Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist entscheidend für den Aufbau und den Erhalt einer stabilen Gesellschaft. Migration, geänderte Beschäftigungsaussichten, geänderte Familienmuster und eine Belastung durch familiäre Konflikte sind die kritischen Lebensereignisse, die sich auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirken. Wenn es in der Gesellschaft die Anwesenheit „gefährdeter“ oder manifest gestörter Kinder und Jugendlicher gibt, führt es zu destabilisierenden Bedingungen für die Gesellschaft insgesamt (ohne Autor, URL: www.euro.who.int).
In dem Modell über die wichtigsten Einflüsse auf die Gesundheit im Jugendalter (Siehe Abb. 5) kann man erkennen, dass man Lebensereignisse und Dauerbelastungen als normativ und non-normativ unterscheidet. Unter normativen Belastungen, die sich aus gesellschaftlichen Anforderungen und Normen oder aus allgemeinen Entwicklungsbedingungen ergeben, lebt der überwiegende Teil der Jugendlichen. Um sich positiv im Jugendalter zu entwickeln, muss ein Individuum folgende Entwicklungsaufgaben bewältigen:
„Akzeptieren der eigenen körperlichen Veränderungen,
Übernahme der männlichen/weiblichen Geschlechtsrolle,
Emotionale Unabhängigkeit und Ablösung von den Eltern,
Aufbau und Gestaltung von Peer-Beziehungen,
Umgang mit sexuellen Bedürfnissen,
Entwicklung eigener Werte und eines persönlichen ethischen Systems,
Vorbereitung zum Beruf,
Vorbereitung auf Ehe und Familienleben“ (Faltermeier zitiert nach Oerter et al. 2005, S.249).
Identität ist für Jugendliche das zentrale Entwicklungsthema, weil sie für sich herausfinden müssen, wer sie sind und wie sie sein wollen. Eine Reihe von psychischen Belastungen ergibt sich aus den Entwicklungsaufgaben. Da die körperlichen Veränderungen wie zum Beispiel körperliche Reifung, Körperwachstum, sexuelle Reife in der Pubertät bei den Jugendlichen deutlicher sind, werden sie ohne Erfahrung dadurch verunsichert, so dass es zu psychischen Belastungen führt (Faltermeier 2005).
Abbildung 5. Die wichtigsten Einflüsse auf die Gesundheit im Jugendalter
Quelle: modifiziert nach Faltermeier 2005, S.248.
Durch die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper und die wahrgenommene körperliche Attraktivität für andere verändert sich das Körperkonzept für Jugendliche, vor allem für Mädchen. Wenn weibliche Jugendliche mit ihrem Körper unzufrieden sind und ein negatives Körperselbstbild haben, dann können sich ein geringes Selbstwertgefühl und depressive Symptome ergeben. Die zunehmende Orientierung von Jugendlichen an Gleichaltrigen („Peers“) bringt einen sozialen Druck, in dem sie ihre Werte und Einstellungen, Verhaltensweise, Kleidungsstile, sprachliche Ausdrücke und Redewendungen vergleichen, messen und übernehmen. Wenn Jugendliche den sozialen Erwartungen nicht gerecht werden und bei sozialen Abweichungen Sanktionen z.B. Ausgrenzungen erfolgen, dann kann dieser soziale Einfluss zu psychischen Belastungen führen. Aus dem Erproben von Partnerschaften, aus den ersten sexuellen Erfahrungen und dem Sich- Einlassen auf ein tiefes emotionales Erleben, die wichtige und notwendige Beiträge zu Entwicklung von Jugendlichen darstellen, können psychische Belastungen entstehen (Faltermeier 2005).
Eine andere Quelle von Stress im Jugendalter, die sich aus den Anforderungen in den zentralen Lebensbereichen Schule, Familie und Ausbildung/Beruf ergeben, stellen psychische Belastungen dar. Für die meisten Jugendlichen müssen Anforderungen in der Schule oder beruflichen Ausbildung nicht als belastend erlebt werden. Der andauernde Leistungsdruck und häufige Prüfungssituationen im schulischen Bereich, die sich aber unter bestimmten Bedingungen deutlich verschärfen, können eher als normative psychische Belastungen verstanden werden. Für Jugendliche, wenn sie außergewöhnliche Lebensereignisse oder Dauerkonflikte in der Familie erleben, entstehen non-normative Belastungen, obwohl die Probleme bei der Ablösung von den Eltern und daraus resultierende soziale Konflikte in gewissem Maße als normativ gewertet werden müssen. Da viele Belastungssituationen für Jugendlichen noch so neu sind, sind angemessene Bewältigungskompetenzen und notwendige personale Ressourcen vielfach noch nicht verfügbar. Aufgrund mangelnder Bewältigungskompetenz neigen viele Jugendliche zur Flucht in Drogen, Alkohol, Medikamenten und zum Schwänzen der Schule, die kurzfristig einen Spannungsabbau ermöglichen, aber zu keiner Lösung führen (Faltermeier 2005).
Wenn man die Frage stellt, ob Kinder und Jugendliche heute in Deutschland psychisch kränker oder verhaltensauffälliger sind als vor 10 oder 20 Jahren, kann diese Frage nicht beantwortet werden, weil keine methodisch vergleichbaren Studien zur Verfügung stehen. Aber eine Vorstellung über psychische Erkrankungen und Symptome bei Kindern und Jugendlichen kann man durch mehrere Untersuchungen bekommen, die in dem Bereich durchgeführt worden sind (Schubert et al. 2004). Experten gehen davon aus, dass 8 bis 15 % der Kinder und Jugendlichen mit Arztkontakt eine Diagnose aus dem Spektrum der psychischen Störungen erhielten (Schubert et al. zitiert nach Remschmidt 2004, 124). Angststörungen, Depressionen, Zwänge, posttraumatische Belastungssymptome zählen zu den häufigsten emotionalen Störungen bei Kindern und Jugendlichen, obwohl diese Symptome im Kindesalter sehr schwer zu diagnostizieren und zu klassifizieren sind (Schubert et al. 2004). Eine PAK-KID Untersuchung zeigt eine Prävalenz der Angst/Depression von 12 % bei den 4 bis 10 Jahre alten Jungen, und von 8,6 % bei den Mädchen in dieser Altersklasse, und von 13 % bis 13,6 % bei den Mädchen und Jungen im Alter von 11 bis 18 Jahren (Schubert et al. zitiert nach Plück 2004, S. 131). Nach Aussage der Eltern in der PAK-KID Untersuchung haben 0,6 % der Jungen und Mädchen Selbstmordversuche unternommen (Schubert et al. zitiert nach Lehmkuhl 2004, S. 131). In der Altersgruppe der 15 bis 24 Jährigen sind Suizide nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache (Schubert et al. 2004). Im Urteil der Eltern werden in der PAK-KID Studie die Symptome Unruhe, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität bei 3 % bis 10 % der Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren als deutlich vorhanden eingeschätzt (Schubert et al. zitiert nach Döpfner, S. 134).
Prävention von psychischen Störungen ist ein Schlüsselelement, das nicht nur Kosten spart, sondern auch im Interesse des Kindes, der Familie und der Gesellschaft liegt. Wenn die finanzielle und gesetzgeberische Unterstützung von Präventionsprogrammen für Kinder und Jugendlichen nicht geschieht, dann wird die Gesellschaft von den Konsequenzen der unbehandelten psychischen Störungen getroffen. Es passiert so bald, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht haben (ohne Autor, URL: www.euro.who.int).
Verschiedene Aussagen aus Literaturquellen lassen feststellen, dass die Anfälligkeit und das Erkrankungsrisiko für psychische Krankheiten bei russischsprachigen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund generell größer sind als bei deutschen Kindern. Baune (2004) behauptet, dass Zahlen zur Inzidenz psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit der Dauer des Aufenthaltes im Verlauf erfolgter Migration nicht abnimmt, sondern zunimmt. Es heißt, dass nach dem ersten Jahr der Migration die Inzidenz 13 % und nach 2-5 Jahren die Inzidenz 25 % der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist. Nach über 10 Jahren des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland steigt die Inzidenz psychischer Störungen auf 37 % (Baune 2004). Es bedeutet, je länger Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, desto größer ist die Auffälligkeit zu den psychischen Erkrankungen, die durch permanente Stress- und Belastungssituationen im Migrationsprozess entstehen. Morten (1986) bestätigt, dass der Großteil der psychosomatischen Symptome, der offenbar von sozioökonomischen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird, nach einem Jahr des Aufenthaltes im Aufnahmeland deutlich ist.
Migration ist eine Entwurzelung, in der die Auffälligkeit psychischer Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen öfter vorkommt (Gross 1986). Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund gelten nach der Ottawa Charta der WHO als „verletzliche Gruppe“, für die eine besondere Priorität und Aufmerksamkeit in der Public Health Strategie geschenkt werden muss (Salman 2000). Migration wird von einigen russischsprachigen Migrantenkindern unvermeidlich als „Trauma“ bezeichnet, die auf Grund von persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Konflikten zu gesundheitlichen Störungen führt (Weiss 2003). Leyer (1991) bestätigt, dass die erste Begegnung der Kinder und Jugendlichen mit der...