Analyse eines Massenphänomens – Eine Erfolgsgeschichte
Vom Ende der Solidarität – Die Faktenlage
Seelische Gewalt ist, ganz gleich für welche Definition man sich entscheidet, eine Gewalt der kleinen Treffer. Man sieht sie nicht, und dennoch wirken sie ungemein zerstörerisch. Jeder Angriff, für sich betrachtet, ist eigentlich nicht schlimm – was die Gewalt ausmacht, ist die Häufung der winzigen Traumata.
Marie-France Hirigoyen, Mobbing
Schon immer in der ereignisreichen, von Gewalt durchzogenen Geschichte der Menschheit gab es eine Form der Gewalt, die eher ein Schattendasein führte. Die zwar nicht sichtbar, aber äußerst zerstörerisch ist. Eine, die einem »elitären« Kreis von Menschen vorbehalten war: Heerführern, Monarchen, Adeligen, Kirchenfürsten, reichen Kaufleuten und Politikern unterschiedlichster Couleur. Diese Form von Gewalt war einer breiten Masse nicht bekannt, weil sie sich auf einer äußerst subtilen Ebene abspielte. Ihre Wirkungsweise hingegen stand der weitverbreiteten physischen Gewalt in nichts nach. Es wurde nur nicht mittels Waffen getötet, sondern mittels mehr oder weniger ausgeklügelter Pläne, die alle nur ein einziges Ziel hatten: Menschen so zu täuschen, zu verwirren und unter Druck zu setzen, dass sie früher oder später nicht mehr dazu in der Lage waren, ihren eigenen Interessen zu folgen oder sie überhaupt noch zu erkennen. Sie systematisch zu demoralisieren, sie in Fallen zu locken, aus denen es kein Entkommen mehr gab.
Ein Beispiel dafür waren die »médisance« (üble Nachrede, Verleumdung), die höfischen Kleinkriege, die Adelige, insbesondere am Hof des französischen Königs Ludwig XV., anwandten, um mit heimtückischen Bosheiten ihre Gegner zu zerstören.1 Ein anderes Beispiel ist die psychologische Kriegsführung, die von den Zeiten Trojas bis heute eingesetzt wird, um Menschen Dinge vorzugaukeln, die nicht der Wahrheit entsprechen.2
Diese invisiblen – unsichtbaren – Methoden psychischer Gewalt, deren Urform die Intrige ist, haben nichts an Aktualität eingebüßt. Was sich hingegen verändert hat, ist die enorme Ausweitung ihres Aktionsradius. Denn heute sind es nicht ausschließlich die sogenannten Eliten, die einige ihrer Mit-Menschen psychisch zerstören wollen, sondern immer mehr sind es die »ganz normalen Menschen von nebenan«, die ihre Kollegen oder Mitschüler mit Psychoterror überziehen und auf deren Untergang hinarbeiten.
Es ist dem Pionier der Mobbingforschung Hans Leymann zu verdanken, dass er dieses bisher nicht ausreichend beachtete Phänomen in den 1980er-Jahren publik machte.3 So führte er in das wissenschaftliche Denken den Begriff Mobbing ein, der aus dem Englischen (to mob) heraus übersetzt so viel bedeutet wie jemanden bedrängen, ihn anpöbeln, ihn attackieren.4 Letztlich beschrieb Leymann nichts grundlegend Neues. Denn zu allen Zeiten wurden Menschen in Fallen gelockt, systematisch ausgegrenzt und isoliert. Doch neu war, dass das Phänomen namens Mobbing wohl mehr in unseren Gesellschaftssystemen verankert war und ist, als man es sich bis dahin vorstellen konnte.
Nach der dritten europäischen Erhebung der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz 2000 sind europaweit circa 12 Millionen Menschen von Mobbing betroffen.5 In Deutschland sind es etwa 1 bis 1,5 Millionen Menschen, Erwachsene wohlgemerkt, die von Mobbing betroffen sind.6 Und nimmt man Kinder und Jugendliche hinzu – an Deutschlands Schulen werden zwischen 500 000 und 750 000 von ihnen gemobbt –, dann sind wir bei mindestens 2 Millionen Gemobbten.7
Das ist eine sehr hohe Zahl. Doch sie täuscht insofern, als sie nur die Betroffenen auflistet. Denn Gemobbte müssen nun einmal von ganz realen Menschen gemobbt werden. Das heißt, dass etwa zwei Millionen Betroffenen mindestens genauso viele Mobber gegenüberstehen. Rechnen wir hinzu, dass es gerade in Schulen nicht nur Einzelmobber sind, sondern Mitmobber beteiligt sind, und auch im Arbeitsbereich nicht immer nur Einzelpersonen sind, die mobben, dann erhöht sich die Zahl auf geschätzte vier Millionen aktiv Mobbende. Darüber hinaus müssen auch die indirekt Betroffenen berücksichtigt werden: Die Partner der Gemobbten, die Familie, die Eltern, die nicht viel weniger leiden als die direkt Betroffenen. Ziehen wir alle diese Zahlen zusammen, kommen wir auf über acht Millionen Menschen, die direkt wie indirekt von Mobbing in unserer Gesellschaft betroffen sind. Und rechnen wir hinzu, dass es neben den aktiv Mobbenden die noch viel größere Anzahl der passiven Zuseher oder Wegseher gibt, dann würde sich die Zahl vervier- oder gar verfünffachen.
Die Zahlen sind erschreckend. Aber wesentlich erschreckender ist, dass es im öffentlichen Bewusstsein keine entsprechende Resonanz darauf gibt. Abgesehen von wenigen »Skandalberichten« wird Mobbing in unserer Gesellschaft nicht allzu sehr beachtet, weder von der Politik, dem Gesundheitswesen noch vom Justizsystem. Denn sie stehen diesem Massenphänomen weitgehend hilflos gegenüber. Hinzu kommt, dass die Gefahr, die vom Mobbing für unsere Gesellschaft ausgeht, bei Weitem unterschätzt wird. Denn setzt sich das Mobbing ungebremst fort, frisst sich unsere Gesellschaft von innen heraus auf.
Doch wie wird das Phänomen Mobbing definiert? Wie unterscheidet es sich von mehr oder weniger alltäglichen Konflikten am Arbeitsplatz oder in der Schule?
Es ist nicht einfach, Mobbing von alltäglichen Konflikten zu unterscheiden,8 denn letztlich basiert Mobbing auch immer auf Konflikten. 9 Es geht nur weit darüber hinaus.10 Mobbing ist mehr als nur eine Auseinandersetzung zwischen Menschen, eine Streiterei zwischen Schülern.11 Es geht nicht darum, dass man eine unterschiedliche Sicht auf die Dinge hat, unterschiedlich arbeitet, mal aufeinander neidisch ist oder feststellt, dass man unterschiedliche Werte im Leben hat. Das alles kann zu Mobbing führen – muss es aber nicht.
Mobbing unterscheidet sich von alltäglichen Konflikten durch fünf zentrale Wesensmerkmale.
1. Gerüchte und Verleumdungen
Der Psychoterror des Mobbings besteht erstens aus systematischen, destruktiven – also zerstörerischen – Handlungen. Das können am Arbeitsplatz etwa das Verbreiten von Gerüchten, Falschbewertungen von Arbeitsleistungen oder Beleidigungen sein.12
Im Kontext Schule spielen unter anderem ebenfalls Gerüchte und Beleidigungen eine Rolle, aber oft auch körperliche Handlungen wie Spucken, Treten oder Schlagen,13 ebenso Cybermobbing. Im später folgenden Kapitel über das Arsenal der Zerstörung wird das ganze Spektrum der Mobbing-Techniken deutlicher werden.
2. Bestimmte Personen werden gezielt gemobbt
Sowohl für den Kontext Arbeit wie auch für den Kontext Schule ist entscheidend, dass zum Zweiten diese Mobbinghandlungen zielgerichtet erfolgen. Sie betreffen also nicht etwa das ganze Personal einer Firma oder eine ganze Schulklasse, sondern jeweils Einzelpersonen in ihnen, wobei diese durchaus wechseln können.
3. Mobbing dauert an
Zum Dritten erfolgt das Mobbing über einen längeren Zeitraum. Was das genau bedeutet, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten: So verweist etwa Leymann darauf, dass der Psychoterror mindestens ein halbes Jahr andauern muss, um Mobbing genannt zu werden.14 Andere Autoren betonen, dass Mobbing beispielsweise auch schon während der Probezeit erfolgen kann.15 Es ist durchaus denkbar, dass Mobbing bereits am ersten Arbeits- oder Schultag beginnt. Das Thüringer Landgericht verweist darauf, dass zur Feststellung des Psychoterrors das Mobbing nicht an eine Mindestlaufzeit oder wöchentliche Frequenz gebunden ist, sondern vom Einzelfall abhängt.16
4. Es geht um Macht
Viertens ist, um von Mobbing zu sprechen, wichtig, dass das Machtverhältnis klar ist. Das heißt: Der oder die Mobber verfügen über Durchsetzungsmacht, über die der Gemobbte nicht verfügt. Durchsetzungsmacht bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der oder die Mobber sich in einer stärkeren offiziellen oder inoffiziellen Position befinden.17 Aufgrund dessen ist der von Mobbing Betroffene von vorneherein schon immer der Schwächere.
Betrachten wir diesen Umstand etwas genauer.
So gibt es einmal das sogenannte Bossing. Hier sind es die Vorgesetzten, die ihre Mitarbeiter systematisch und zielgerichtet und über einen längeren Zeitraum psychisch unter Druck setzen. Es ist die häufigste Form von Mobbing. Die bisher einzige Repräsentativstudie von 2002 für Deutschland zum Thema Mobbing stellt fest, dass in der Hälfte aller Mobbingfälle Mitarbeiter von Vorgesetzten gemobbt wurden.18
Daneben gibt es allerdings auch das horizontale Mobbing. Hier mobben Kollegen einen anderen Kollegen. Die Macht der Kollegen über den Gemobbten zeigt sich zum einen darin, dass sie zahlenmäßig in der Überzahl sind. Zum anderen kann es ein einzelner Kollege sein, der mobbt, der aber durch seine inoffizielle Position im Team eine Machtposition hat, der sich alle anderen Kollegen mehr oder weniger freiwillig unterwerfen. Schließlich gibt es noch das Staffing: Hier mobbt ein Mitarbeiter oder mehrere Kollegen zusammen einen Vorgesetzten. Diese Variante...