KINDERSPIELE
Deutschland in den 1980ern: Ich griff mit geschlossenen Augen in eine Schüssel mit Smarties, genau wie die fünf Klassenkameraden, die ich in meiner ersten Klasse kennengelernt und die ich zu mir nach Hause eingeladen hatte. Wer einen grünen Smartie erwischte, musste suchen. Wir spielten Verstecken und hatten die ganze Etage als Spielfeld. Während der Sucher noch zählte, rannte ich ins Wohnzimmer. Es war schließlich unser Haus, und ich rechnete mir Heimvorteil aus, weil ich es besser kannte als die anderen. Ich wusste zum Beispiel, dass auf dem Sofa zwischen den Kissen und der Rückenlehne ein Zwischenraum war, in den ich gerade so hineinpasste. Außerdem lag dort, auch das wusste ich, noch eine Decke, die gefaltet steif genug war, dass ich sie aus meinem Versteck über mich ziehen konnte, ohne dass sie zu sehr verrutschte. Ich grinste in mich hinein, schlüpfte in mein Versteck und richtete mich auf langes Warten ein. Ich freute mich, dass die Klassenkameraden bei mir waren und dass ich ausgerechnet Versteckenspielen durchgesetzt hatte. Denn ich genoss die Wortlosigkeit des Spiels. Hier musste ich nichts verstehen. Meinem Geschmack nach waren zu viele der gängigen Kinderspiele aufs Reden und Verstehen ausgerichtet. Und während manch andere für diese Einschätzung bis ins hohe Alter brauchen, war mir schon in frühen Jahren klar: Kinder reden zu undeutlich, zu schnell und, wenn es mehrere sind, zu durcheinander. Etwas mehr Ordnung täte ihnen gut.
Was gespielt werden sollte, bekam ich meist erst mit, wenn es schon losging. Und mit Abstand Schlusslicht auf meiner Rangliste der Kinderspiele war Stille Post. Sobald jemand auch nur die Möglichkeit erwähnte, Stille Post zu spielen, krümmte ich mich innerlich. Der Reiz des Missverstehens war mir – wen wundert’s – völlig fremd. Leider war das Spiel bei Kindergeburtstagen sehr beliebt. Heute vermute ich den Grund dafür auch bei den Eltern. Denn kein anderes Spiel erlaubt es, eine große Gruppe Kinder freiwillig ordentlich am Tisch sitzen zu lassen. Ich hasste das Spiel seit der ersten Begegnung.
Es muss der Geburtstag meiner Nachbarin gewesen sein. Wir saßen um den geschmückten Tisch herum, über uns baumelten Luftballons und Luftschlangen. Es gab Schokoladenkuchen, alles war gut. Dann fragte die Mutter, ob wir nun Stille Post spielen wollten, und alle waren begeistert, inklusive mir. Wir waren gutgelaunt, spiellustig und ich brüllte einfach mit. Ich wusste zwar, dass dieses Spiel mit Ins-Ohr-Sprechen zu tun hatte, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken daran. Ins-Ohr-Sprechen kannte ich ja. Das machte meine Mutter, wenn sie merkte, dass ich nicht gut verstand. Ins-Ohr-Sprechen war für mich etwas, das das Verstehen erleichterte. Die anderen müssen so ähnlich gedacht haben, denn auch sonst kam niemand auf die Idee, dass dieses Spiel vielleicht nichts für mich sein könnte. Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich einließ. Mit Flüstern hatte ich keine Erfahrung. Der Kuchen wurde abgeräumt und weil sie das Geburtstagskind war, durfte meine Nachbarin anfangen. Sie grinste, verdeckte ihren Mund mit der Hand und flüsterte ihrem Tischnachbarn ins Ohr. Fünfmal Gekicher und Gewispere später kam die Reihe an mich. Ich beugte mich vor und horchte konzentriert.
«Bsbsbsbsbsbsbsbs.»
Da saß ich nun.
«Ähm. Was?», fragte ich. Meine Eltern hatten mir oft genug gesagt, dass ich nachfragen musste, wenn ich etwas nicht verstanden hatte. Und die anderen wussten ja auch, dass ich schlecht hörte.
«Sag noch mal», bat ich den Tischnachbarn.
«Ja klar», hörte ich deutlich in normaler Lautstärke. Und wieder leise: «Bsbsasasse wa ka jaassbsbsbs.»
Erst hier fiel mir auf, in welchem Dilemma ich saß. Alle anderen am Tisch hörten besser, sahen hochaufmerksam zu und durften trotzdem nichts mitbekommen. Ich würde es nicht anders und schon gar nicht lauter haben können. Ich hatte keine Ahnung, was da gesagt worden war. «Die Sparkasse» vielleicht? Und irgendwas dazu. Die anderen sahen mich an. Mir fiel nur eine Lösung ein. Ich beugte mich zu meinem Tischnachbarn.
«Bsbsasasse wa ka jaassbsbsbs», sagte ich, alle Laute, die ich gehört hatte, so gut ich mich erinnerte imitierend.
Um die Überzeugungskraft zu erhöhen, schickte ich noch ein Lächeln hinterher. Mein Tischnachbar verzog keine Miene, drehte sich mit ernstem Gesicht um und flüsterte weiter. Das war scheinbar einfacher als gedacht. Ich sah zu, wie die Botschaft weiter um den Tisch lief. Ich ärgerte mich, dass ich nicht richtig drin war in dem Spiel. Doch ich war erleichtert, dass es so gut funktioniert hatte: Ich saß mit am Tisch, ich hatte nicht aus dem Spiel aussteigen müssen. Und ich war mir sicher, ich hatte entscheidend dazu beigetragen, dass am Ende alle lachen konnten, weil aus «Die Straßenbahn kam angefahren» schließlich «Die Tante las im Garten lahm» geworden war. Oder zumindest so ähnlich.
In der zweiten Runde hörte ich noch ein wenig besser hin.
«Bsbsbsbsbsbsbsbs.»
Genau das hatte ich doch eben schon gehört! Und wieder sagte ich: «Sag noch mal.»
Ich merkte damals gar nicht, wie sehr diese Frage dem Geist des Spiels widersprach. Die anderen allerdings umso mehr.
«Das ist Stille Post. Du sollst nicht fragen, bis du’s verstehst!»
Ich blieb also bei Mimikry und nachdem ich insgesamt drei Durchgänge überstanden hatte, wurde ich es leid. Ich beschloss, meinem Nachbar ins Ohr zu flüstern, an was mich das Gewisper erinnerte.
«Mstssaaan», hörte ich etwa.
«Mäusezahn», flüsterte ich selbstgewiss ins nächste Ohr. Den anderen schien nichts aufzufallen. Das war ja einfach! Ich wurde mutig.
«Eatzekattenipps ain», hörte ich.
«Der Matze hat ein Gipsbein», sagte ich, ohne darüber nachzudenken.
«Achwannaweesinxum nechtanansiikaaanein.»
«Nach Panama geht es immer linksrum, rechts kann es nicht sein.» Ich kannte meinen Janosch.
Das ging auch eine Weile gut. Bis ich auf einmal als Letzter an der Reihe war und sagen sollte, was ich gehört hatte. Hier konnte ich mich nicht in der Runde verstecken, hier musste ich Farbe bekennen. Hier sah mich einer, der ganz genau wusste, was er gesagt hatte, aufmerksam an. Ich traute mich nicht, mir hier etwas auszudenken, denn ich wollte nicht auffliegen.
Ich sagte: «Bsbsbsbsbsbsbsbs.»
Nach diesem ersten Mal mied ich Stille Post so gut es ging. Ich merkte jedoch bald, dass dies nicht das einzige Spiel war, in dem ich nur verlieren konnte. Für «Feuer, Wasser, Donner, Blitz» fiel mir gar keine Gegenstrategie ein. Wir liefen im Raum herum – und plötzlich wurde ein Wort gerufen, auf das wir reagieren mussten. Während alle anderen sich sofort auf den Boden kauerten («Blitz»), sich hinter irgendetwas versteckten («Feuer») oder sich irgendetwas Herumliegendes schnappten und über den Kopf hielten («Wasser»), musste ich zuerst gucken, was die anderen machten. Dann erst konnte ich reagieren. Ich war damit fast immer die entscheidende Sekunde zu langsam, wurde Letzter und schied aus. Verließ ich mich dagegen auf meine Ohren, reagierte ich bei drei von vier Rufen falsch – und schied ebenfalls aus. Ich war ratlos.
Zur allgemeinen Verblüffung war ich im Topfschlagen ein Held. Selbst meine Eltern hatten gedacht, dass ich bei diesem Spiel ganz schlecht abschneiden müsste; ging es doch darum, sein Ziel blind, nur mit Hilfe von Zurufen, zu finden. Und dies oft noch vor dem Hintergrund einer Geräuschkulisse wie im Zirkus von Rom. Für mich dagegen war Topfschlagen das erste Beispiel dafür, dass man anders als gedacht oft besser zum Ziel kommt. Denn ob es nun «warm», «kääälter» oder «gaaanz kalt» hieß, war für mich unwichtig – obwohl ich es öfters sogar verstand. Immerhin gab es eigentlich nur zwei Worte auseinanderzuhalten. Statt mich durch die Rufe der anderen leiten zu lassen, prägte ich mir den Raum gut ein, bevor ich die Augen verbunden bekam, passte beim Drehen genau auf, wie häufig und wie weit ich mich gedreht hatte und lief dann den Raum systematisch ab. Staubsaugerroboter wissen, was ich meine. Mit dieser Strategie gewann ich tütenweise Gummibären und schachtelweise Schokolade. Doch leider verdarb ich damit nicht nur jenen den Spaß, die mich mit ihren Rufen irreführen wollten. Ich konnte den Erfolg nur kurz genießen. Denn wenn ein Spiel so gut funktionierte, war auch für mich schnell der Reiz weg. Topfschlagen stand auf der Liste meiner Lieblingsspiele darum nur knapp über Stille Post.
Wirklich wortlose Spiele wie Verstecken dagegen genoss ich sehr. Ich quetschte mich also im Haus meiner Eltern auf dem Sofa zwischen die Kissen, freute mich und wartete gespannt. Ein kleiner Schlitz zwischen den Lagen der Decke erlaubte mir, den Sucher eintreten zu sehen. Als Erstes schaute er hinter die Tür. Ha! Mich dort zu verstecken, hatte ich auch kurz überlegt. Die hohe Kunst unseres Spiels bestand schließlich darin, sich möglichst offensichtlich zu verstecken – und doch damit davonzukommen. Jetzt war ich froh, dass ich die Idee gleich wieder verworfen und es dieses Mal nicht riskiert hatte. In meinem so unglaublich gut ausgedachten Versteck lachte ich still in mich hinein. Doch die Freude währte nicht lang. Einen Moment noch stand der Sucher unschlüssig im Zimmer herum, dann ging er überraschend zielstrebig auf mich zu. Ich hielt den Atem an.
«Ich weiß, dass du da bist! Komm raus», rief er. Und zog das Kissen weg.
Das mit der Decke hatte wohl doch nicht ganz so gut funktioniert. Es war wohl doch sichtbar gewesen, dass darunter jemand lag. Na gut, tröstete ich mich, während der Sucher bereits ins nächste Zimmer rannte. Neues Spiel, neues Glück. Und wir hatten ja noch einige Runden vor...