Kapitel 2 «Fliegenschmidt Globalklo»
Drei Tage später. Es ist Anfang Januar. Ein schriller Ton reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Die digitalen Ziffern meines Weckers spucken mir eine Fünf und zwei Nullen ins Gesicht. Es ist pechschwarze Nacht, und das Thermometer zeigt minus 16 Grad. Silvester steckt mir immer noch in den Knochen. Ich fühle mich wie in einem Albtraum.
Lautes Schnarchen dringt aus dem Zimmer meines Bruders, der über Silvester Gäste nach Berlin eingeladen hat. Ich schleiche durch den Flur. Auf dem Weg ins Badezimmer drehe ich die Heizung in der Küche voll auf, damit es gleich warm ist.
Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Toast bin ich endlich ein bisschen wacher. Ist ja nur für kurze Zeit, denke ich und glaube tatsächlich daran, dass ich diesen Job nur für ein paar Wochen machen werde. Eben bis mein Konto wieder ausgeglichen ist oder, wie Frau Lemming es ausdrückte, bis ich endlich wieder fairplay spiele.
Arbeitskleidung? Habe ich natürlich nicht. Nur ein paar alte Klamotten, die ich unten im Schrank gefunden habe. Vielleicht hilft meine alte Skiunterwäsche. Ich ziehe Lage für Lage Kleidung übereinander, schlüpfe in meine Lederstiefel, nehme Skimütze und -handschuhe aus der Kommode und verlasse die Wohnung. Die Kälte der vergangenen Wochen war schon brachial, aber dieser Morgen übertrifft alles. Und Berlin dröhnt mal wieder mit düsterer Tristesse.
Die Straßenränder sind gepflastert mit explodierten Böllern, die den Schneematsch rötlich färben. Ein Teppich aus zerbrochenem Glas knirscht unter meinen Stiefeln. Das klassische Überbleibsel eines Jahreswechsels.
Als ich über die Oberbaumbrücke zur S-Bahn-Station laufe, schneidet mir eisiger Wind ins Gesicht. Nicht weit entfernt prangt in riesigen Buchstaben über mehrere Dächer ein Graffito: Deutschland verrecke. Ich ahne, dass dieser Tag nichts Gutes bringen wird.
Wenigstens kann ich mich in der Bahn kurz aufwärmen. Erstaunlich, wie viele Menschen um diese Zeit bereits auf den Beinen sind. Dabei scheinen zwei Berliner Bevölkerungsgruppen miteinander zu verschmelzen: Hier die berauschten Clubgänger auf dem Weg ins Bett, dort die Angestellten und Arbeiter, auf die Büro und Stechuhr warten. In diesen Minuten sitzen sie sich gegenüber. Und zum ersten Mal habe ich die Seiten gewechselt.
Wirklich wach ist hier niemand. Die Blicke gehen starr aus dem Fenster oder auf den Boden. Niemand spricht. Was mache ich eigentlich hier?
Ich passiere das Ostkreuz. Der Bahnhof ist eine Großbaustelle. Erst 2016 sollen die Bauarbeiten beendet sein. Warum man nach der Wende nicht sofort das Ostkreuz umgebaut hat, anstatt den Ostbahnhof immer weiter zu modernisieren, ist mir ein Rätsel.
Ich fahre am «Darth Vader» vorbei, wie die Berliner den alten Wasserturm am Ostkreuz nennen. Er ist jetzt durch den neuen gigantischen Bahnhof aus Glas und Stahl traurig in der Ecke eingequetscht und wird von den neuen Gleisen fast tangiert. Nach einer gefühlten Stunde muss ich raus und folge an vereisten Autos vorbei den Schienen und biege dann links ins Nirgendwo ab. Am Ende der Straße ist der alte Speicher erkennbar. Der Ostwind ist auf der offenen Fläche noch beißender und brennt schmerzhaft auf der Haut. Die Kälte kriecht unerbittlich durch alle Kleidungsschichten. Selbst die Skihandschuhe nutzen nichts. Mir ist bitterkalt.
Für einen kurzen Moment verlässt mich der Mut, ich denke an mein warmes Bett, und meine Schritte werden langsamer. Gibt es nicht doch eine andere Möglichkeit?
Nein, ich ziehe das jetzt durch, sage ich mir und denke heimlich: zumindest mal für einen Tag. Nur diesen einen Tag.
Je näher ich dem Speicher komme, desto imposanter wirkt das über 100 Jahre alte Gebäude aus rotem Backstein. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts erbaut, war es Teil eines Werks und diente als Getreidespeicher. Es ist heute das einzige noch existierende Haus der Fabrikanlage. An der Südfassade sind im Mauerwerk noch Verdunkelungen sichtbar, wo damals eine gläserne Fußgängerbrücke das Gebäude mit dem Rest des Komplexes verband.
Schon von weitem sehe ich mehrere Männer, die Kaffee trinkend und Zigaretten rauchend in Gruppen vor dem Bauzaun stehen. Bevor die Uhr Punkt sieben schlägt, rührt hier offenbar niemand einen Finger.
«Guten Morgen», sage ich laut.
Ich ernte kritische Blicke, und nur wenige nuscheln ein kaum verständliches «Morgen». Lediglich eine Gruppe, die etwas abseits steht und sich aufgeregt auf Arabisch unterhält, grüßt freundlich zurück.
Mir kommt ein hünenhafter Arbeiter entgegen, der seine Maschinen wie Kinderspielzeuge trägt. Auf der linken Seite hat er ein Rührgerät unter dem Arm eingeklemmt und einen mit Steinen gefüllten Eimer in der Hand. Rechts hält er einen Stemmhammer auf seiner Schulter. Ich will ihn ansprechen, doch er ist schneller, setzt den Hammer ab und reicht mir die Hand.
«Hans, Morgen.»
«Nicholas, Morgen», antworte ich und blicke dabei in ein Gesicht mit klaren Linien und freundlichen hellblauen Augen. Er ist tadellos rasiert, und sein Aftershave vermischt sich mit dem Geruch seiner frisch gewaschenen Kleidung, die wie neu wirkt. Ich bin selber kräftig und sportlich gebaut, doch als ich Hans die Hand gebe, fühle ich mich wie ein zehnjähriger Junge.
«Wo finde ich denn den Peter? Der macht hier die Bauleitung, oder?»
«Der is oben. Zweiter Stock. In seiner Hütte.»
«Danke.»
Was für eine Hütte?, denke ich, als ich die Treppe hochsteige. Oben angekommen, traue ich meinen Augen nicht. Da steht tatsächlich eine selbstgezimmerte Holzhütte. Ich klopfe an.
«Ja!»
«Hallo, ich soll mich hier bei Peter melden, ich hatte mit Katrin telefoniert», rede ich mit den Brettern vor meiner Nase. «Komm rein.»
Ich öffne die Tür und muss erst mal eine dicke blaue Wolldecke, die offenbar als Kälteschutz dient, beiseiteschieben. Die Decke ist so dreckig, dass ich direkt eine Ladung Staub einatme. Es riecht nach Heizungsluft, Kaffee und nassem Hund.
Ich sehe mich um. Ein Schreibtisch mit einem Computer. Regale mit Ordnern. Hundefutterkonserven in der Badewanne! Ein riesiger Rhodesian Ridgeback hockt sabbernd auf einer Art Bett. Das muss ich mir doch einbilden. Ich schließe meine Augen und öffne sie wieder. Nein, Bett, Badewanne und Hund sind immer noch da. Unglaublich, der hat sich hier wirklich einquartiert.
Peter hat leicht schütteres graues Haar, ist unrasiert und hat überproportional große Ohren. Alles in allem erinnert er mich an einen Leprechaun, den Kobold aus der irischen Mythologie. Ob er den Goldtopf unterm Bett versteckt hat?
«Morgen, ich bin Nicholas.»
«Peter, Morgen. Willkommen am Speicher! Na, dann schaun wa mal», sagt er und drückt mir kräftig die Hand. «Is dat deine Arbeitskleidung?»
«Äh, ja.»
«Wennde hinter die Hütte gehst, da isn Regal mit alten Arbeitsschuhen, such dir wat Passendes! Muss dat hier eben noch erledigen, dann komm ich raus.» Peter setzt sich wieder an den Computer und ich bin froh, aus der miefenden Bretterbude rauszukommen. Draußen nehme ich eine metallische Note in der Luft wahr. Aus der Ferne höre ich, wie Stahl geschnitten wird – zumindest reime ich mir Geruch und Geräusch so zusammen.
Die Außenwände der Hütte sind bespickt mit Nägeln, an denen unzählige Werkzeuge aufgehängt sind. Das Ganze erinnert mich an eine einsame Holzfällerhütte irgendwo in Sibirien, fehlt nur noch die Bärenfalle an der Wand.
«So, damit fangen wa heute mal an.» Ein riesiger Stemmhammer lacht mir entgegen. «Es wären da noch so einige Kappendecken zu durchbrechen», nuschelt Peter durch seinen Kaffee und reicht mir Handschuhe, Schutzbrille, Staub- und Gehörschutz. «Wird wenigstens schön warm, der Hammer!», ergänzt er noch grinsend.
Hoffentlich hat er recht, denn meine Hände sind bereits Eisklötze, und ich kann es nicht erwarten, die Handschuhe anzuziehen und die Wärme der Maschine zu spüren. Wir laufen zwei Stockwerke höher über die weißgraue Granittreppe, und ich breche beinahe unter dem Gewicht des 30-Kilo-Hammers zusammen. Wie soll ich den nur den ganzen Tag halten?
Das Gebäude ist gigantisch. Im vierten Stock erstreckt sich vor mir ein scheinbar endloser Raum, durchzogen von Stahlträgern auf Stahlstützen. Peter zeigt auf das etwa drei Quadratmeter große Loch im Boden und fragt:
«Haste dat schon mal gemacht?»
«Decken habe ich noch nicht durchbrochen, aber …» Ohne mich meinen Satz beenden zu lassen, unterbricht Peter: «Musst aufpassen, dass de da nich mit runterknallst, wenn die Kappendecke bricht, ne?»
«Äh, Kappendecke, was ist das?»
«Da stehn wir drauf. Dat sind zwei Doppel-T-Träger – die siehste da an der Seite –, die bilden die Widerlager, und da drin sind dann die Steine mit Zement, siehste ja, ne?»
«Hm, ja, okay», sage ich, ohne wirklich verstanden zu haben, was er meint.
«Pass ma auf, ich zeig dir dat kurz.» Und schon lässt Peter den Meißel auf den Beton krachen, und ein ohrenbetäubender Lärm erfüllt den Raum. Ich halte mir die Ohren mit den Fingern zu, während die ersten Steine nach unten sausen.
«Immer schön gucken, wo de stehst. Musste aufpassen!»
«Mhm. Werd dran denken.»
«Denken? Aufpassen sollste!»
«Eine Frage hätte ich noch.»
«Wat denn?»
«Wie machen wir das jetzt, ich meine, Vertrag, Stundenzahl und so. Und zwölf Euro die Stunde stehen, oder? Ich …»
«Ich will erst mal sehen, ob de wat kannst. Dann sehen wa weiter. Aber die zwölf Euro stehen.»
«Ah,...