1.1 Zwei Seelen, ach! Innere Pluralität ist allgegenwärtig
Es ist zunächst nichts Neues, von dem ich hier berichten werde. Wohl jeder kennt das Phänomen, dass unsere innere Reaktion auf einen Menschen, auf ein Ereignis, auf eine anstehende Entscheidung nicht einheitlich und klar ist, sondern gemischt, undeutlich, vielfältig, schwankend, hin- und hergerissen. Dennoch habe ich in den letzten Jahren mit großer Faszination mehr und mehr die Bedeutung entdeckt, die diese innere Vielfalt für unser Leben hat. Viele schenken ihrer inneren Pluralität keine große Beachtung. Auf dem geradlinigen Weg effektiver Lebensführung bedeutet sie häufig eine lästige Komplikation, manchmal auch ein qualvolles Hin- und Hergerissensein, das bis zur völligen Lähmung führen kann. Unangenehm, sich damit näher zu befassen. Manche denken, mit ihnen stimme etwas nicht, wenn sie gegenläufige Strömungen in sich vorfinden. – Wenn wir aber erst einmal erkannt haben, dass es keine Ausnahme, sondern eine menschliche Regel ist, dass mindestens «zwei Seelen (und meist viel mehr) in unserer Brust» wohnen und dass das Durchschauen der daraus resultierenden «inneren Gruppendynamik», verbunden mit der Fähigkeit zu einer inneren Teambildung, eine große Quelle von Kraft und Klarheit darstellt, dann lohnt es, sich mit diesem Stück Menschenkunde näher zu befassen. Vor allem Dichter und Psychotherapeuten sind auf diesem Weg weit vorangekommen. – Ich lade Sie nun ein, diese Erkenntnisse nachzuvollziehen, sie zu systematisieren, weiterzuentwickeln und mit der Lehre von der zwischenmenschlichen Kommunikation so zu verbinden, dass sie für den beruflichen und privaten Alltag nutzbar werden können!
Musterbeispiel: die Studentin
Beginnen wir die Einführung mit einem kleinen Musterbeispiel.
«Könnte ich mal deine Mitschriften aus dem Seminar für mich kopieren? Und vielleicht hast du auch sonst noch gute Prüfungsunterlagen?», fragt ein Student eine Studentin. Er selbst war häufig nicht anwesend und weiß, dass sie verlässlich und fleißig studiert und umfangreiche Aufzeichnungen zu machen pflegt.
Vielleicht gehört die Angesprochene zu den Menschen, die, «wie aus der Pistole geschossen», positiv reagieren: «Na klar, kannst du haben!» – und es hinterher mit einer inneren Gegenstimme zu tun kriegen, die schimpft: «Warum kann dieser Schmarotzer sich nicht mal selbst auf den Hosenboden setzen!? Mir hat er noch nie geholfen! Dieser Schluffi macht sich ein feines Leben und überlässt mir die Fleißarbeit. Und ich Blödfrau sag auch noch immer freundlich ‹Ja› dazu!»
Vielleicht reagiert sie auch spontan ablehnend: «Nein, also das sind persönliche Unterlagen, die geb ich ungern aus der Hand. Das bringt auch nicht viel, wenn man das nicht selbst erarbeitet hat» – und bekommt vielleicht am Abend einen moralischen Katzenjammer: «War das nicht ziemlich unfreundlich und unsolidarisch von mir? Ich komme mir vor wie eine Streberin, die den anderen nicht abschreiben lässt, um selbst bessere Noten zu bekommen.»
In beiden Fällen wohnen «zwei Seelen, ach!, in ihrer Brust» (s. Abb. 4), und in beiden Fällen werden sie nacheinander wirksam.
Abb. 4:Zwei Seelen in der Brust einer Studentin
Sie werden in unterschiedlichem Tempo wach, und ihr «Auftritt» ist zeitversetzt. Genauso gut wäre es aber auch möglich, dass beide gleichzeitig wirksam werden: Vielleicht zögert die Studentin mit der Antwort, legt ihre Stirn in Falten, blickt zu Boden und «druckst herum» mit Worten wie «njaa», «hm», «eventuell schon», «ich muss mal sehen, ob ich das alles noch habe», «das meiste war nur so hingeschmiert». Oder sie sagt das eine, und ihre Mimik und ihr Tonfall bezeugen das andere: Solche sogenannten «diskordanten» oder «inkongruenten» Äußerungen enthalten eine verwirrende Doppelbotschaft. Die Irritation löst sich aber auf, wenn wir uns klarmachen, dass «zwei Seelen» an der Reaktion beteiligt sind und jede von ihnen danach strebt, sich zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Wenn die Studentin «Ja, o.k.!» sagt, aber in einem Tonfall, der jede Herzlichkeit vermissen lässt, und mit einem Gesichtsausdruck, der von abweisender Verdüsterung umwölkt ist, dann hat der eine Teil in ihr in der Sprechblase seine Verwirklichung gefunden, der andere Teil im Körper (s. Abb. 5).
Abb. 5:Inkongruente Doppelbotschaften als Ausdruck innerer Gegenspieler
Eine solche Kommunikation ist nicht der Weisheit letzter Schluss, hat aber weder etwas mit Lug und Trug (Moral) noch mit Persönlichkeitsstörung (Pathologie) zu tun. Eher würde ich von einer noch nicht integrierten Reaktion sprechen, in der sich – sozusagen «doppelt ehrlich» – ein innerer Widerstreit kundtut.
Anstatt von «Seelen» werde ich im Folgenden von «Mitgliedern des Inneren Teams» sprechen, um die Träger dieser Stimmen zu bezeichnen. Denn alles wird darauf ankommen, ob und wie es gelingt, diese zunächst widerstrebenden Kräfte in eine Kooperation zu bringen, deren «Produkt» kraftvoller und angemessener sein wird, als wenn nur eine Stimme allein das Sagen hätte.
Das ist einer der Grundgedanken dieses Buches, und wir werden ihn weiter verfolgen. Machen wir uns hier zunächst aber auch mit der Arbeitstechnik vertraut, die dem Modell des Inneren Teams zugeordnet ist.
Die Arbeitstechnik: Botschaft, Name, Bild
Jedes Teammitglied hat eine Botschaft. Der Text dieser Botschaft ist freilich nicht immer von Anfang an gegeben, muss erst durch eine innere Erkundung «spruchreif» gemacht werden. Vielleicht spürt die Studentin zunächst nur den Impuls: «Nö, seh ich gar nicht ein!» – und kommt erst nach und nach dazu herauszufinden, was «dahintersteckt» und wer dahintersteckt. Die Botschaft ergibt sich durch Selbsterkundung, im Fall einer Kommunikationsberatung durch die angeleitete Selbstklärung mit Hilfe eines Klärungshelfers (vgl. Thomann und Schulz von Thun 1988). Meistens sind Menschen sehr gut in der Lage, am inneren Widerhall der Worte zu überprüfen, ob der Text stimmt oder wie er noch zu verändern ist.
In der Regel hat der Text kognitive, emotionale und motivationale Komponenten. Zu Deutsch: Es sind Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse darin enthalten. Mehr noch, auch Werthaltungen, Normen und entsprechende Befehle an sich selbst. Von daher ist es angebracht, einen «menschlichen Botschafter in Kleinformat» in die Brust zu zeichnen.
Sobald wir in etwa die Botschaft kennen, können wir dem Mitglied einen Namen geben. In unserem Beispiel ist da einmal die – ja, wie sollen wir sie nennen? – die Hilfsbereite? Es könnte sein, dass diese Benennung sich als vorläufig erweist: Je nach Text und innerem Gehalt könnte herauskommen, dass es eher eine ängstlich Angepasste ist, die sich einfach nicht traut, «Nein» zu sagen. Vielleicht stellt sich auch heraus, dass es zwei verschiedene sind, die aber eine Allianz bilden und unisono sprechen. Zum anderen ist da eine, die sich nicht gern ausnutzen lässt und von der eigenen Leistung allein profitieren möchte: Nennen wir sie vorläufig, um moralisch klingende Formulierungen (Egoistische) zu vermeiden, die auf sich selbst Bedachte.
Abb. 6 a:Jedes Mitglied des Inneren Teams hat eine Botschaft und erhält einen Namen
Abb. 6 b:Das Innere Team der Studentin
Bei der Namensgebung müsste natürlich die betreffende Studentin selbst maßgeblich mitentscheiden. Sie «kennt ihre Pappenheimer» und trifft oft auf «alte Bekannte». Vielleicht würde sie sagen: «Die kenne ich gut in mir, die sofort ‹Ja, gerne!› sagt und es immer allen recht machen will. Wie ich diesen Teil nennen würde? Am besten Frau Allenrecht!» Aber auch der Klärungshelfer kann ein Wörtchen mitreden, besonders wenn er den Eindruck gewinnt, dass der vorgeschlagene Name nicht ganz zur Botschaft passt. Vielfach ergeben sich treffende, sehr individuelle und zum Teil lustige Namen (Opa Humpel-Griesgram, Tante Klatsch und Tratsch, Dr. Altklug). Oder wenn jemand sich in irgendeinem System gut auskennt, zum Beispiel in der griechischen Mythologie, dann fallen ihm entsprechende Namen ein wie der Prometheus in mir, oder aus der Literatur: Parzifal, Don Juan, der eingebildete Kranke. Gute und zeitlose Literatur bringt ja Gestalten und Charaktere hervor, die wichtige Aspekte der menschlichen Seele «in Reinkultur» verkörpern, deshalb ist sie eine ergiebige Fundgrube für die Besetzung unserer inneren Bühne.
Auch Symbole (Bilder) können helfen, den Wesensgehalt eines Mitglieds genauer zu bestimmen, zum Beispiel eine Peitsche für den Antreiber, ein Paragraph für den Juristen in mir, der genaue Verträge vereinbart und eingehalten wissen will. Solche, auch frei zu erfindende Symbole werden ebenfalls eingezeichnet. Wenn wir den vorläufigen Namen (und/oder das Symbol) haben, können wir die Botschaft noch einmal genauer erkunden. Name und Text bringen sich gegenseitig hervor, bis eine endgültige Prägnanz erreicht ist. Dazu würde die Studentin...