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Kognitive Verhaltenstherapie des Stotterns

Ein Manual für die psychotherapeutische und sprachtherapeutische Praxis

AutorJohannes von Tiling, Jürgen Hoyer, Stephen Clive Crawcour
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl95 Seiten
ISBN9783170242647
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
In der Therapie des Stotterns wurden lange Zeit vor allem sprachtherapeutische Übungsverfahren eingesetzt. Erst seit einigen Jahren setzt sich die Erkenntnis durch, dass die psychischen Folgesymptome wie Angst, Scham und Vermeidung nicht nur Begleiterscheinungen des Stotterns sind, sondern den Schweregrad der Störung aktiv beeinflussen und somit stärker in den Fokus der Therapie gerückt werden sollten. Das Buch greift diese Entwicklung auf und bezieht sich auf neue Forschungserkenntnisse aus den USA und Australien. Es liefert ein empirisch gestütztes, detailliertes Manual für eine verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie des Stotterns.

Dr. Johannes von Tiling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Darmstadt. Stephen Crawcour, Ph.D., koordiniert das Projekt 'SophoPrax' zur Therapie der sozialen Phobie an der TU Dresden. Prof. Dr. Jürgen Hoyer ist Professor für Behaviorale Psychotherapie an der TU Dresden.

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Leseprobe

1        Beschreibung der Störung Stottern


1.1       Symptome und Hauptmerkmale der Störung


Stottern ist eine häufig auftretende Störung der Sprechflüssigkeit, die meist in der frühen Kindheit einsetzt (Bosshardt, 2008; Von Tiling, 2012). Hauptmerkmal sind häufige und auffällige Unterbrechungen des Redeflusses. Die betroffenen Personen haben dabei keine Defizite in der Sprechplanung, d. h. sie sind nicht schlechter als andere Menschen darin, bei gegebener Sprechabsicht die passenden Worte zu finden. Beeinträchtigt ist jedoch die Sprechmotorik, also die Fähigkeit, die beabsichtigten Worte in einer bestimmten Situation adäquat aussprechen zu können.

Kernsymptome

Die Unterbrechungen im Redefluss lassen sich gemäß gängiger Konventionen in drei Gruppen einteilen, die als Kernsymptome des Stotterns bezeichnet werden (Natke & Alpermann, 2010; Tab. 1.1): Repetitionen, Prolongationen und Blocks. In früheren Publikationen wurde oft unterschieden zwischen klonischem Stottern (= Repetitionen und Prolongationen) und tonischem Stottern (= Blocks); da diese Unterscheidung aber schon Annahmen über die Entstehung des Stotterns enthält und daher weniger beobachtungsnah ist, wird sie heute nicht mehr häufig verwendet.

Repetitionen

Repetitionen sind Wiederholungen von Lauten, Silben oder Wörtern. Beispiele wären etwa »Ich heiße K-K-K-Kirsten« oder »Ich bin Ka-Ka-Karina«. Im ersteren Fall hat die stotternde Person Schwierigkeiten, den Lautübergang vom K zum i zu artikulieren und setzt daher immer wieder neu beim K an. Sie schafft es dann beim vierten Versuch. Im zweiten Fall hat sie Probleme, den Übergang vom r zum i zu artikulieren und wiederholt daher immer wieder die vorherige Silbe, in der Absicht, dadurch den Übergang besser bewältigen zu können und eine sonst entstehende Sprechpause zu vermeiden. Hier ist sie beim dritten Anlauf erfolgreich. Repetitionen von Wörtern werden in ähnlicher Absicht eingesetzt (»Ich bin – ich bin – ich bin – ich bin Kirsten«). Die Anzahl der Repetitionen beträgt meist, wie in den obigen Beispielen, wenige Male. Sie kann aber auch höher sein, also etwa bei 10 oder gar 20 liegen. Die meisten Stotternden beenden aber nach mehreren erfolglosen Versuchen das Wiederholen und bemühen sich stattdessen, die Sprechabsicht auf eine andere Art und Weise umzusetzen, z. B. durch Prolongation.

Prolongationen

Bei einer Prolongation dehnt die Person einen Laut in die Länge. Beispiele sind »Ich heiße Wwwwwerner« oder »Gib mir bitte die Mmmarmelade«. Die Person hat Schwierigkeiten, den Übergang zwischen zwei Lauten zu formulieren (z. B. zwischen dem W und e bei »Werner«) und dehnt, in Reaktion darauf, den ersten Laut in die Länge, in der Absicht, irgendwann den Übergang artikulieren zu können. Wiederum kann die Länge des Symptoms individuell sehr unterschiedlich sein.

Blocks

Blocks (auch: Blockierungen, broken words) sind stumme Unterbrechungen des Redeflusses, bei denen es zu einem Innehalten mit verkrampften Artikulationsorganen kommt. Beispiele sind: »Ich hätte gern ein Stück K-___-häsekuchen« oder »Ich bin _____Axel.« Im ersten Beispiel ist der Übergang zwischen dem K und dem ä problematisch. Die Person artikuliert zwar noch das K, aber die Stimme springt nicht an, so dass eine Zeit lang Luft durch den Rachen gepresst wird, was, je nach Stärke des Pressens, sich wie ein stimmloses H anhören kann. Die Person bemüht sich, die Stimme anspringen zu lassen, und meist gelingt es ihr irgendwann, so dass sie weitersprechen kann. Im zweiten Beispiel kann die Person den Vokal A zu Beginn des Wortes nicht aussprechen. Sie verharrt mit offenstehendem Mund und hält dabei die Luft an. Irgendwann presst sie das Wort heraus. Blocks dauern meist 1 bis 5 Sekunden, können im Einzelfall aber auch deutlich länger sein.

sekundäre Symptome

Während die Kernsymptome bereits mit Einsetzen der Störung in der Kindheit auftreten, kommen im Verlauf weitere, sogenannte sekundäre Symptome hinzu: In Reaktion auf die Befürchtung, bei einem bestimmten Wort stottern zu müssen, modifizieren die Betroffenen ein Sprechvorhaben so, dass Kernsymptome nicht oder weniger stark auftreten. Sie versprechen sich davon vor allem, dass ihre Sprechprobleme so für den Zuhörer weniger auffällig und störend sind. Sehr verbreitet sind das Einschieben von Lauten oder Silben (z. B. »Hallo, ich bin ähhKarina«), das Einsetzen von Pausen (z. B. »Hallo, ich bin [2 sec. Pause] Karina«) und das Umschreiben bzw. Austauschen von gefürchteten Wörtern (z. B. »Hallo, Müller mein Name« oder »Hallo«). Diese Symptome sind für den Zuhörer oft nicht leicht als Stottern zu identifizieren. Es gibt Stotternde, die eine gewisse Perfektion darin entwickeln, in großer Geschwindigkeit Synonyme für schwierige Wörter zu finden und Sätze spontan umzubauen, so dass keine Kernsymptome auftreten. In der Regel aber führt der häufige Gebrauch dieser »Tricks« dazu, dass die Sprache von Stotternden umständlich, zögerlich, abgehoben, unpräzise oder unsicher klingt. Es besteht die Gefahr, dass die Zuhörer keine Sprechstörung mehr wahrnehmen (was der Stotternde ja auch beabsichtigt), die erlebten subtilen Besonderheiten im Kontakt aber (fälschlich) der Persönlichkeit des Betroffenen zuschreiben und ihn gerade deshalb abwerten. Diese an sich gut nachvollziehbaren Versuche, sich selbst das Stottern erträglicher zu gestalten und sich mit der Störung zu arrangieren, haben damit gravierende psychologische und soziale Nachteile, die den Betroffenen selbst oft nicht bewusst sind. Es handelt sich dabei um Folgeprobleme der – bzw. um Reaktionen auf die – ursprünglichen Stottersymptome, die sich mit der Zeit zu einem Gesamtbild ausgestalten, bei welchem Ursache und Folge nicht mehr klar zu trennen sind. Die psychologischen Reaktionen und Folgeprobleme erscheinen aber mit psychotherapeutischen Methoden grundsätzlich gut behandelbar ( Kap. 5), was sich auf die Gesamtbeeinträchtigung des Stotternden positiv auswirken kann. Dies entspricht auch der unten erläuterten Konzeption vom Stottern als körperlich bedingter, aber psychisch aufrechterhaltener Störung.

Die Kernsymptome sind meist mit sichtbaren Verkrampfungen der Sprechorgane verbunden, vor allem der Lippen, des Kiefers und der Bauchmuskeln. Darüber hinaus kann es zu Mitbewegungen (Parakinesen) während der Sprechunflüssigkeiten kommen. Beispiele sind etwa das Bewegen des Kopfes, der Arme, der Beine, aber auch der Gesichtspartie (Nase, Stirn). Diese Bewegungen werden vom Betroffenen anfangs gezielt als Mittel zur Verbesserung der Sprechflüssigkeit einsetzt. Beispielsweise bemerkt der Stotternde, dass er »Axel« flüssiger sagen kann, wenn er dabei den Kopf ruckartig nach unten bewegt. Dieser anfängliche Effekt ist vermutlich auf Ablenkung zurückzuführen. Obwohl diese operant gelernten Mitbewegungen rasch ihre Wirksamkeit verlieren, halten Stotternde oft lange Zeit an ihnen fest, nicht zuletzt aufgrund der dann bereits eingetretenen Automatisierung. Auch diese Mitbewegungen und Verkrampfungen sind als unwillkürliche Kompensationsversuche der grundlegenden Artikulationsstörung zu verstehen. Für die soziale Interaktion des Stotternden stellen sie – über das eigentliche Stottern hinausgehend – einen erheblichen Nachteil dar, der in der Therapie systematisch aufgegriffen, dem Stotternden verständlich vermittelt und durch übende Maßnahmen erheblich reduziert werden kann.

Tabelle 1.1 listet die bislang genannten Symptome des Stotterns überblickshaft auf. Gemeinsam ist all diesen Symptomen, dass sie Verhaltensreaktionen auf die subjektive Wahrnehmung sind, trotz adäquater Sprechplanung nicht mehr weitersprechen zu können. Der Stotternde ist also immer mehr oder weniger frei darin, seine Symptome zu modifizieren. Insbesondere bei Kindern und zu Beginn der Therapie können die Reaktionen allerdings auch so automatisiert sein, dass es den Betroffenen zunächst unmöglich erscheint, sie zu verändern. Ein wichtiges Ziel der Therapie ist daher, die sprechmotorischen Prozesse besser bewusst zu machen und wieder Kontrolle über sie zu gewinnen. Dies ist aufgrund der Komplexität des Sprechvorgangs, bei dem eine Vielzahl unterschiedlicher Muskelgruppen beteiligt ist, nicht einfach.

Fallbeispiel 1 veranschaulicht die zeitliche Abfolge der Entwicklung von verschiedenen Symptomen eines fiktiven Stotternden, den wir Axel nennen. Es wird hierbei fokussiert auf die Symptomentwicklung bei einem einzigen Wort, nämlich der Nennung des eigenen Vornamens....

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