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E-Book

Warum Männer nicht nebeneinander pinkeln wollen

und andere Rätsel der räumlichen Psychologie

AutorWalter Schmidt
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644494015
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Wenn wir unser Büro einrichten oder einen Parkplatz suchen, wenn wir wandern oder vor einem Feuer im vollbesetzten Kino fliehen, wenn uns auf einer Party Fremde ansprechen oder wir Aufzug fahren, dann kommt immer unser Raumerleben ins Spiel, unsere Orientierung und unser Sinn für Grenzen und Distanzen. Wir fühlen uns wohl oder unbehaglich, nicht selten entsteht Streit. Walter Schmidt klärt die populärsten Fragen der räumlichen Psychologie und zeigt: Wir verhalten uns oft noch so, als lebten wir in der Steinzeit. Sogar unser Bett platzieren wir, als fürchteten wir uns noch immer vor einem Bären, der unsere Höhle für sich haben will ...

Walter Schmidt, Jahrgang 1965, ist freier Journalist, Schreibtrainer und Texter. Nach seinem Geographie-Studium in Saarbrücken und Vancouver besuchte er die Henri-Nannen-Schule und arbeitete u.a. als Pressesprecher für den BUND. 2011 erschien sein Buch «Dicker Hals und kalte Füße. Was Redensarten über Körper und Seele verraten. Eine heitere Einführung in die Psychosomatik», für das er den Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit erhielt.

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Leseprobe

Wie wir mit zu großer Nähe umgehen


Preisfrage: Wenn Sie einen leeren Zugwaggon mit 14 Vierersitzen betreten, wie viele freie Sitze finden Sie dann vor? Klar: genau 56. Doch wie viele sind es für einen zweiten Fahrgast, der eintrifft, wenn Sie schon sitzen? Aus mathematischer Sicht natürlich 55, aus psychologischer hingegen nur 52! Denn hat sich der erste Fahrgast irgendwohin platziert, fallen die anderen drei Sitze der betreffenden Vierersitzgruppe erst einmal weg, weil jeder zusätzliche Bahnfahrer sein eigenes Revier möchte – seinen persönlichen Vierersitz. Erst wenn keine Sitzgruppe mehr völlig frei ist, nehmen neu Hinzukommende die noch unbesetzten Plätze ein, in aller Regel erst einmal gegenüber den schon anwesenden Fahrgästen, nicht etwa neben ihnen. Nachdem sich zunächst also nur 14 anziehende Sitzmöglichkeiten geboten haben, kommen später 28 weitere Plätze in Frage (nämlich jeweils die beiden gegenüber den schon sitzenden 14 Personen). Dabei erkundigen sich die ersten quasi überzähligen Fahrgäste oft höflich, ob «hier noch etwas frei» ist. Erst wenn in allen Sitzgruppen zwei Reisende Platz genommen haben, füllen sich auch die restlichen 28 Sitze. Dasselbe Spielchen läuft auch in Gaststätten ab und ist der Grund dafür, dass Wirte es nicht mögen, wenn ein einzelner Gast einen Tisch mit vier oder gar sechs Stühlen besetzt. Menschen sind ganz schön kompliziert!

Aber wir sind eben auch biologische Wesen mit einer tierisch weit zurückreichenden Entwicklungsgeschichte. So wie Säuger, Vögel oder Insekten ihre Territorien haben, die sie mit Klauen, Schnäbeln und Stacheln verteidigen, mögen auch wir es nicht, wenn sich uns jemand ungebührlich nähert. Unsere Sprache bezeugt es: «Rück mir nicht so auf die Pelle», sagen wir, oder wir äußern beschwichtigend: «Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber Sie tragen da einen wirklich dämlichen Hut.»

Der 2009 verstorbene US-amerikanische Anthropologe Edward Hall entwarf das Konzept einer unsichtbaren und mehrschichtigen Schutzblase, die uns umgibt und deren Verletzen unweigerlich bestimmte, abgestufte Reaktionen zur Folge hat. Welche Distanz nicht unterschritten werden darf, hängt ganz davon ab, wie gut wir den Betreffenden kennen. «Enger Kontakt zu Fremden ist uns zuwider», schreibt der Mediziner und Autor Jürgen Brater in einem Buch über den Neandertaler in uns und zitiert Hidetoshi Kato. Der japanische Soziologe hält Städter im Vergleich zu Landbewohnern für weniger interessiert an unbekannten Mitmenschen, was in der Regel tatsächlich so sein dürfte. Doch weil es in Großstädten vor Unbekannten nur so wimmelt, stehen Städter vor einem heiklen Problem: Wie sollen sie auf so engem Raum ausreichend Abstand zu Wildfremden halten, die sie auf einem ansonsten menschenleeren Dorfplatz nicht näher als zwei Meter an sich heranlassen würden?

Kato zufolge erzeugt die erzwungene Nähe zu Unbekannten unguten Stress, beispielsweise in vollen Kaufhäusern oder einem Pulk von Wartenden. Schädlicher Stress kann aggressiv und angriffslustig machen, was nicht in Keilereien münden sollte, weil sonst in unseren Städten ständig die Fäuste flögen. Der «beste und sogar einzig mögliche Ausweg aus diesem Dilemma» bestehe darin, «die Menschen um uns herum zu verdinglichen»[29], sie als Sachen zu betrachten. Ganz anders als bei einem Fremden sei deren Anwesenheit in lediglich 30 Zentimetern Distanz nämlich problemlos erträglich.

Wohin es führen kann, wenn wir unsere Mitmenschen ausblenden, ist am besten in vollgestopften Nahverkehrszügen zu beobachten. Dort tun wir allerhand, um die Umstehenden oder dicht vor uns Sitzenden nicht anschauen zu müssen. Wir lesen ein Buch, senken den Blick oder heben ihn zur Decke. So wie man einen dominanten Gorilla-Mann im Urwald tunlichst nicht direkt anblicken sollte, um ihn nicht unnötig zu reizen, wenden wir uns von den anderen Fahrgästen vorsorglich ab. Noch wirksamer ist es, zu schlafen oder so zu tun. Dann verschließen wir buchstäblich die Augen davor, dass sich die anderen Bahnfahrer zum Teil in größtmöglicher Nähe zu uns aufhalten, was normalerweise heftigen Stress zur Folge hätte, weil unsere Intimzone verletzt worden ist. Edward Hall verstand darunter jenen innersten Schutzbereich, der an unserer Haut beginnt und 45 bis 50 Zentimeter entfernt von ihr endet. Jeder, der mit seinem Körperschwerpunkt – also nicht bloß mit den Füßen oder den Händen – in diesen Luftraum eindringt, sozusagen ins Allerheiligste, braucht eine sehr spezielle Erlaubnis, um nicht sofort abgewiesen oder sogar weggestoßen zu werden. «Bleib mir jetzt bloß vom Leib!», zischen wir sogar unseren Lebens- und Sexualpartnern zu, wenn wir uns mit ihnen streiten oder zum wiederholten Male kundtun wollen, dass wir gerade keine Lust auf Berührungen haben. Normalerweise jedoch gestatten wir unseren Lebensgefährten größte Nähe, bis hin zum Hautkontakt, sonst jedoch allenfalls einem engen Freund oder eigens befugten Menschen wie einem Arzt, der uns untersucht – und notgedrungen auch einem schwer abzuschüttelnden Manndecker beim Fußball, dessen Atem wir beim Eckball am Nacken spüren.

Unterschritten wird die Intimzone auch in vollgepackten Aufzügen. Als Reaktion darauf schauen alle im Lift in Richtung Tür; sie richten also ihre Blicke parallel aus, auch wenn diese so den einen oder anderen unschönen Hinterkopf streifen. Mit Fremden in einer Blechbüchse zusammengepfercht zu sein, die nur an Stahlseilen hängt und deren Tür sich nur ab und an öffnet, ist so ziemlich die unangenehmste Lage für Menschen, die einander nicht kennen. Zum Glück dauert sie meist nur Sekunden. Doch wehe, wenn nicht! Immer wieder haben Thriller, von «Abwärts» (1984) bis «Devil» (2011), die klaustrophobische Situation einer feststeckenden Fahrstuhlkabine spannend geschildert und dabei vorgeführt, wozu wir alle in Extremsituationen wie dieser fähig sind. Übrigens finden nicht nur Menschen es in Notlagen besänftigend, wenn alle in dieselbe Richtung starren können, sondern auch Kängurus. Um ihre Rangeleien und Boxkämpfe versöhnlich abzuschließen, setzen die berühmten Hüpfer sich manchmal in eine Reihe und schauen gemeinsam in die Ferne, als hätte es die Rauferei nie gegeben.[30]

Die nächste, schon etwas weiter ausgreifende Sphäre um uns herum ist die Privatzone oder personale Distanz. Sie beginnt etwa einen halben Meter entfernt von uns und endet bei etwa 1,20 Meter. Aufhalten dürfen sich in diesem Bereich zum Beispiel gute Bekannte oder sympathisch wirkende Gesprächspartner auf einer Party. Je wärmer wir beim Plaudern mit dem Betreffenden werden und je vertrauter wir uns mit ihm fühlen, umso dichter heran lassen wir ihn im Verlauf des Gesprächs.

Was wir jeweils als aufdringlich empfinden, mitunter gar als aggressiv oder respektlos, hängt beispielsweise davon ab, in welcher Kultur wir aufgewachsen sind: So kommen viele Südamerikaner, Afrikaner und Araber, aber auch Menschen aus der europäischen Mittelmeer-Region einander beim Reden deutlich näher als Deutsche oder Engländer, und sie berühren ihr Gegenüber auch eher. Ebenso stehen die Tische in Pariser Restaurants deutlich näher beisammen als in vergleichbaren in Hamburg, was französische Paare beim Abendessen nicht weiter zu stören scheint, viele deutsche aber die Stimme senken lässt oder zum Flüstern nötigt. Männer wiederum halten mehr Abstand zueinander als Frauen, womöglich schon, «um den Anschein von Homosexualität zu vermeiden», vielleicht aber auch, weil sie es infolge ihrer Erziehung «vermeiden, Abhängigkeit von anderen zu zeigen» oder überhaupt zuzulassen, vermutet der auch psychologisch geschulte Geograph Thilo Eisenhardt in seinem Buch über «Mensch und Umwelt».[31] Generell achten Männer offenbar stärker darauf, dass räumliche Grenzen respektiert werden, handeln also territorialer. «Frauen fühlen sich weniger bedroht als Männer, wenn ihre Handlungsfreiheit eingeengt ist. Sie sind eher bereit, einen Raum mit anderen Frauen zu teilen als Männer ihren Raum mit anderen Männern.»[32]

Je älter, desto distanzierter


Selbst das Lebensalter spielt eine Rolle: Während Kinder bis zu etwa sechs Jahren einander noch dicht auf den Pelz rücken – wie auch solchen Erwachsenen, denen sie vertrauen –, wächst ihre personale Distanz mit jedem zusätzlichen Lebensjahr kontinuierlich.[33] Auch Erwachsene halten zu Kindern für gewöhnlich einen umso größeren Abstand ein, je älter diese sind. Die Nähe kleiner Kinder stört hingegen meist nicht. «In einem Experiment mit 5-, 8- und 10-Jährigen, die sich in eine Schlange Wartender drängten, lächelten die Erwachsenen den 5-Jährigen zu, ignorierten die 8-Jährigen und rückten von den 10-Jährigen ab.»[34] Schließlich spielt auch Lebenserfahrung eine Rolle: «Je ängstlicher jemand ist, umso stärker hat er das Bedürfnis nach Kontrolle seiner Umwelt», befindet Eisenhardt.[35] Wer distanzlose Übergriffe, womöglich gar sexuelle, erleben muss, wird sich künftig sehr viel reservierter verhalten. Somit steuern auch Emotionen unser Distanzbedürfnis, wobei die Grundregel gilt: Je ähnlicher oder vertrauter uns jemand ist und je weniger furchtsam wir selber, desto eher darf er oder sie auf Tuchfühlung mit uns gehen.

Wenn...

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