Wenn aus Ausländern Wähler werden: Die ambivalente Rolle der Parteien bei der Repräsentation von Migranten in Deutschland*
Orkan Kösemen
Als am 19. April 2010 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff die Berufung von Aygül Özkan als Ministerin in sein Kabinett bekannt gab, war das Presseecho groß. Özkan war die erste »Person mit Migrationshintergrund« in Deutschland, die den Posten einer Landesministerin erreicht hatte. Die Schlagzeilen »Vom Gastarbeiterkind zur Sozialministerin« und »Das moderne Gesicht der CDU« (Lauer 2010; Pergande 2010) stehen beispielhaft für die beiden Aspekte, die für die öffentliche Berichterstattung damals von Bedeutung waren: Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Erneuerung.
Das Thema Interessenvertretung – eigentlich ein Hauptanliegen von Parteien – spielte erst kurze Zeit später eine Rolle, als Özkan aufgrund ihrer Aussage über die Neutralität öffentlicher Schulen (in denen ihrer Meinung nach Kopftücher und Kruzifixe gleichermaßen keinen Platz hätten) unter Beschuss aus ihrer eigenen Partei geriet. Dieses Ereignis war ernüchternd für alle Beteiligten: für Özkan, die anscheinend dachte, sie könne sich als migrantische Ministerin vorurteilsfrei in der Integrationsdebatte platzieren; für die CDU, die ihre Gratwanderung zwischen dem Halten von Stammwählern und Werben um neue Wählergruppen in Gefahr sah; und für die Medien, die in der Berufung von Özkan nun eine Schaufensterinszenierung vermuteten (Denkler 2010).
Der holprige Amtsantritt von Özkan verdeutlicht die ungewohnte Situation, in der sich die deutsche Parteienlandschaft seit ein paar Jahren befindet. Der Umgang der Parteien mit dem migrantischen Wählerpotenzial7 ist im Allgemeinen noch unsicher. Für die Parteien ist es Normalität, ihr Verhalten im Spannungsfeld von Wählergunst, Inhalten, strategischer Positionierung, interner Ämtervergabe, Pflege der Basis und politischer Rhetorik abwägen zu müssen. Der demographische Wandel und die wachsende Zahl von migrantischen Wählerinnen und Wählern stellen die bisherigen Parteien auf die Probe, weil diese Wählergruppe im Parteienwettbewerb lange Jahre keine Rolle spielte.
Bei der Bundestagswahl 2009 waren 5,6 Millionen Personen mit Migrationshintergrund wahlberechtigt, also ein Anteil von rund neun Prozent (Bundeswahlleiter 2009; IntMK 2013: 26). Diese Zahl wird sich aller Voraussicht in den nächsten zwei Jahrzehnten deutlich erhöhen. Erst 47,5 Prozent aller volljährigen Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft (ebd.: 23). Dies wird die Parteien aus verschiedenen Gründen zum Handeln zwingen. Die Interessen der verschiedenen Migrantengruppen sind genauso heterogen wie ihre Affinitäten zu den verschiedenen Parteien. Darüber hinaus haben für bestimmte Migrantengruppen gesellschaftliche Diskriminierungserfahrungen und -befürchtungen einen Einfluss auf ihre Wahlkriterien und sie unterscheiden sich dadurch in ihrem Wahlverhalten von Einheimischen (Wüst 2011: 173). Zudem nimmt die Parteibindung von Migranten, die bisher im Vergleich zu Einheimischen immer sehr hoch war, langsam aber stetig ab (Kroh und Tucci 2009: 823). Zusammengefasst: Migranten werden für die Parteien als potenzielle Wählergruppe immer wichtiger.
Gleichzeitig wird es für die Parteien zunehmend schwerer, diese Wählerinnen und Wähler dauerhaft an sich zu binden, weil auch deren Wahlverhalten unberechenbarer wird. Zudem ist für die Parteien schwer zu kalkulieren, welche Effekte es auf ihre nicht migrantische Stammwählerschaft hat, wenn sich Parteien thematisch und personell gezielt für migrantische Wählerkreise weiter öffnen. Dieser Beitrag sondiert die Strategien der im Bundestag vertretenen Parteien im Umgang mit dieser Herausforderung.
Dienst am Volk: Für wen sind die Parteien da?
Über die Rolle von Parteien steht im Grundgesetz: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit« (Art. 21 GG). Die einzigen Pflichten, die darüber hinaus für Parteien im Grundgesetz verankert sind, beziehen sich auf das Gebot einer demokratischen inneren Ordnung, der Rechenschaftspflicht ihrer Finanzierung und des Verbots von Handlungen und Zielen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung des Landes beeinträchtigen (Art. 21 GG). Die politisch Interessierten mögen von dieser unscharfen Rollenzuschreibung überrascht sein, da Parteien faktisch den zentralen Bestandteil für das Funktionieren staatlicher Strukturen darstellen: Mit ihren Abgeordneten sind sie im Parlament gesetzgebend tätig, stellen Regierungen auf Bundes- und Landesebene sowie Bürgermeister in den Kommunen, bestimmen und wählen die Verfassungsrichter, bestimmen den Staatspräsidenten und rekrutieren Personal aus ihren Reihen für Teile der Verwaltung. Parteien beeinflussen also mittel- und unmittelbar große Bereiche des öffentlichen Lebens.
Das Parteiengesetz (Parteiengesetz 2011), auf das das Grundgesetz verweist, geht zwar auf die Aufgaben von Parteien ein, bleibt aber auch hier vage und hat eher einen sinnstiftenden Charakter. Die politikwissenschaftliche Perspektive auf Parteien präzisiert die weiten Vorgaben des Grundgesetzes. Dort finden sich zusätzliche Funktionszuschreibungen: Interessenartikulation der Bevölkerung, Bündelung und Verhandlung von Einzelinteressen, Einbindung der Bürger ins politische System, Formulierung und Durchsetzung von Politik, Vermittlung und Rechtfertigung von Politik sowie Rekrutierung von Personal für das politische System (Tzschätzsch und Blank 2009). Diese Funktionen sollten natürlich auch weiterhin in einer vielfältigen Gesellschaft gültig sein, in der die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund unter den Wählern wie auch unter den Parteiaktivisten zunimmt.
In der gegenwärtigen Integrationsdebatte ist der Anteil von migrantischen Mandats- und Amtsträgern so auch ein häufig angewandter Lackmustest, um zu prüfen, ob die etablierten Parteien auf die neue ethnische und religiöse Vielfalt in Deutschland bereits reagieren und sich geöffnet haben. Das reine Abzählen von Mandaten bringt uns an dieser Stelle jedoch nicht unbedingt weiter: Die ethnische Herkunft von Parlamentsabgeordneten lässt nur bedingt Rückschlüsse auf die politischen Inhalte zu, die sie oder ihre Parteien vertreten, noch haben Parteien eine Pflicht, sich ethnisch zu öffnen. In der Tat muss die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung nicht eins zu eins im Bundestag vertreten sein; das ist bei anderen sozialen Gruppen (z. B. Juristen, Lehrkräften, aber auch etwa alleinerziehenden Müttern, Arbeitern und Arbeitslosen) auch nicht der Fall. So einfach funktioniert Politik nicht und so organisiert sich auch keine pluralistische Demokratie.
Die bloße Anzahl von migrantischen Volksvertretern ist für sich allein genommen also kein guter Indikator. In einer pluralistischen Demokratie muss vielmehr eine adäquate politische Vertretung der Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen – auch und insbesondere der Migranten – gewährleistet sein und dafür ist es grundsätzlich unerheblich, ob die parlamentarischen Interessenvertreter für die Migranten einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Nur hat uns die Erfahrung gezeigt, dass die stellvertretende Interessenwahrung der Migranten durch Nichtmigranten in der Praxis zu keinem befriedigenden Ergebnis führt. Das ist der Funktionslogik des politischen Systems selbst geschuldet: In der Politik kommt es zu häufig zur Abwägung von Interessen verschiedener Gruppen und es kommt auch vor, dass eine dieser Gruppen nicht mit am Verhandlungstisch sitzt oder weniger Stimmgewicht hat – dann werden ihre Interessen nicht berücksichtigt. Im Fall vieler migrantischer Staatsbürger zeigt sich diese Nichtberücksichtigung deutlich bei den für sie wichtigen Themen wie doppelte Staatsbürgerschaft, Familiennachzug, muttersprachlicher Unterricht oder Antidiskriminierung. In Deutschland werden die Interessen nicht migrantischer Gruppen priorisiert, da sie politisch einfach »mehr einbringen«.
Jenseits aller normativen Vorgaben und politikwissenschaftlichen Funktionskataloge konzentrieren sich die Bemühungen von Parteien primär auf eine Sache: das Gewinnen von Wahlen und dementsprechend die Erlangung von Macht zur politischen Gestaltung. Daher ist die Wahlurne immer noch der beste Hebel, wenn es um die Etablierung pluraler Interessenvertretung geht. Der CDU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat beispielsweise die Bundestagswahl 2002 wohl auch deswegen verloren, weil er im Wahlkampf pauschal die Wähler aus Ostdeutschland angriff: »Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Es darf nicht sein, dass die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen« (»Stoiber ›geschmacklos sondergleichen‹« 2005). Obwohl politische Angriffe auf ostdeutsche Wähler seitdem der Vergangenheit angehören, braucht man nur »der Osten« mit »die Migranten« oder »die...