmacht zu Beginn des Zweiten Weltkriegs für die Franzosen endgültig zum Synonym der nationalen Katastrophe geworden ist, hat die Wiederholung des Debakels von 1871 durch das Desaster von 1940 die Dimension der ursprünglichen Niederlage nicht verkleinert, sondern in der Rückschau noch vergrößert. Auch dies scheint sein Urheber vorausgeahnt zu haben, wie die letzten Worte des Delirierenden auf dem Sterbebett vermuten lassen: »Du warst in Sedan, Henri? Nicht wahr, wir sind keine Feiglinge gewesen«, soll er seinem Gefährten Dr. Conneau in einem Moment plötzlicher Klarheit zugeflüstert haben1. Napoleon muss gespürt haben, dass der Name »Sedan« sich über seinen Tod hinaus als noch wirkungsmächtiger erweisen würde als das Datum des 2. Dezember 1851, denn dieser Name deklassierte ihn nicht nur in den Augen der Republikaner, sondern aller Franzosen, und heftete ihm vor der Geschichte das Signum des Verlierers an.
Die französische Sicht
Das scheint bis heute so geblieben zu sein. Davon zeugen nicht zuletzt die Darstellungen, die aus dem republikanischen Lager stammen, von Taxile Delords 6-bändiger Histoire du Second Empire2 bis zu den quasi offiziellen Geschichtsdarstellungen von Charles Seignobos3 und Louis Girard4. Gemäßigter waren von Anfang an die Konservativen. Pierre de La Gorce, ein bekennender Katholik, der sein Richteramt unter der Dritten Republik freiwillig aufgab, weil er deren Kirchenpolitik nicht mittragen wollte, hat versucht, dem Zweiten Kaiserreich, das er als Heranwachsender miterlebt hatte, in einer 7-bändigen Darstellung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen5. André Lebey, eine der führenden Gestalten des französischen Freimaurertums, plante ein umfassendes Werk mit dem Titel » Les Coups d’Etat de Louis Bonaparte«, kam aber über die vorbereitenden Bände, die die Staatsstreichversuche von 1836 und 1840 untersuchten, sowie zwei gewichtige Studien zu 1848 und dem ersten Jahr der Präsidentschaft Louis Bonapartes nicht hinaus6.
Die deutsche Sicht
Es ist ein eigenartiges Paradox, dass der negative Blick auf Napoleon III. weitgehend auf Frankreich beschränkt blieb. Wie es scheint, haben die Sieger von 1871, die Deutschen, dem einstigen Gegner rascher verziehen als die Besiegten. In der deutschen Geschichtsschreibung stand die maßvolle Bewertung des zweiten Franzosenkaisers allerdings von Anfang an unter der national gefärbten Einschränkung wohlwollender Überheblichkeit. Man verübelte Napoleon III. seine auf territoriale Kompensationen schielende Einmischung in den innerdeutschen Einigungsprozess, wofür ihm Bismarck in Sedan die verdiente Strafe verpasst hatte. Es ist bezeichnend, dass diese Sehweise nach der deutschen Niederlage von 1918 noch an Schärfe zunahm. Ein seriöser Historiker wie Hermann Oncken verwandte viel Mühe darauf, in einer auf drei Bände angelegten Dokumentensammlung nachzuweisen, dass das Streben Frankreichs nach der Rheingrenze ein durchgehender Zug der Außenpolitik des Kaisers gewesen sei.
Der Fokus veränderte sich wieder nach der »Machtergreifung« Hitlers. Hatten zunächst einige nationalsozialistische Schreiber in dem letzten Kaiser der Franzosen ein Vorbild für die NS-Sozialpolitik zu finden gemeint, so betrachtete ihn die Geschichtsschreibung nach 1945 durchgehend unter der Marx’schen Prämisse, nämlich als den Erfinder des »Bonapartismus«. Entweder indem sie, getreu dem Urheber der These, Marx, in ihm den Büttel der Bourgeoisie zu sehen meinte, oder indem sie sich durch die Marx’sche Analyse zu einer mehr oder weniger kritischen Begutachtung der bonapartistischen Innenpolitik anregen ließ7. Gewissermaßen als literarische Zugabe gesellte sich – im Gefolge der Wiederentdeckung Walter Benjamins und dessen Interpretation Baudelaires – eine Sehweise hinzu, die es der Suhrkamp-Kultur der alten BRD erlaubte, mit einer Mischung aus Faszination und Degout auf die Welt des Zweiten Kaiserreichs zu blicken. Die tragische Entstehungsgeschichte von Benjamins unvollendet gebliebenem Passagen-Werk, in dem er quasi die Summe der Geschichte des 19. Jahrhunderts in der Wandlung der Physiognomie von Paris nachzuzeichnen versuchte, tat ein Übriges. Frankophile Parissehnsucht und deutsche Gründlichkeit durchdrangen sich gegenseitig und gebaren gewichtige Werke, die nichts weniger wollten als Benjamins Projekt zu Ende zu schreiben.
Die einzige Ausnahme in dieser Phalanx deutscher Betrachter, die allesamt der Person Napoleons III. eher abschätzig, seinem Werk freilich nicht ohne Respekt gegenüberstanden, bildete Heinrich Euler, der in den 1950er Jahren zu einer monumentalen Biographie Napoleons III. ansetzte, die leider nicht über den mächtigen Anfangsband hinauskam8. Johannes Willms, der in seiner Biographie von 2002 seine begrenzte Sympathie für Napoleon III. nicht verhehlt, hat Eulers Buch als »seltsam uninspiriert« bezeichnet9. Eine Qualifikation, die insofern zutrifft, als damit die ausufernde Herangehensweise des Autors gemeint ist, der in einer seit Lebey nicht mehr erreichten Akribie die zugänglichen Quellen der französischen Archive durchgemustert hat und damit eine verkappte Geschichte der Zweiten französischen Republik lieferte, die in der Breite der Quellennutzung und in der Überfülle der Details bis heute ihresgleichen sucht. Leider hat aber auch Euler sein Vorhaben einer definitiven Biographie nicht zu Ende führen können. Der von seiner Frau posthum aus dem Manuskript veröffentlichte Band über die eigentlichen Regierungsjahre des Kaisers blieb eine Vorstudie für künftige Arbeiten10.
Die anglo-amerikanische Sicht
In England war das anders. Dort besaß der polyglotte Franzosenkaiser schon zu seinen Lebzeiten eine feste Gemeinde von Bewunderern, und das hat sich bis heute in der Historiographie niedergeschlagen. Frankreichkenner von jenseits des Kanals wie Theodore Zeldin bezeugten ihm eine Anerkennung, bei der sich kritische Distanz mit vorsichtiger Hochachtung paarten11. Besonders die Innenpolitik des späten Kaiserreichs fand gesteigerte Aufmerksamkeit, vielleicht genährt durch das Missverständnis, dass Napoleon III., der für seine Bewunderung britischer Lebensart und politischer Berechenbarkeit bekannt war, angeblich eine Adaption des insularen Parlamentarismus in Frankreich angestrebt hätte. Auch amerikanische Forscher zollten dem autoritären Neuerer, der Napoleon III. war, Respekt12.
Könnte es sein, dass die nachhaltigen Deutungsantriebe von jenseits des Kanals und des Atlantiks schließlich doch in Frankreich Früchte trugen? Oder war es die veränderte Weltlage nach 1989, die die alten Rechts-links-Schemata nachhaltig durcheinanderwarf und auf die Dauer nicht ohne Auswirkung auf die Beurteilung der großen Figuren des 19. Jahrhunderts blieb, ein Phänomen, das sich neuerdings auch für Metternich feststellen lässt? Jedenfalls ist seit 2008, seit dem 200. Geburtstag Napoleons III., in Frankreich eine Neubewertung seiner Person in Gang gekommen, die ihren Niederschlag in zwei umfangreichen Biographien gefunden hat. Davon betritt zwar nur diejenige von Eric Anceau wirklich Neuland, indem sie bisher wenig beachtete Memoiren und Archivalien heranzieht13,...