In eigener Sache – Dispersion
Das Wort »Physik« weckt bei den meisten lediglich Erinnerungen an ein staubiges Klassenzimmer, einen überengagierten kauzigen Lehrer, Experimente, die nie funktionieren, kryptische Formeln, die niemand versteht, und an eine Mischung aus nackter Angst und unendlicher Langeweile. Ich aber denke bei diesem Wort an eine kleine grauhaarige Dame und klebrige Schokoladenbonbons. Das Interesse an Naturwissenschaften im Allgemeinen und an Physik im Besonderen habe ich nämlich meiner Oma zu verdanken. Und das, obwohl die Gute von Naturwissenschaften in etwa so viel Ahnung hatte wie das Krümelmonster von der Ernährungspyramide. Trotzdem ist sie dafür verantwortlich, dass aus mir ein Physiker geworden ist.
Angefangen hat das Ganze auf dem Helenenfriedhof, Feld 13, Reihe 5, Grab 4, in Essen-Altendorf. Hier ruht sie nämlich, Oma Josefine, seit gut einem Vierteljahrhundert unter Stiefmütterchen, zusammen mit meinen Urgroßeltern. Als Oma noch lebte, war ich fast jeden Sonntag bei ihr, habe mit ihr ferngesehen und Storck Riesen gefuttert. Diese kleinen braunen, mit Schokolade getarnten Plombenzieher, die meine Oma trotz eines strikten Süßkram-Verbots ihres Hausarztes in großen Mengen vertilgte. Meine Oma hatte schließlich den Zweiten Weltkrieg überlebt, was sollten da ein paar Bonbons schon groß anrichten?
Nachdem meine Oma das Zeitliche gesegnet hatte, nahm meine Mutter mich häufig mit auf den Friedhof, um sie und meine anderen längst verstorbenen Verwandten zu besuchen und deren Gräber pflichtbewusst, wie es sich für einen guten Katholiken gehört, mit neuen Blumen und Kerzen zu versehen. Meine Mutter hat diesen Akt christlicher Gartenarbeit immer damit begründet, dass Oma, nur weil sie tot sei, noch lange nicht allein im Dunkeln liegen müsse. Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, war es für meine Mutter nicht gerade leicht, einen gameboy- und fernsehverwöhnten Jungen an seinem schulfreien Tag an die frische Luft und dann auch noch auf den Friedhof zu zerren, und ihm das auch noch als Unterhaltung zu verkaufen.
An dieser Stelle kam meiner Mutter der gute deutsche Ordnungszwang zu Hilfe, der selbst vor Gottes heiligem Acker nicht haltmacht: Der Helenenfriedhof ist, wie wohl fast jeder Friedhof in Deutschland, wie am Reißbrett entworfen und fein säuberlich in Felder, Reihen und Gräber aufgeteilt. In dieser Hinsicht ist ein Friedhof ähnlich wie ein Kleingartenverein, nur, dass nicht jeden Samstag gegrillt und der Boden mit den eigenen Angehörigen gedüngt wird. Der Ordnungszwang dieses »Friedhofvereins« hatte zur Folge, dass an den Rändern des Weges an fast jeder Abbiegung und Kreuzung kleine Tafeln mit Zahlen aufgestellt waren, um die Gräber mit ihren entsprechenden Koordinaten zu versehen. An diesen endlosen Sonntagen ohne Grillwurst auf dem Friedhof beschäftigte meine Mutter mich damit, mir die Zahlen auf den Steinen beizubringen, und später dann die Zahlen entlang unseres Weges zu addieren, zu subtrahieren oder zu multiplizieren. Irgendwo habe ich gehört, dass es unter Gedächtniskünstlern eine weitverbreitete Technik ist, sich Zahlenfolgen anhand eines imaginären Weges einzuprägen. Wie dem auch sei, ich habe diesem Umstand auf jeden Fall zu verdanken, dass ich die Grundrechenarten beherrschte, bevor ich meinen eigenen Namen lesen oder schreiben konnte und auch heute noch die Jahreszahlen auf den Grabsteinen addiere, wenn ich über einen Friedhof spaziere.
Durch diese seltsame Verbindung von Tod, frischer Luft und Mathematik ist mir jedenfalls früh klargeworden, dass man etwas Abstraktes am besten lernt, wenn man es mit etwas ganz Alltäglichem oder mit einem Bild in Verbindung bringt, vollkommen egal, wie trostlos, morbide oder unpassend es auch sein mag. Vielleicht war es aber auch einfach nur der Mangel an Alternativen auf dem Friedhof, der die Mathematik für mich in ein anderes Licht tauchte. Wahrscheinlich war es am Ende eine Mischung aus beidem.
Das Fundament meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung hatte meine Mutter also schon früh gegossen, und wie so viele Menschen verbinde ich nun seit frühster Kindheit Mathematik mit Tod und Verderben … nur etwas anders als die meisten. Danke, Mama!
Mathematik ist zwar für ein grundlegendes naturwissenschaftliches Verständnis sehr hilfreich und irgendwann auch nötig, mein Friedhofsflirt mit den Zahlen war allerdings nicht der ausschlaggebende Grund, warum ich bei den Naturwissenschaften gelandet bin. In die Arme der Physik getrieben hat mich ein magischer Moment. Wie schon gesagt, ist meine Oma an allem schuld oder genauer gesagt, die schicke neue Grablampe, die wir ihr irgendwann kauften, damit sie, wie meine Mutter immer wieder betonte, auch nachts nicht im Dunkeln liegen müsse. Es handelte sich dabei um eines dieser Standardmodelle aus Bronze, die so klangvolle Namen wie »Grablaterne Avila« oder »Leuchte Ewiges Licht« tragen. Auf einem Steinsockel ruhend, mit kleinen Glasscheiben an allen vier Seitenwänden, einer quietschenden Tür und Verzierungen, die entweder von einer katholischen Kindergartengruppe entworfen oder von einem von Arbeitslosigkeit bedrohten Designstudenten unter Protest angefertigt worden waren. Das Besondere an der Lampe meiner Oma war nicht ihr Name oder das Material, es war die Form der Glasscheiben. Um die Lampe noch schöner und dabei nur ein wenig kitschiger wirken zu lassen, waren die rechteckigen Scheiben an den Kanten jeder Seite in einem etwa 60-Grad-Winkel angeschliffen worden. Der Marketingleiter für Friedhofsequipment hatte das dann mit dem Wort »facettiert« umschrieben. Man kann sich die Form in etwa so vorstellen wie ein Stück Toblerone, auf halber Höhe abgebissen und dann auf die Seite gelegt. Etwas vergrößert sieht ein Ausschnitt in der Seitenansicht so aus:
Die Grablampe meiner lieben Oma Josefine, der ich meinen beruflichen Werdegang zu verdanken habe. Rechts in der Vergrößerung seht ihr den »facettierten« Schliff der Seitenscheiben.
Dieser simple Modeschliff, der wahrscheinlich der letzte Akt der Rebellion des verzweifelten Designstudenten gewesen ist, hatte weitreichende Folgen für den Rest meines Lebens …
An einem winterlichen Sonntagmorgen war ich wieder mit meiner Mutter auf dem Weg zum Grab meiner Oma, um neue Blumen zu pflanzen und den Drei-Tage-Brenner (auch wenn es sich so anhört, ist das keine Geschlechtskrankheit, sondern eine besondere Art von Friedhofskerze) in der Grablampe auszutauschen. Als ich wie üblich mehr oder weniger fröhlich vor mich hin addierend und multiplizierend durch die Reihen aus Tod und Verfall tanzte, bemerkte ich plötzlich, dass das Grab meiner Oma an diesem Morgen irgendwie anders aussah als sonst. Die winterliche Sonne hatte es in ein wahres Farbenmeer getaucht. Ausgehend von der neuen Lampe, ergoss sich ein Regenbogen über die alten, leicht welken Blumen und verlieh der sonst recht trostlos wirkenden Szenerie einen bunten Anstrich. Ich hatte damals nicht den Hauch einer Ahnung, was da genau vor sich ging, aber die Erklärung meiner Mutter, »den Regenbogen hat der liebe Gott gemacht, weil Oma sich freut, dass wir sie besuchen«, klang für mich, nach zehn Jahren katholischer Erziehung, durchaus plausibel. Auch wenn ich nach wie vor die Vorstellung, dass der liebe Gott den Regenbogen auf das Grab gezaubert hat, sehr mag, hege ich inzwischen doch berechtigte Zweifel an dieser Version der Geschichte. Für deutlich wahrscheinlicher halte ich es heute, dass einzelne Anteile des Lichts aufgrund der Dispersion der Phasengeschwindigkeit im angeschliffenen Glas der Grablampe unterschiedlich stark gebrochen wurden, wodurch es je nach Winkel in seine spektralen Anteile zerlegt wurde. Zugegeben, nicht nur für einen Zehnjährigen klingt die Version mit Gott und dem Regenbogen deutlich zugänglicher als die Sache mit der Dispersion. Vermeidet man aber die Fachbegriffe und erklärt das Ganze etwas vereinfacht mit anschaulichen Bildern, dann ist die physikalisch wahrscheinlichere Theorie auch nicht viel komplizierter als die Version mit dem gutmütigen Rauschebart im Himmel.
Das Physikstudium liegt am Ende des Regenbogens
Schauen wir uns genauer an, was an diesem magischen Wintermorgen am Grab meiner Oma passiert ist:
Durch die im Winter häufig tiefstehende Sonne traf das Sonnenlicht an diesem Morgen in einem sehr flachen Winkel auf die Grablampe meiner Oma. Die meisten von uns würden das Licht, das von der Sonne kommt, aber als rein weißes Licht beschreiben. Woher kamen aber die Farben, die ich als Kind sah?
Die im ersten Moment wahrscheinlich erstaunliche Wahrheit ist, dass es »weißes« Licht (also Weiß als Farbe) gar nicht gibt. Das, was wir allgemein als weißes Licht wahrnehmen, ist eine Mischung aus verschiedenen Farben. Diese sogenannte additive Farbmischung fällt uns nur nicht auf, weil unser Auge die Überlagerung von blauem, grünem und rotem Licht entsprechender Intensität als Weiß interpretiert. Das könnt ihr nachvollziehen, wenn ihr euch euer Handy- oder Computerdisplay mit einer Lupe anseht: Das, was auf den ersten Blick wie Weiß erscheint, ist nur eine Mischung aus roten, grünen und blauen Pixeln.
Der Grund dafür ist, dass unser Auge nur drei Arten von farbempfindlichen Zellen besitzt. Jede dieser drei Zellarten ist dabei auf einen bestimmten Bereich des sichtbaren Spektrums spezialisiert. Die einen Zellen erkennen am besten Licht aus dem roten Bereich, die anderen aus dem blauen und die letzten aus dem grünen. Werden alle drei Zellarten gleichzeitig mit gewisser Intensität stimuliert und melden ans Gehirn »Hey, Alter, da is was!«, dann macht unser Gehirn daraus die Farbe Weiß.
Das im Malen mit Fingerfarben und Buntstiften geübte Kind wird an...