2. Vorlesung
Emotionslogik im Migrationsprozess
Ablösung von der Herkunftskultur
Jeder freiwilligen Migration geht die Neugier auf das neue Unbekannte voraus, verbunden mit der Faszination an den Wandlungsprozessen und Metamorphosen, die durchlaufen werden, und den Errungenschaften und ungeahnten Möglichkeiten, die sich eröffnen. Das Erleben in dieser Phase des Migrationsprozesses ist von dem Grundgefühl der Neugier und Vorfreude auf das Neue, Unbekannte geprägt. Migration löst entgegen verbreiteten Annahmen bei den Sesshaften der Aufnahmekultur nicht nur Ängste und Verzweiflung aus, sondern Hoffnungen auf ein besseres Leben, und zwar auch dann, wenn die Migration eine durch Krieg und Vertreibung erzwungene war. Die Migration hat häufig ein solches „utopisches Moment“. Man hofft auf einen radikalen Neuanfang des eigenen Lebens und möchte auch den Verstrickungen in die Geschichte der eigenen Kultur entkommen – wie z. B. die Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA emigrierten50. Nicht übersehen werden darf, dass die weitaus meisten Migrationsgeschichten Erfolgsgeschichten sind. Dies muss einer häufig anzutreffenden Dramatisierung, die Abwehrcharakter hat, entgegengehalten werden. Die globale transnationale Migration ist ein normalpsychologisches anthropologisches Phänomen, das zukünftig erheblich zunehmen wird.
Das zweite Grundgefühl ist die unvermeidliche Angst vor dem Unbekannten. Diese Angst hat als eine normalpsychologische Erwartungsangst die Funktion der realitätsbezogenen Bewertung und Planung, der Abwägung von Chancen und Risiken und der antizipatorischen Absicherung. Ihre Überwindung geht dem dann folgenden schmerzhaften Handlungsschritt der Trennung und Ablösung als eine Art Vorbereitungsgefühl voraus. Die Entdämonisierung und Entdramatisierung dieser Angst vor dem fremden Unbekannten ist eine notwendige Voraussetzung bei der Verwirklichung einer Migration. Ohne diese wird der Schritt einer freiwilligen Migration nicht getan. Beim Akt der Migration kommt es zum Trennungsschmerz. Der Trennungsschmerz ist ein Grundgefühl, das tief empfunden wird von allen Menschen, die fortgehen und Kulturgrenzen unwiderruflich überschreiten. Man kann diesen ganz ursprünglichen Schmerz einen Schmerz nennen, der Wachstum ermöglicht, also einen „Wachstumsschmerz“51. Dieser Schmerz ist Schmerz als Grundgefühl der Trennung und weder Angst noch Trauer. Aber er kann mit beiden assoziiert sein. Erst nach diesem vollzogenen Akt der Trennung erfolgt der Rückblick auf das Zurückgelassene und die Trauer um die erlittenen Verluste. Diese Abschiedstrauer wird als ein Gefühl des „Sterbens“ bezeichnet, verknüpft mit der Aufgabe der gewohnten sozialen Rollen und der Alltagsrituale. Bei der glücklichen Ankunft in der Aufnahmekultur treten freudige Gefühle auf. Die Begegnung mit der neuen Kultur ist eine Art „Honeymoon“, bei der sich Triumph- und Erfolgsgefühle über die gelungene Ankunft und die Faszination bei der Begegnung mit der Aufnahmekultur zu einem Hochgefühl steigern (Abb. 6). In der Zeit des „Honeymoons“, der nach Einschätzung von Migranten etwa ein halbes bis ein Jahr andauern kann, werden die als gut erlebten Objekte der Aufnahmekultur bereitwillig aufgenommen, so dass eine schnelle Akkulturation resultiert.
Die aufgezeigte Emotionslogik beim Migrationsakt hat zyklischen Charakter. Das heißt, die Gefühlsqualitäten Neugier, Angst, Schmerz, Trauer und Freude werden im Wachen, in Träumen und in Tagträumen immer wieder durchlaufen und dadurch insbesondere in der Interaktion der Betroffenen untereinander mehr und mehr bewältigt. Diese von Lungwitz begründeten Grundgefühle52 begleiten den Aufbruch in die Aufnahmekultur und münden idealerweise in die Annährungs- und die Integrationsphase nach der Ankunft ein. Während bei freiwilligen Migranten in der Aufbruchphase im Heimatland und einem Überwechseln in die Aufnahmekultur im Allgemeinen keine psychischen Störungen auftreten, ist dies in der Integrationsphase häufig der Fall53 , 54 , 55.
Abb. 6: Die Emotionslogik im Migrationsprozess zeigt drei Phasen: die Migration, die kritische Integration, in der durch die kulturelle Adoleszenz die Integrationsleistungen erbracht werden, und die generationsübergreifenden Anpassungsprozesse. Eine erhöhte Vulnerabilität für psychische Erkrankungen und gegebenenfalls Krankheitsmanifestationen besteht in der Phase der kritischen Integration (s. Punkte auf der Linie der mittleren Integration).
Integration in die Aufnahmekultur
„Alle Emigranten haben dieselbe Grundgeschichte zu erzählen. Zunächst ein kleines Sterben, wenn sie ihre Heimat verlassen, dann kurzlebige Euphorie, wenn es so aussieht, als wäre ihnen die Chance geschenkt worden, ihr Lebensmanuskript in einer freien Gesellschaft umzuschreiben, und dann lebenslange Traurigkeit, sobald ihnen klar wird, dass sie die unwiderrufliche Wahl getroffen haben, sich von ihren Wurzeln abzuschneiden“56.
Der Prozess der Integration in die Aufnahmekultur erfolgt genauso wie die Ablösung einer zyklischen Emotionslogik, allerdings mit anderen Akzentuierungen. Auf das Modell der Migrationsphasen, das von Sluzki57 in die wissenschaftlichen Diskurse eingebracht wurde, wird hier in modifizierter und ergänzter Form Bezug genommen. Die hochgefühlige Ankunftsphase, der „Honeymoon“ mit der neuen Kultur, ist mit einem enormen Objekt-Hunger auf die noch unbekannte faszinierende Kultur verknüpft sowie einer großen Auf- und Übernahmebereitschaft als gut erlebter kultureller Objekte und verbunden mit einem hohen Integrationsbemühen und schneller Akkulturation. Nach Abklingen des „Honeymoons“ folgt eine anhaltende Periode des Ringens um die Absicherung der Existenz in den Bereichen Arbeit und Wohnen, des Erhaltes der Kontinuität der Familie und der Gewinnung einer neuen bikulturellen Identität etc. Dies ist die Phase der dritten Individuation, der „kulturellen Adoleszenz“, die mit einer erhöhten Vulnerabilität einhergeht und in der typischerweise psychische Störungen auftreten können.
Besonders beeinträchtigend gestaltet sich dieser Prozess, wenn bereits bei der Ankunft im Migrationsland Diskriminierung und Prozesse der sozialen Ausschließung und Isolation greifen und keine ethnische Community zur Verfügung steht. Für den Anthropologen Blakey58 gehören soziale Ausschließungsprozesse zu den am meisten belastenden Erlebnissen beim Menschen wie übrigens bei allen sozial lebenden Lebewesen. Bei ausgegrenzten Minoritäten führt die soziale Ausschließung aber zu einer chronisch erhöhten Stressbelastung, die sich negativ auf den Gesundheitszustand auswirken kann.
Im Zusammenhang mit den psychischen und sozialen Beanspruchungen treten überstarke Ängste, Frustration, Aggression, Trennungsschmerz und Verlusttrauergefühle auf. Infolge der Zunahme von Migrations- und Integrationskonflikten kommt es nach der anfänglichen Euphorie zu einer Ernüchterung im Kampf um die Lebens- und Überlebensgrundlagen. Die Infragestellung der alten und die Suche nach einer neuen Identität bekommt für die folgenden Jahre eine große Aktualität. Die Konfrontation mit dem Fremden und soziale Ausschließungsprozesse verursachen Ängste und Aggressionen, aber auch Ambivalenzen und Neugier sowie den Wunsch nach Anpassung und Übernahme der neuen kulturellen Angebote. Es geht auch um das Abschiednehmen bzw. das Bewahren von kulturellen Traditionen und die Integration des neuen kulturellen Zugewinns. Dabei kann eine zu bereitwillige kontraphobische Übernahme kultureller Objekte und Verhaltensmuster unter Verleugnung der eigenen Herkunft im Sinne einer zu schnellen Progression oder das Gegenteil, eine Regression in die Familie, bestimmend sein.
Die Familie ist der Ort der Tradition im Sinne der Elterngeneration und des Schutzes vor dem kulturellen und sozialen „Draußen“. Die Familienspielregeln des Umgangs miteinander und auch zwischen den Generationen aber ändern sich und stellen die alte familiäre Identität in Frage, die sich in ihren hergebrachten Gewohnheiten und Ritualen bestätigt sah. Eine Gefahr in Beziehungen ist eine polarisierende männlich-weibliche Rollenaufteilung, wenn der Mann gegenwarts- und zukunftsorientierte (instrumentelle) Aktivitäten nach außen entfaltet, wie die Sicherung von Arbeit, Wohnen und Sozialkontakten, die Frau dagegen aber die affektiven gegenwarts- und vergangenheitsorientierten innerfamiliären Aktivitäten übernimmt (Verbindung zur Heimat, Trauerarbeit). Dies führt zur Polarisierung der Partnerschaft in einen integrationsfähigen und integrationsunfähigen Partner. Bei der Suche nach einer neuen Identität steht die familiäre und individuelle „alte“ Identität in Frage, und eine neue „bikulturelle“ oder „multikulturelle“ Identität ist noch nicht gefunden. Dies ist eine Art „kultureller Obdachlosigkeit“, wo das alte Haus nicht mehr und das neue noch nicht zur Verfügung steht und die Betroffenen den Unbilden der sozialen Witterung ungeschützt ausgesetzt sind. Diese Phase ist die Konflikt- und Problemphase, in der Mitglieder der Migrationsfamilie Symptome entwickeln und typischerweise Hilfe aufsuchen. Eine erhöhte Vulnerabilität für Stresskrankheiten, z. B. funktionelle und psychosomatische Störungen, für Suchtverhalten, depressive Syndrome, „Idioms of Distress“ und Psychosen ließ sich nachweisen (s. auch S. 57–72). Je größer die Schwierigkeiten sind, unter denen die notwendigen Anpassungsprozesse erbracht werden mussten, umso größer sind die gesundheitlichen Risiken.
Eine Flucht in die Religiosität oder...