1. «Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern» Kindheit und Jugend in Lübeck
Gegen Ende der fünfziger Jahre gehört der Sozialdemokrat Willy Brandt zu den am meisten beachteten Politikern der Bonner Republik. Seit er 1957 zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin gewählt wurde und die USA seine eindrucksvolle Standhaftigkeit auf diesem Vorposten der freien Welt rühmen, ist er zum Shootingstar seiner Partei aufgestiegen. Kaum jemand zweifelt daran, dass sie ihn für die nächste Bundestagswahl im September 1961 als Spitzenkandidat nominieren wird.
Dass er dem greisen Kanzler Konrad Adenauer auf Anhieb wirklich die Macht entreißen und der SPD zum lange ersehnten Durchbruch verhelfen könnte, hält das Gros der Deutschen allerdings für wenig wahrscheinlich – und im Übrigen auch gar nicht für wünschenswert. Immerhin haftet dem einstigen Emigranten der Ruch des Vaterlandsverräters an, und die Tatsache, dass er unehelich geboren wurde, gilt in der noch überwiegend konservativ-bigotten Nachkriegsgesellschaft als moralischer Makel. Einem solchen Mann das wichtigste öffentliche Amt anzuvertrauen, ist für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung unvorstellbar.
Um den Bedenkenträgern den Wind aus den Segeln zu nehmen, entschließt sich der ehemalige Korrespondent zu einer Art Vorwärtsverteidigung. Er engagiert einen Ghostwriter, der sich unter dem Pseudonym Leo Lania schon in den Jahren der Weimarer Republik als investigativer Journalist und Romancier einige Meriten erworben hat, und diktiert ihm im Herbst 1960 seinen «Lebensbericht».
Was seine Wurzeln betrifft, bleibt jedoch auch dieser in manchen Passagen etwas schwülstige Text ziemlich vage. Über der frühen Kindheit, bedauert der abwechselnd in der ersten und dritten Person Singular erzählende Willy Brandt, hänge leider ein dichter Schleier. «Wie Strandgut auf den Wellen der nordischen See», so gibt er zu Protokoll, zeigten sich in seiner Erinnerung an jene Zeit «schemenhaft Gestalten und Gesichter», die dann allerdings gleich zerflössen und vor seinen Augen verschwänden. Dass der am 18. Dezember 1913 in Lübeck unter dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm zur Welt gekommene Knabe «ich selber war», falle ihm «schwer zu glauben».
Über seine Eltern erfahren die Leser nur wenig. Die bei seiner Geburt neunzehnjährige Mutter Martha bezeichnet der Autor nicht ohne Respekt als «tüchtige kleine Verkäuferin im Konsumverein», während er sich zum Vater in der denkbar distanziertesten Form äußert: Dem sei er nie begegnet, habe nicht einmal gewusst, wer er war, und es auch nie wissen wollen.
Das mag für den jungen Herbert zutreffen – der aus der skandinavischen Emigration zurückgekehrte Willy Brandt dagegen weiß bereits seit 1947 Genaueres, aber darüber schweigt er konsequent. Da sich der Erzeuger, den er problemlos hätte ausfindig machen können, nicht nach ihm erkundigt habe, halte sich auch seine Neugier in Grenzen, bescheidet er unbeirrbar allen, die nach dem Grund seiner Gleichgültigkeit forschen. Erst seine dritte Ehefrau, die Publizistin Brigitte Seebacher, lockt ihn in den achtziger Jahren aus der Reserve.
Doch als er sich in den 1989 erschienenen und nun durchgehend von eigener Hand verfassten Memoiren endlich als Spross eines 1958 in Hamburg verstorbenen Lehrers namens John Heinrich Möller zu erkennen gibt, regt das kaum noch jemanden auf. Die Öffentlichkeit interessiert sich eher dafür, was der längst weltweit hofierte Sozialdemokrat über die Hetzkampagnen zu Beginn seiner bundespolitischen Karriere zu sagen hat. Damals hatte Konrad Adenauer die ungeklärte Herkunft seines Rivalen zum Reizthema aufgebläht, um dann lustvoll gegen diesen «Herrn Brandt alias Frahm» zu Felde zu ziehen.
Weshalb er seinerzeit nicht einfach «zurückgeschlagen» und die «banale Personalie» ungeniert «auf den Tisch» gelegt habe, fragt sich der sechsundsiebzigjährige Altkanzler nun selber und offenbart sich den Lesern als ein immer wieder seltsam gehemmter und zumal im Privatbereich beschwerlich «unbeholfener» Mensch. Mit den Umständen seiner Geburt sei ihm von Kindesbeinen an ein tiefsitzender, schmerzender «Stachel» eingepflanzt worden.
Der SPD-Spitzenkandidat von 1961 mag sich über solche Empfindungen noch nicht verbreiten. Als Regierender Bürgermeister pflegt er im geteilten Berlin das Image eines hochdynamischen Frontstadt-Kommandanten, dessen Medienstrategie amerikanischen Mustern folgt – und dieser auf möglichst unkomplizierte Rezeption seiner Vita bedachte Grundton bestimmt auch die von Leo Lania aufgezeichnete Rückschau. Welche Probleme ihm als Junge zu schaffen machen und wie sehr er sich in dieser Phase insbesondere nach einer männlichen Bezugsperson sehnt, verpackt der Ghostwriter bestenfalls in lockere Anekdoten.
Vermutlich leicht überzogen schildert er etwa jenen Augenblick, als der Großvater Brandts aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt. Obwohl der 1914 zu den Waffen gerufene Soldat Ludwig Frahm dem Enkel eigentlich fremd sein muss und «nach Schweiß, nassem Leder, Pulver und Öl stinkt», klettert der zutrauliche Steppke sofort auf seinen Schoß. Ihm zärtlich die Bartstoppeln kraulend, sagt er von Stund an «Papa» zu ihm.
Bis dahin verlaufen die Jahre, in denen der stille Herbert im Lübecker Arbeiter-Vorort St. Lorenz aufwächst, in einem nach seinen späteren Bekundungen ziemlich öden Gleichmaß. Weil die Mutter den Unterhalt zu verdienen hat und sich bei einem Wochenlohn von zwanzig Mark nur an Sonntagen um ihren Sohn kümmern kann, lässt sie ihn von einer Nachbarin versorgen. Materiell geht es ihm nicht schlecht; das belegen Fotos, auf denen er stolz in adretten Matrosenanzügen und einmal gar mit Pickelhaube auf dem Kopf posiert. Doch es fehlt ihm häufig die Nestwärme.
Er wolle «das mit der schwierigen Kindheit nicht dramatisieren», versichert der gerade zum SPD-Chef gewählte Politstar 1964 im Gespräch mit dem TV-Journalisten Günter Gaus, und es scheint ihm wichtig zu sein, der aufstiegsorientierten Mutter beste Absichten zu unterstellen. In seinem Bild, das er sich von ihr bewahre, sei sie «auf eine unverkrampfte Art naturverbunden und kulturhungrig» – eine umtriebige, strebsame Dame, die der sozialistischen «Freien Jugend» angehört und ein Abonnement bei der Lübecker «Volksbühne» besessen habe.
In Wahrheit hat er zu ihr wohl ein eher ambivalentes Verhältnis. Sosehr sich Willy Brandt nach dem Zweiten Weltkrieg um gute Kontakte zu seiner Familie bemüht, so unverblümt bringt er als alter Mann zu Papier, welchen Ursachen er seine Neigung zur Introvertiertheit anlastet: Da ihn die «Frau, die meine Mutter war», wie er eisig notiert, oft sich selbst überließ, habe er lange mit sich allein auskommen müssen, weshalb es ihm schwergefallen sei, seine «Gefühle und innersten Gedanken mit anderen zu teilen».
Doch als er knapp sechs Jahre alt ist und zu niemandem eine «wirkliche Nähe» verspürt, tritt ja gottlob der Großvater in sein Leben. Der stammt aus dem Mecklenburgischen, wo er sich auf einem gräflichen Landgut als miserabel behandelter Knecht durchgeschlagen hat, bis er sich zu Beginn des Jahrhunderts mit den Seinen ins nahegelegene Lübeck aufmacht. In St. Lorenz richtet er sich als Lastwagenfahrer zunächst in der Meierstraße 16 ein – später Herberts Geburtshaus –, aber dann stirbt unverhofft seine Frau Wilhelmine. Mit einer neuen, der erst dreiunddreißigjährigen Dorothea Sahlmann, die ihm 1919 angetraut wird, zieht er in eine von der Firma bereitgestellte Werkswohnung und unterstützt zugleich seine Tochter, indem er deren Sohn zu sich nimmt.
Der sensible, sich oft verkriechende Enkel ist darüber am Anfang noch unglücklicher als zuvor. Die «Tante Dora» kann er nicht ausstehen, während ihn die überforderte Mutter Martha, die Ende der zwanziger Jahre den Maurerpolier Emil Kuhlmann heiratet und mit ihm einen zweiten Knaben zeugt, nur noch sporadisch besucht. Umso enger klammert er sich an den «Papa», der mit seinem kahlgeschorenen Schädel und seiner gedrungenen, derben Gestalt, vor allem aber der «geistigen Statur» wegen einen enormen Eindruck auf ihn macht.
Von der Mutter nach Kräften herausgeputzt, aber häufig ohne Nestwärme: Herbert Frahm um 1920.
Dieser Ludwig («Ludden») Frahm, so entsinnt sich der spätere Staatsmann Willy Brandt gerne, sei in den Stürmen der Weimarer Republik eine «treue und genügsame Seele der Mehrheitssozialdemokratie» gewesen – und was immer der Großvater im drögen norddeutschen Platt an politischen Parolen zu verkünden hat, ist ihm hoch und heilig. In der Regel sind das die goldenen Worte des legendären, einige Monate vor der Geburt des Knaben zu Grabe getragenen Parteipatriarchen August Bebel.
Vor allem dessen Verheißung, der heruntergekommenen Bourgeoisie werde bald das letzte Stündlein schlagen und an ihre Stelle ein «Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit» treten, prägt sich dem wissbegierigen kleinen Herbert wie ein Lehrsatz ein. Obwohl die Alltagserfahrungen in der frühen Nachkriegszeit eine ganz andere Entwicklung nahelegen, ist der Junge nicht davon abzubringen, das hehre Versprechen für bare Münze zu nehmen. Und wenn er in den Arbeiterkneipen seines Viertels den fortschrittsgläubigen «Altvordern» lauscht, wie sie bei Bier und Köm die helle Zukunft beschwören, empfindet er eine «aufregend kitzelige Vorfreude».
Doch in Wirklichkeit sind das Träume. Welche tiefen Gräben die zu...