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Mittelschicht unter Druck?

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783867934787
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Die soziale Schere öffnet sich immer weiter: In der Bundesrepublik Deutschland wächst die Armut am unteren Ende der Gesellschaft - am oberen Ende steigt der Reichtum. Bedeutet das das Ende der traditionellen Mittelschichtgesellschaft? Tatsächlich wird die Status-sicherung schwieriger: Soziale Ungleichheiten und Unsicherheiten verstärken die Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft. Status, Bildung und Beruf, über lange Jahrzehnte Faktoren, die das Selbstverständnis für die breite Mitte bestimmt haben, geraten ins Wanken. Vor diesem Hintergrund veröffentlicht die Studie 'Mittelschicht unter Druck?' Daten zur ökonomischen und sozialen Entwicklung der mittleren Schichten in Deutschland. Ein systematischer europäischer Vergleich ermöglicht eine Verortung im gesamteuropäischen Kontext und macht gemeinsame Trends und Herausforderungen besser verständlich.

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Leseprobe

1 Die Mittelschichtgesellschaft


Eine breite und wohlintegrierte Mittelschicht gilt als Merkmal moderner Wohlfahrtsgesellschaften. Zwar lässt sich ein Wachstum der Mittelschicht über eine längere historische Periode beobachten, aber vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in der Bundesrepublik zu einer Expansion des Gesellschaftssegments, welches wir heute als Mittelschicht oder Mitte bezeichnen (Mau 2012). Die Zeit des »Wirtschaftswunders« eröffnete ungeahnte Möglichkeiten des Zugewinns an Wohlstand für breite Schichten. Das Modell der »sozialen Marktwirtschaft« verband ökonomischen Erfolg mit sozialem Ausgleich. Es gab einen wachsenden Lebensstandard und Lebenskomfort und für die breite Bevölkerung verbesserte sich der Zugang zu höherer Bildung.

Durch das System der sozialen Sicherheit, welches Einkommensausfälle kompensierte und stark auf die Erhaltung des Lebensstandards ausgerichtet war, konnten Existenzunsicherheiten abgebaut werden. Wer sich leistungsbereit und fleißig zeigte, sollte und durfte am Wachstum des Wohlstands teilhaben. Es entstand eine »Mehrheitsklasse« (Dahrendorf 1992: 169) derer, die dazugehören und die darauf hoffen durften, am allgemeinen Wohlstand dauerhaft zu partizipieren und vor materiellen Mangelerfahrungen geschützt zu sein.

Die Mittelschichten, denen im 19. Jahrhundert noch wortgewaltig ihr Untergang prophezeit worden war und die selbst lange fürchteten, zwischen »Kapital« und »Arbeit« zerrieben zu werden, entwickelten sich damit zum dominierenden Bezugspunkt der Sozialstruktur. Allerdings beruhte die Ausweitung der Mittelschichten weniger auf einem Wachstum des traditionellen »Mittelstands«, also der kleinen Selbstständigen in Kleingewerbe und Einzelhandel, der freien Berufe und der Beamten* – vielmehr speiste sie sich aus der wachsenden Gruppe der abhängig Beschäftigten, insbesondere aus den damals als »neuer Mittelstand« bezeichneten Angestellten, die überwiegend Büroberufe ausübten und sich durch das weiße Hemd bei der Arbeit von den »blue collar workers« abhoben.

Im Laufe der Zeit schwächte sich jedoch die starke Statusunterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ab. Zum einen übten zunehmend auch viele Angestellte einfache und repetitive Tätigkeiten aus, zum anderen verbesserte sich die Stellung von Teilen der Arbeiterschaft. Mit den genannten Entwicklungen des Wirtschaftswachstums und der Sozialstaatsexpansion verloren sich für große Teile der Arbeiter- und ehemaligen Unterschichten die Merkmale der »Proletarität« (Mooser 1984), und es konnte sich ein »respektables Arbeitermilieu« (Vester 1998) etablieren. Viele Arbeiterberufe wurden aufgewertet und erforderten ein Mehr an Qualifikation (Mau 2012: 16 f.). Zur Mitte gehören daher heute nicht nur Gewerbetreibende, Händler, Beamte und freie Berufe, sondern ebenso breite Arbeitnehmerschichten, vor allem die qualifizierten Angestellten und Facharbeiter im industriellen Sektor wie auch im wachsenden Dienstleistungssektor (Mau 2012; Heinze 2011; Vogel 2009).

Zur Abgrenzung und Definition der Mitte werden häufig sozialstrukturelle Merkmale herangezogen: Zur Mitte gehört danach, wer über ein mittleres Einkommen verfügt, zumindest einen mittleren Schulabschluss (mittlere Reife oder Berufsausbildung) hat und mindestens einen qualifizierten Angestellten- oder Arbeiterberuf ausübt. Andere Ansätze fokussieren stärker auf typische Mentalitäten oder einen Habitus der Mittelschicht und verbinden bestimmte Werte (z. B. bürgerliche Werte, Leistungsorientierung, Autonomie), Lebensweisen und soziale und kulturelle Präferenzen mit der Mittelschicht (Nolte und Hilpert 2007; Hradil und Schmidt 2007). Allerdings ist mit der Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Mitte kein so eindeutiger Bezug zu spezifischen Werten oder kulturellen Orientierungen mehr gegeben. Die Mitte ist, so Münkler (2010: 43), ein Ensemble von verschiedenen Gruppen, »in denen es kein einheitliches Ethos mit entsprechenden Werten und Normen mehr gibt, sondern materialistische und postmaterialistische, pflichtorientierte und hedonistische Grundeinstellungen nebeneinander existieren«.

Folgt man der These der »Individualisierung« (Beck 1986), so hat der kollektive Zuwachs an Wohlstand dazu geführt, dass Ungleichheiten zwar nicht verschwanden oder aufgelöst wurden, aber für Fragen sozialer Identität, des Lebensstils oder der Teilhabe am Konsum eine immer geringere Rolle spielen. Helmut Schelsky (1956) hat schon in den 1950er Jahren die Tendenz zu einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« diagnostiziert und damit eine Entwicklung hin zu einer Verschmelzung einstmals stark voneinander abgegrenzter Bevölkerungssegmente. Dies hieße, dass das hierarchische Modell übereinandergestapelter Schichten von dem Modell einer sozial und kulturell dominierenden Mitte abgelöst wurde. Dagegen hat die soziologische Ungleichheitsforschung jedoch wiederholt den bleibenden Einfluss mentalitäts- und habitusprägender Klassen- und Schichtunterschiede nachgewiesen (Vester et al. 2001; Weber-Menges 2004). In der »pluralisierten Klassengesellschaft« (Vester 1998) erhalten sich damit relative soziale Abstände des Einkommens, der Bildung und des sozialen Status, die sich in entsprechende, häufig subtile kulturelle Abgrenzungen und »feine Unterschiede« (Bourdieu 1987) übersetzen.

Während die Rede von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nicht nur in den 1950er Jahren, sondern bis in die Gegenwart hinein als Zustandsdiagnose stets angreifbar blieb, so bezeichnet sie doch die dominante, fast schon zur Selbstverständlichkeit gewordene Erwartung, dass mit dem Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand vor allem die »Mitte« der Gesellschaft profitieren und ebenfalls wachsen sollte. Die wachsende und integrierte Mitte galt als »Chiffre für die aufstiegsorientierte und durchlässige Nachkriegsgesellschaft« (Heinze 2011: 55). Seit einigen Jahren hat diese Selbstbeschreibung jedoch Kratzer bekommen, die Position der Mittelschicht scheint weniger robust und auf Dauer gestellt als oft angenommen (Mau 2012). Die erste Ölkrise zu Beginn der 1970er Jahre und das Wiederaufkommen des Phänomens von Massenarbeitslosigkeit können als Ausgangspunkt für eine Relativierung der Mittelschichtgesellschaft angesehen werden. Mit der Wiedervereinigung und durch die stärkere globale wirtschaftliche Verflechtung hat der deutsche Sozialstaat zwei weitere strukturelle Brüche zu verkraften, die in ihren Auswirkungen andauern und sich auf die Gesellschaftsstruktur auswirken.

Durch die jüngeren Entwicklungen einer Zunahme von Armut wie von Reichtum und damit einer Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung ist auch die Erwartung, dass sich ökonomische Gewinne breit über die Gesellschaft verteilen sollten, immer weniger erfüllt worden. Wenn die Ränder der Einkommensverteilung wachsen, dann gerät auch »die Mitte« unter Druck. Die Diagnose einer »schrumpfenden Mittelschicht« (Grabka und Frick 2008) hat dementsprechend für Aufruhr gesorgt. In den Feuilletons wurde sie mitunter zum massenhaften dramatischen Absturz ehrenwerter Mittelschichtfamilien in materielles Elend, Verschuldung und Hartz IV stilisiert, während auf der anderen Seite auch die Entwarnungen nicht lange auf sich warten ließen: Die Zahlen belegten allenfalls eine Stagnation, so die Interpretation, aber keine Schrumpfung der ökonomischen Mittelschicht und es gebe keinen Grund zur Panik (Enste, Erdmann und Kleineberg 2011).

Die Dramatisierung von Abstiegsprozessen aus der Mitte in bittere Armut lässt sich in der Tat empirisch widerlegen (Groh-Samberg und Hertel 2010). Andererseits kann aber auch der entwarnende Verweis auf eine stabile ökonomische Mitte nicht überzeugen, denn es finden sich tatsächlich grundlegende Veränderungen in der Mittelschicht. Neben dem Schrumpfen der Einkommensmitte sind dies Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (durch Restrukturierungen und das Wachstum atypischer Beschäftigung), der Umbau des sozialen Sicherungsstaates und sozialstrukturelle Veränderungen, die die Mittelschicht weniger stabil und statussicher erscheinen lassen. Gleichzeitig garantieren ein guter schulischer Abschluss und eine berufliche Qualifikation nicht mehr eine sichere Positionierung in der Mitte.

Die Bildungsexpansion, von der gerade die Mittelschichten über viele Jahrzehnte besonders profitiert haben, geht zunehmend Hand in Hand mit einer Inflationierung von Bildungstiteln – für eine gute Lehrstelle ist heute das Abitur fast schon Voraussetzung – und einem immer intensiveren Bildungswettbewerb (Bude 2011). Der Wettlauf um die bestmögliche Förderung der Kinder birgt erhebliche Verunsicherungen in der Mitte. Dazu kommen die Schwierigkeiten gerade junger Familien, ihre Ansprüche an eine befriedigende berufliche Karriere beider Elternteile mit den Anforderungen beruflicher Flexibilität und regionaler Mobilität und der Sorge um das Wohl der Kinder vereinbaren zu können. Ebenso gibt es in der Mitte Klagen über hohe Abgabenlasten und nur geringe Zuwächse oder sogar Stagnation bei den Nettolöhnen.

Die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz nimmt...

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