Ouvertüre
Mitgift
Mitgift – ich kann dieses Wort drehen, wie ich will: Es bleibt schillernd. Als Brautgabe besitzt es Wohlklang. Es lässt an Hochzeiten des Lebens denken. Oder an das von Jesus offerierte himmlische Hochzeitsmahl. Es weckt Gefühle von überraschendem und unverdientem Beschenktsein. Als würde unerwartet ein Mensch ins Leben treten, den man als immer schon vertraut erkennt. Dieses Gefühl hat für mich eine warme Farbe und einen sanften Ton. Rainer Maria Rilke muss es gekannt haben. Wie hätte er sonst gedichtet:
Du kommst und gehst. Die Türen fallen
viel sanfter zu, fast ohne Wehn.
Du bist der Leiseste von Allen,
die durch die leisen Häuser gehn.
Man kann sich so an dich gewöhnen,
dass man nicht aus dem Buche schaut,
wenn seine Bilder sich verschönen,
von deinem Schatten überblaut;
weil dich die Dinge immer tönen,
nur einmal leis und einmal laut.
Oft wenn ich dich in Sinnen sehe,
verteilt sich deine Allgestalt:
du gehst wie lauter lichte Rehe
und ich bin dunkel und bin Wald.
Du bist ein Rad, an dem ich stehe:
von deinen vielen dunklen Achsen
wird immer wieder eine schwer
und dreht sich näher zu mir her,
und meine willigen Werke wachsen
von Wiederkehr zu Wiederkehr.
Rainer Maria Rilke
Mit Gift
Andererseits: Kaum zerlege ich das Wort in zwei Teile, verändern sich Ton und Farbe von Grund auf. »Mit Gift« signalisiert mir dann ganz anderes. Tiere wie Schlangen oder Spinnen kommen mir in den Sinn. Die Atmosphäre kann vergiftet sein, ökologisch wie zwischenmenschlich – etwa nach einer Trennung oder Scheidung. Giftige Vorgänge beschädigen auch in Organisationen, politischen Parteien, Unternehmen, Fakultäten, aber auch christlichen Kirchen das Klima. Wer wie ich jahrzehntelang in einer Kirche gedient hat, kennt solches Kirchen-Gift besser als viele, welche bisweilen die Kirche ätzend von außen kritisieren und dabei gar nicht bemerken, wie sehr sie eigene seelische Nöte der Kirche aufladen.
Ich werde mich freilich hüten, in meinen Erzählungen selbst giftig zu sein und zu vergiften. Obwohl die letzten Jahrzehnte mir wiederholt Anlass gegeben haben, mich über Ereignisse zu »giften«. In der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils erlebte ich einen unglaublichen Aufbruch. Und litt danach unter dessen schleichendem Abbruch. In diesen dunklen Zeiten tröstete mich ein Spruch von Karl Valentin. Mitten in den grausamen Jahren des Nationalsozialismus rief er den Leuten von der Bühne herab zu: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.«
Dieses doch ziemlich ohnmächtige Kirchen-Gefühl hat mich in den letzten Monaten gänzlich verlassen. Der Grund hat einen Namen und ein lateinamerikanisches Gesicht: Franziskus, Bischof von Rom. Ich hätte mir nicht träumen lassen, eine solche Zeit der Kirche in meinem fortgeschrittenen Alter noch einmal zu erleben. Es fühlt sich an, als ob man sich nach Jahren eingewohnter Einsamkeit »unsterblich« in einen Menschen verliebt, der den Lebensweg unvorhergesehen kreuzt.
Eine Autobiografie anderer Art
Ob es Sinn macht, aus meinem Leben zu erzählen und die Geschichte(n) auch noch zu drucken? Dienen Memoiren nicht lediglich der Befriedung eines ungepflegten Narzissmus? Andererseits will ich nicht einfach eine Pflichtautobiografie abliefern, sondern riskiere eine »Autobiografie anderer Art«. In ihr wird mein Leben wie ein Faden sein, der größere gesellschaftliche wie kirchliche Themen zusammenhält. Viele dieser Ereignisse haben mich geprägt, andere wiederum konnte ich selbst in bescheidenen Grenzen mitgestalten. Vieles habe ich freudig erlebt, anderes dunkel durchlitten. Zwischen diesen Polen verlief der ganz normale Wahnsinn des Alltäglichen. Und all das schicke ich mich an zu erzählen und spirituell und theologisch zu bedenken. Ich stehe mit meinen Erfahrungen nicht allein da. Das ist mir in vielen Vorträgen – einmal kam ich in einem Jahr auf fast 160 – , auf zahlreichen Kursen, in langen nikodemischen Nachtgesprächen klar geworden. Es mag also durchaus sein, dass manche im Spiegel meiner spirituell wie theologisch ausgeleuchteten Geschichte sich selbst ein wenig besser verstehen. Schön wäre es für mich, wenn sie dank meiner Erzählungen mit dem, was sie zumal in der Kirche erfreut und was sie erlitten haben, gelassener zurechtkommen.
Ich werde mein Leben vom »Ende« her aufrollen. Ich erzähle zunächst, was mich jetzt bewegt und erst danach, was ich die Jahre hindurch geworden bin. Von dem, was ich heute bin, schaue ich an die Anfänge meines Lebens zurück. Ich versuche zu verstehen, was mir widerfahren ist und was ich damit zu machen trachtete. Ich habe Günter Anders im Ohr, der mahnte zu bedenken: »Ja, was tue ich denn da eigentlich? Ja, was tut man mir denn da eigentlich?«1
Ich will Sie gewinnen, mir nicht nur beim Erzählen wohlwollend zuzuhören, sondern zumal bei den Deutungen skeptisch zu begleiten. Vieles, was mir nahegegangen ist, haben andere anders erlebt. Ich kann nur von meiner Warte aus den langen verschlungenen Weg überblicken. Manches kann ich erklären, vieles wird als unerklärlich stehen bleiben. Während des autobiografischen Erzählens werde ich da und dort innehalten. Dann werde ich mich über das Erlebte »zurück-beugen«, also das Erlebte »re-flektieren«. Das kann ich als Praktischer Theologe einfach nicht lassen. Denn die erlebte Praxis ist eine der besten Erkenntnisquellen.
Wenn ich mein Smartphone einschalte, begrüßt mich der Anfang des von Johann Sebastian Bach so grandios vertonten Chorals »Wer nur den lieben Gott lässt walten«. Dieser spirituelle Text hat mich über viele Jahre begleitet. Seit Jahren habe ich mir angewöhnt, jeden Morgen um sechs Uhr zu meditieren. Jeden Montagmorgen singe ich den Choral als Lied, hoffend dass auch jemand anderer mitsingt, um die anhebende Woche unter sein Motto zu stellen. Dieser Liedtext ist mir behilflich, das viele Unerklärliche, das Helle und Dunkle, in meinem Leben auch dann anzunehmen, wenn ich es nicht begreife. Erst wenn ich auf der anderen Seite des Todesufers angekommen bin, werde ich mein Leben in Gottes Armen und mit seinem Erbarmen erklärt bekommen.
Arbeiten und Lieben
Mir ist es immer dann gut gegangen, wenn meine beiden Lebensbeine gesund waren. Diese sind »Arbeiten und Lieben«2. Beim Lieben berührt mich das Zweckfreie: die Anbetung, die Gottesliebe, die Beziehungen zu anderen Menschen, zur Mitwelt. Beim Arbeiten beschäftigt mich Zweckvolles: Da will ich schöpferisch sein, ein Werk hervorbringen, meine eigene Geschichte schreiben und mich selbst ein Leben lang »erschaffen«. Diese »Selbstverwirklichung« erlebe ich als Gottes große Zumutung. Sie weist mich als Ebenbild des schöpferischen Gottes aus. Wenn sich Lieben und Arbeiten in meinem Leben ergänzen und tragen, dann »geht« es mir buchstäblich gut.
Was aber ist, wenn eines der beiden Lebensbeine lahmt? Wie ginge es mir, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte? Was macht es mit mir, wenn eine liebevolle Beziehung zerbricht? Immer wenn solches geschah, ging es mir nicht gut. Es macht mir bis heute zu schaffen, wenn eines der beiden Lebensbeine beeinträchtigt ist. Ich spüre, wie dann das andere überlastet ist und in Mitleidenschaft gezogen wird.
Ich beginne mein autobiografisches Erzählen mit dem »Arbeiten«. Es bildet nach dieser Ouvertüre den ersten Satz meiner autobiografischen Lebenssinfonie. Dafür entscheide ich mich schon allein deshalb, weil es mir leichter fällt, davon zu berichten. Die Arbeit war und ist zudem mein Lebensschwerpunkt. Manche sagen mir seit meiner Emeritierung: »Jetzt bist du in Pension und hast viel Zeit.« Ich erwidere: »Ich bin nicht in Pension. Ich bekomme eine.« Mich hat meine Arbeit immer fasziniert und gepackt. Ich habe gern gearbeitet und mache das noch immer. Die Emeritierung hat daran nichts geändert. Würde ich sonst dieses Buch schreiben?
Spät oder zu spät habe ich entdeckt, dass ich lange Zeiten meines Lebens hindurch in die Arbeit geflohen war. War für mich Arbeit manchmal Zuflucht, ja Flucht? Gar vor dem Lieben? War ich ein »Liebesflüchter«, ein »Beziehungsmuffel«? Darüber mehr im zweiten Satz der Sinfonie, in dem ich von meinem Lieben erzählen will.
Arbeiten und Lieben im Gleichgewicht zu halten, betrachte ich als eine der hohen Lebenskünste. Mir ist das lange nicht gelungen. Der Weg zur Balance verlief über aufkeimendes Leiden und wachsende Unruhe. Spät in der Nacht, nach einer Heimkehr aus Brixen nach Passau 1980, habe ich ein Gedicht verfasst. Ich fühlte mich damals wie ein Workaholic, der von einer Vortragsreise müde in seiner leeren Wohnung ankam.
die hände ausgestreckt
müde gerädert
dem nachtzug entstiegen
leer die wohnung
niemand der wartet
der körper ermattet
doch das herz auf reisen
es flieht aus der leere
und sucht deine nähe
vergeblich das läuten
keine verbindung
du bist selbst auf reisen
von arbeit gebunden
leer bleibt die wohnung
erschöpft auch der körper
spiegel der seele
herr, sag, wo bist du?
Allerdings verblieb ich nicht beim Klagen. Ich spürte, wie das Erlittene sich zunehmend in Widerstand wandelte....