1 Mein Leben mit Migräne
Einer der schönsten und besten Augenblicke als Mediziner ist es, Menschen bei akuten und chronischen Schmerzen erfolgreich zu behandeln. Wenn man als Notarzt oder zuständiger Dienstarzt im Krankenhaus zu einem Schmerzpatienten gerufen wird, verspürt man sofort eine tiefe innerliche Zufriedenheit, wenn binnen weniger Momente die Schmerzfreiheit hergestellt werden konnte. Der Patient und das Umfeld danken es einem sehr. Aber wie sieht es aus, wenn ein Behandlungsbedürftiger nur eingeschränkt oder gar nicht auf typische Schmerzbehandlungen reagiert? Was bedeutet das für den Arzt, wenn einem der Patient sagt, dass er aufgrund von anderen Begleiterkrankungen beispielsweise keine Schmerzmittel mehr nehmen kann? Oder was ist, wenn die einst gute Wirksamkeit eines Schmerzmittels nach einigen Jahren der Einnahme nicht mehr besteht? Nachdem ich einige Jahre als Notfallmediziner, Narkosearzt und Schmerztherapeut tätig war, verließ ich die Akutmedizin und wurde Assistenzarzt in einer Rehabilitationsklinik für chronisch kranke Patienten. Gerade bei den Migränepatienten wurde ich mit den obigen Fragen konfrontiert. Was kann ich als Arzt für einen Betroffenen tun, bei dem die Standardtherapien keine Verbesserungen bringen und sämtliche Untersuchungen nur Normalwerte zeigen? Die Not meiner Patienten und meine fachliche Neugier trieben mich an, nach Antworten und Lösungen zu suchen.
Ein neuer Migränepatient – Einblicke in die Gedanken eines Arztes
Während Ärzte ihren Patienten Fragen stellen, laufen beim Arzt parallel zum Patientengespräch komplexe Denkprozesse ab. Je nach Fachdisziplin, Art und Dringlichkeit der Situation betrachtet der Arzt die medizinischen Details aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So macht er sich ein Bild des gesundheitlichen Problems und sucht während des Gesprächs nach einer Lösung. Zu den Überlegungen zählen u. a. folgende Fragen: Welche Krankheiten lassen sich vermuten oder ausschließen? Welche Untersuchungen sollten angefordert werden? Welche Therapiekonsequenzen sind abzuleiten?
Das folgende Gespräch zwischen einer Patientin und mir hat tatsächlich stattgefunden. Es soll Ihnen als Einstieg in die Thematik dienen und Ihnen helfen, sich auf die Komplexität der Migräne einzustellen. Meine Gedanken, die ich während des Gesprächs hatte, sind kursiv dargestellt.
Das Anamnesegespräch
Der Monitor meines Computers verriet mir zu meiner neuen Patientin nur wenige Stichwörter meiner Arzthelferin: „Schwere Migräne, hat schon alles ausprobiert, nichts hilft“. Als ich Annika, eine Mittvierzigerin, im Wartezimmer abholte, bemerkte ich bei ihr ein leicht hängendes Augenlid. Gleich nach der Begrüßung fragte ich: „Haben Sie jetzt gerade Migräne?“. „Leider ja, wie jeden zweiten Tag.“, entgegnete mir Annika.
Scheint interessant zu werden. Sie hat jeden zweiten Tag einen Migräneanfall. Der Ort des Schmerzes und ihre ganze Krankengeschichte seit der Kindheit verraten mir sicherlich gleich mehr über die Zusammenhänge.
Im Arztzimmer angekommen, erzählte sie mir ihre Leidensgeschichte. Sie litt seit dem 17. Lebensjahr unter einem linksseitigen Migränekopfschmerz. Der Schmerz tritt seitdem nirgendwo anders am Kopf auf. Sämtliche Untersuchungen beim Neurologen (Fachspezialist für Nervenerkrankungen), bei den Röntgenärzten und in den Kliniken waren ohne Befund. „Sie müssen mit ihrer Migräne leben.“, haben ihr die Ärzte gesagt. Sie kannte jedes Schmerzmittel und nahm seit Jahren jeden zweiten Tag ein sehr starkes Migränemittel. Damit konnte sie den Schmerz nur minimal abdämpfen. „Richtig helfen tut es bei mir nicht.“, berichtete sie mir voll Kummer. Es war das einzige Medikament, das wenigstens etwas helfen konnte. Alle anderen gängigen Schmerzmittel schlugen überhaupt nicht an.
Aha. Wir haben es bei ihr mit einer hormonellen Mitbeteiligung zu tun, weil sie den Schmerz in der Zeit der Hormonumstellung von Kind auf Erwachsene bekommen hat. Außerdem ist ungewöhnlich, dass ihr die starken Schmerztabletten nicht helfen. Erfahrungsgemäß müssten bei ihr noch weitere Diagnosen zu finden sein. Migräne ist Ausdruck einer Organschwäche. Es wäre also interessant, mehr über ihre Organsysteme zu erfahren.
Sie bestätigte mir, dass die Migräne früher alle drei Wochen regelmäßig vor ihrer Periode für einige Tage am Stück auftrat. Seit den Wechseljahren hat sich dieses periodische Auftreten verloren. Dafür ist eine andere Form der Regelmäßigkeit eingetreten: Jeden zweiten Tag hat sie einen Anfall. Die Wechseljahre zogen sich über eine Zeit von ca. sieben Jahren. Sie berichtete über Schwitzattacken, die nur durch die Gabe von hochdosierten Hormonen einigermaßen in den Griff zu bekommen waren.
Das Hormonsystem hat die Umstellung von Kind auf Erwachsene schlecht mitgemacht, deshalb kam die Migräne zum ersten Mal mit 17 Jahren. Wenn die hormonelle Störung so lange anhielt, dann ist es auch kein Wunder, dass der Wechsel so dramatisch verlaufen ist. Sie hat bestimmt immer noch eine Störung im Hormonhaushalt, auch wenn der Wechsel schon stattgefunden hat. Ich werde eine Hormonuntersuchung in Auftrag geben.
Ich fragte nach möglichen migräneauslösenden Lebensfaktoren (Trigger). Erstaunlicherweise konnte Annika mir keine nennen.
Interessant: Sie hat über 30 Jahre Migräne und bisher keinen einzigen Triggerfaktor gefunden. Das könnte ein Hinweis auf eine Beteiligung des Darms sein und außerdem mit einer schlechten Entgiftungsleistung der Leber zu tun haben. Mal sehen…
Annika holte bei meiner Frage nach ihrer Verdauung und der Darmtätigkeit weit aus: Seit mehreren Jahren hätten sie unklare Bauchschmerzen im vorderen Unterbauch geplagt. Diese sind zeitweise so schlimm geworden, dass sie sich hinlegen musste, um den Schmerz über einige Stunden ertragen zu können. Sie hat schon sämtliche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Der einzige Befund, der festgestellt werden konnte, war eine Divertikulose, eine altersbedingte Schwäche des Darmbindegewebes. Die Ärzte sagten allerdings, dass das nicht die Ursache für die Schmerzen sein könne. Annika hatte zudem immer Schmerzen beim Sitzen. Allerdings konnten keine Hämorrhoiden, Bandscheibenvorfälle oder andere Auffälligkeiten in diesem Bereich festgestellt werden.
Aha! Ich hatte Recht mit dem Darm. Er ist wahrscheinlich mittlerweile die Ursache für eine Störung im Leber-Gallenblasensystem, die wiederum den typischen Migräneschmerz an der Kopfseite bewirkt. So steht es in den chinesischen Lehrbüchern. Vielleicht stecken noch Parasiten dahinter. Ich werde mal fragen, ob sie auf dem Land mit vielen Tieren aufgewachsen ist und unter unklaren Schwächeattacken leidet.
Annika bestätigte mir, dass sie unter minutenlangen Schwächeattacken leide. Sie erzählte mir dazu eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Bei einer Heuernte durfte sie mit vielen anderen Kindern auf dem Pferdewagen inmitten des Heuberges nach Hause fahren. Währenddessen hatte sie eine unklare Schwächeattacke, so dass sie als ganz junges Mädchen schon Angst hatte, sie müsse sterben. Nach diesem Ereignis hat sich hohes Fieber entwickelt. Die Ärzte rätselten, was der Auslöser gewesen sein könnte. Man hat ihn nie gefunden. Erst durch die Gabe von starken Medikamenten konnte ihr das Leben gerettet werden. Seitdem wachte sie morgens mit Bauchschmerzen auf. Einige Jahrzehnte später hat sie etwas Ähnliches erlebt: Nach einem Urlaub mit der ganzen Familie hatte sie einen ähnlichen Schwächeanfall. Diesmal entwickelte sich kein Fieber, sondern die ganze Familie hatte über Monate mit unerklärlichen Erstickungsanfällen zu tun. Alle Untersuchungen brachten keine Ergebnisse. Die Familie probierte verschiedene Medikamente aus, die im Wesentlichen keine Verbesserung des Zustands brachten. Alle besuchten mehrere Ärzte und mussten häufiger ins Krankenhaus.
Das könnten tatsächlich Parasiten gewesen sein. Das Aufwachen mit Bauchschmerzen vor dem Frühstück wäre typisch dafür! Das werde ich im Labor testen lassen.
Eigentlich müsste sie dann auch noch eine Schlafstörung haben, falls die Entgiftungsleistung der Leber durch Parasitengifte herabgesetzt ist. Und sie wird sich leicht über Dinge ärgern; das schreiben die chinesischen Ärzte zu den Leberentgiftungsstörungen.
Nachdem ich meinen Verdacht wegen der Parasiten geäußert hatte, erzählte mir Annika, dass schon einmal ein Arzt dies vermutet habe. Die Spur wurde allerdings nicht weiter verfolgt, weil der Arzt plötzlich verstarb und es einige Zeit brauchte, ehe sie einen neuen Arzt gefunden hatte. Überprüft wurde dies also bislang nicht. Annika bestätigte mir, dass sie nachts zwischen ein Uhr und drei Uhr wach liege und keine...