Erstes Kapitel
Archetypen, Stereotypen, Supertypen
Oxford, 1923.
Und Cambridge, 1980.
Im Metroland, 1963, auch.
Weimar sowieso. Göttingen, Tübingen fast zur gleichen Zeit, eigentlich überall im 18. Jahrhundert.
Oder in Freehold, 1965.
Oder in Maine, fünf Jahre vorher. Und in Boston.
Und in Hamburg, nach dem Krieg und Mitte der siebziger Jahre und in Berlin nach der Wende und in Berlin gerade eben.
Wann hat das eigentlich angefangen? Ich gehe durch die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und finde in jedem ein neues Beispiel, ein neues Paar beste Freunde, aus dem echten und dem erfundenen Leben: Charles und Sebastian in Oxford (die hat sich Evelyn Waugh ausgedacht), Fry und Laurie in Cambridge (die leben bis heute). Es gibt sie im London, das Julian Barnes mal beschrieben hat, in Wolfgang Herrndorfs Roman «Tschick» und im Spätherbst 1730 in Küstrin.
Wobei es dort eher zu Ende ging. Aber auch damals begann es, wie meistens, mit dem Traum, einfach abzuhauen. «Die guten Geschichten», sagt Stephen King, der selbst genau so eine geschrieben hat, Maine 1960, «sind Geschichten übers Unterwegssein.» Er sagt «journey», was in den letzten Jahren im amerikanischen Jargon zu einem etwas esoterischen Wort geworden ist, um Lebenswege zu beschreiben, mit all ihren Höhen und Tiefen und Abzweigungen und den Unfällen entlang der Strecke, halb Oprah Winfrey, halb Bildungsroman. Alles folgt, in dieser Logik, einem Plan, auch wenn der unterwegs erst geschrieben wird.
Jedenfalls geht einer dieser Roadtrips am 6. November 1730 in Küstrin zu Ende, bevor er überhaupt begonnen hat. Eigentlich war es nur ein Traum. Vielleicht war es sogar nur Trotz und die ganze Sache ein Beispiel dafür, wie lebensgefährlich es werden kann, wenn man den Kopf verliert. Zwei Freunde, der eine will abhauen, über den Fluss und immer weiter, weil sein tyrannischer Alter ihn so oft schlägt, der andere hilft ihm dabei, obwohl er Skrupel hat. Es gibt sogar einen Plan, aber der ist total unausgegoren. Eigentlich gibt es nur das Drauflos. Es wird schon klappen, es wird schon alles zusammenpassen, irgendwie, später, wenn wir erst mal da sind. Die beiden fliegen auf, bevor es überhaupt losgegangen ist, und dann wird der eine zur Strafe des anderen enthauptet.
Eine preußische Geschichte, man merkt es an ihrem Ende. Es geht um Hans Hermann von Katte und den jungen Friedrich, der später der Große werden sollte. Im Grunde sind in dieser wahren Fluchtgeschichte von zwei Freunden die erfundenen schon angelegt, sie spiegeln sich darin auf eine Weise, dass es fast unheimlich ist. Als hätten diese Geschichten alle, irgendwie, immer schon voneinander gewusst. Als würden sie ihre Motive untereinander weiterreichen.
Friedrich hatte es also einfach nicht mehr ausgehalten – die Prügel seines Vaters, die Konflikte, die unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben, wie man heute sagen würde, das Geschirr, in dem er steckte und das sein Vater, Friedrich Wilhelm I., ständig fester anzog. Der König war fromm und brutal, ein gläubiger Schläger, der Prinz ein Flötenspieler und Feiertyp. Und er ist achtzehn Jahre alt. Genau das richtige Alter. Es reicht ihm jetzt.
«Ich bin in der größten Verzweiflung», gesteht Friedrich seiner Mutter 1729 in einem Brief. «Ich trat heute Morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer. Kaum hatte er mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in der grausamsten Weise mit seinem Stock auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich, mich zu wehren; er war in einem so schrecklichen Zorn, dass er sich nicht mehr beherrschte, und hielt erst inne, als sein Arm vor Müdigkeit erlahmte. Ich habe zu viel Ehrgefühl, um derartige Behandlungen zu ertragen, und bin entschlossen, auf diese oder die andere Weise ihnen ein Ende zu machen.»
Der Vater ist genauso entschlossen, ihm reicht es nämlich auch. «Ich hasse meinen Sohn», hat er angeblich einmal gesagt, «und ich weiß, dass mein Sohn mich hasst.» Unklar, was davon wahr war, der König ist depressiv, der Sohn in der Pubertät. Jedenfalls wäre es dem Vater am liebsten, dass Friedrich verzichtet und die Thronfolge seinem jüngeren Bruder überlässt. Aber das wäre ja noch schöner, wird Friedrich gedacht haben. Und noch viel schöner wäre es, den Vater vor den Augen der Welt mal so richtig vorzuführen.
«Ich gehe, um nicht wiederzukommen», schreibt der Kronprinz seiner Schwester Wilhelmine. «Ich kann den Schimpf, der mir zugefügt wird, nicht mehr ertragen, meine Geduld ist zu Ende.» Und Hans-Hermann von Katte, Leutnant des Kürassierregiments Gens d’Armes, acht Jahre älter, soll ihm dabei helfen. Die beiden treffen sich seit einiger Zeit oft am Nachmittag und hören zusammen Musik. Katte sei gekommen, wann immer er wollte, behauptete Friedrichs Kammerdiener später, «und wann er beim Kurfürsten gewesen, hätte niemand dabei sein dürfen.»
Wilhelmine kann diesen Katte nicht leiden, sie findet ihn zwar gebildet, aber wichtigtuerisch und vor allem hässlich, wegen seiner Blatternarben. Außerdem trägt Katte ein Bild der Prinzessin bei sich, der unverschämte Kerl. Friedrich soll seiner Schwester jedenfalls anvertraut haben, es gäbe da Freunde in seinem Leben, die bereit wären, wenn es darauf ankäme, ihm «an das Ende der Welt zu folgen». Katte wird der einzige sein, der dort ankommt.
Das ist der Plan bis ans Ende der Welt: Friedrich will sich auf einer gemeinsamen Reise mit seinem Vater absetzen, Katte soll später zu ihm stoßen. Von Ansbach aus will der Prinz über den Rhein erst nach Paris, dann weiter nach England. Katte rät, noch etwas abzuwarten, es lieber über Wesel und Holland zu versuchen. Aber Friedrich brennt der Boden unter den Füßen, wie Fontane später schreiben wird, er will weg. Jetzt. Nur stellt er sich am frühen Morgen der Flucht – es ist der 5. August 1730, die Reisegesellschaft macht Station in Steinsfurt im Kraichgau – dann so superdusslig an, dass sich seine Begleiter sofort zusammenreimen, was er vorhat: Friedrich trägt zum Beispiel einen roten Rock, obwohl jeder weiß, wie sehr der König derart Modepüppchenhaftes an ihm hasst. Der Prinz wird festgesetzt. Katte, der in Berlin wartet, auch.
Quälende Wochen folgen, Verhöre, Briefe, Gebete, Gnadengesuche, nichts hilft, der König, der seinen Sohn natürlich zwischendurch noch einmal durchgeprügelt hat, lässt sich nicht erweichen. Im Gegenteil. Er hebt ein erstes, milderes Urteil auf und beschließt: Katte, der Deserteur, muss sterben – besser so, erklärt Friedrich Wilhelm I., «als dass die Justiz aus der Welt käme». Der Prinz soll bei der Hinrichtung in der Festung Küstrin zuschauen, damit es ihm eine Lehre sei. Es ist eine preußische Geschichte, wie gesagt. (Und dass hier eine noch ältere Geschichte weitererzählt wird, ist schon den Augenzeugen aufgefallen: Der Garnisonsprediger Besser, der Katte auf dem Weg zur Hinrichtung begleitet, die Friedrich übrigens wohl doch nicht mit ansehen musste, nannte die beiden Jonathan und David – wie die besten Freunde aus dem Alten Testament also. Die Geschichte der beiden steht im Ersten Buch Samuel: David – das ist der, der Goliath erschlug – erregt den Zorn und die Eifersucht von König Saul, Jonathans Vater: Der fürchtet David, weil er glaubt, Gott könnte ihn bevorzugen. Und er gibt nicht nach, auch wenn David dem König wieder und wieder seinen Gehorsam erweist, ihn sogar verschont, als David selbst die Chance hat, sich zu rächen. Der König ist nicht davon abzubringen, er will den Kopf des besten Freundes seines Sohnes. Am Ende fallen dann aber Vater und Sohn im Kampf mit den Philistern – und David muss sie beide begraben.)
Wilhelmsburg, zweihundertfünfzig Jahre nach Küstrin. Beziehungsweise eigentlich keine Minute später: «Ich trat heute Morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer», erzählt der junge Uwe Schiedrowsky, dreizehn, Mutter im Supermarkt an der Kasse, Vater Hafenarbeiter, trinkt Bier am Steuer, schickt den Stiefsohn Zigaretten holen und ahnt dabei nicht, dass einer vom Kippenholen auch mal nicht zurückkommen könnte. Jedenfalls Uwe ungefähr so: «Kaum hatte er mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in der grausamsten Weise mit seinem Stock auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich mich zu wehren; er war in einem so schrecklichen Zorn, dass er sich nicht mehr beherrschte, und hielt erst inne, als sein Arm vor Müdigkeit erlahmte. Ich habe zu viel Ehrgefühl, um derartige Behandlungen zu ertragen, und bin entschlossen, auf diese oder die andere Weise ihnen ein Ende zu machen.»
Erst flieht Uwe nur zu Dschingis Ulanow, vierzehn. Der lebt bei seiner Mutter, will sie fragen, ob Uwe ein paar Tage bei ihnen übernachten kann, aber die Mutter hat was dagegen, das sei kriminell! «Es kann doch nicht gegen die Gesetze sein, wenn man Uwe hilft», jammert Dschingis, aber die Mutter ist stur. Besser so, sagt sie, als dass die Justiz aus der Welt käme. Da fasst Dschingis einen Entschluss: «Jetzt hauen wir beide zusammen ab.» Und das tun sie dann auch.
So ganz genau wortwörtlich war es natürlich nicht. Denk doch mal logisch, würde Uwe sagen, der junge Star aus Hark Bohms Film «Nordsee ist Mordsee», so redet ja kein Dreizehnjähriger: Ich habe zu viel Ehrgefühl, um derartige Behandlungen zu ertragen. Uwe sagt vielmehr zu Dschingis: «Es wird der Tag kommen, wenn er besoffen ist, und er macht mich an, da kriegt er solch ein’ in die Fresse» – und er ballt seine Faust.
«Nordsee ist Mordsee» – das ist einer der lustigsten und schönsten Funde, wenn man auf der Suche nach besten Freunden so durch die...