Mein Weg zum Mobility-Training
Wir trainieren, um besser zu werden. Und wir werden besser, wenn wir beweglich sind. Das ist, in aller Kürze, der Kern des Mobility-Trainings. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um ambitionierte Profis oder um Hobbysportler mit Spaß an der Sache handelt. Der Mitbegründer von Nike, Bill Bowerman, hat das einmal so formuliert: »If you have a body, you are an athlete« – »Wenn du einen Körper hast, bist du auch ein Sportler.«
Am Beginn meines Weges als Sportler stand zunächst einmal tatsächlich eher ein Körpergefühl: Ich spürte, dass Yoga und Beweglichkeitstraining mir halfen, mich in meinem Körper besser zu fühlen. Als Jugendlicher war ich begeistert von Kampfsportlern, die für mich perfekte Kontrolle und Beweglichkeit verkörperten. Also begann ich mit Judo, probierte Karate aus, ging dann über zum Thaiboxen und landete schließlich beim Luta Livre, einer brasilianischen Wrestling-Sportart. Hier wird zwar keine perfekte Beweglichkeit vorausgesetzt, aber es war die Körperbeherrschung, die mich faszinierte. Mit 16 Jahren hatte ich auch meine erste Yogastunde. Da ging es plötzlich um Körper und Geist, das war ein neuer Aspekt. Und auch hier sprach mich vor allem das Verbinden und Überschreiten von engen Grenzen an. Interesse an Krafttraining hatte ich damals kaum, was sich zum Glück noch ändern sollte. Später stieß ich auf Alvaro Romano und Steve Maxwell, die ebenfalls aus dem Kampfsport kamen und daraus eigene Bewegungskonzepte kreiert hatten. Mir gefiel die Idee, im Training den eigenen Körper ohne jegliches Equipment zu nutzen und die persönlichen Grenzen auszuloten.
Als ich mein Psychologie- und Sportstudium begann, war ich, sehr zur Freude meiner Gymnastik-Tanz-Dozentin, begeistert von allen Formen des Beweglichkeitstrainings, anders als viele meiner männlichen Kommilitonen. Aber damals, in den 2000er-Jahren, gab es in Deutschland noch nicht viele Trainer, die sich speziell mit dem Thema Beweglichkeit unabhängig von bestimmten Disziplinen beschäftigten. Ich musste also ins Ausland schauen.
Vollends überzeugt hat mich schließlich Eric Cobb von Z-Health. Seine neurozentrierte Sichtweise habe ich in mein Mobility-Training integriert – ohne die Inspiration von Dr. Cobb würde es dieses Buch nicht geben. Und doch habe ich meinen ganz eigenen Ansatz entwickelt und arbeite anders als Trainer, die sich Mobility ebenfalls auf die Fahnen geschrieben haben, wie zum Beispiel mein geschätzter Kollege Kelly Starrett, der Doktor der Sportphysiotherapie ist. Wir unterscheiden uns aber darin, dass ich vornehmlich gehirnbasiert vorgehe, während Kelly sich weiterhin stark auf die Mechanik der Gelenke und die Statik des Körpers konzentriert. Natürlich spielen Anatomie und Biomechanik immer eine zentrale Rolle im Mobility-Training. Für mich ist aber im Verlauf meiner Arbeit die neurophysiologische Seite der Bewegung besonders wichtig geworden, und dafür gibt es nicht nur einen Grund. Im Psychologiestudium habe ich natürlich viel über die Bedeutung des Gehirns gelernt und auch eine Ahnung davon bekommen, welche Rolle es für Bewegung spielt. Der Mobility-Ansatz, Muskeln, Mechanik und Gehirn in der Bewegung zusammenzubringen, war dann etwas ganz Neues. So etwas hatte ich in den konventionellen Trainingswissenschaften noch nie gesehen: einen ganzheitlichen, holistischen Zugang zu Bewegung. Noch dazu sind die Funktionsweisen des Gehirns längst nicht vollständig erforscht und gerade diese Möglichkeit, in neue Gebiete vorzudringen, treibt mich bis heute weiter an. Es wird in allen beteiligten Wissenschaften immer klarer, dass das Wunder der menschlichen Bewegung tatsächlich noch mehr im Gehirn begründet ist, als wir uns das bisher vorstellen konnten.
Unser Körper ist nämlich in einer Vielfalt und Komplexität für Bewegung und Beweglichkeit konstruiert, wie sie in der Natur einzigartig ist. Der Mensch ist das Lebewesen mit dem größten Bewegungsspektrum überhaupt. Das hat auch etwas mit dem Gehirn zu tun. Wenn wir nicht so außerordentliche motorische Fähigkeiten hätten, sähe unser Gehirn wohl anders aus – oder es wäre vielleicht gar nicht vorhanden. Dazu gibt es eine interessante These des Neurowissenschaftlers Daniel Wolpert. Wolpert ist Experte für Neurobiologie und beschäftigt sich mit Robotern, die menschliche Bewegungen nachahmen können. In einem Vortrag, der auf YouTube zu sehen ist, beschreibt er, warum Bewegung für ihn der Grund dafür ist, dass wir überhaupt ein Gehirn haben. Sein Beispiel ist ein primitives Seetier, die Seescheide. Seescheiden können, wenn sie noch im Larvenstadium, also sehr jung, sind, schwimmen und sich orientieren. Dazu haben sie ein Gehirn und ein einfaches Nervensystem. Die Larven suchen nach einem Platz auf einem Felsen, um sich niederzulassen. Sobald sie einen gefunden haben, setzen sie sich fest und bleiben dort bis ans Ende ihres Lebens. Dabei passiert etwas Erstaunliches: Ihr Gehirn verschwindet. Sie fressen es auf.
Die Seescheide, sagt Daniel Wolpert, verdaut nach dem Sesshaftwerden als Erstes ihr eigenes Nervensystem samt Gehirn, weil sie es offensichtlich nicht mehr braucht. Denn was Nerven und Gehirn vorher erledigt haben, nämlich Bewegung und die benötigte Orientierung, fallen weg. Also wird das dazugehörige Inventar beseitigt: »Sobald man sich nicht mehr bewegen muss, braucht man den Luxus eines Gehirns nicht mehr«, sagt Wolpert. Aus seiner Sicht ist das Gehirn nur dazu da, sensorische Signale zu verarbeiten, um Bewegungen planen und ausführen zu können. Weil er selbst von dieser These so überzeugt ist, bezeichnet Wolpert sich übrigens als »Bewegungschauvinisten«.
Die These ist genial und unterstützt für mich den gehirnbasierten Ansatz des Mobility-Trainings: Alles, was Mobility ausmacht, lässt sich mit Bewegung als Hauptfunktion des Gehirns erklären – die Bedeutung der Informationen aus Rezeptoren und Sensoren, der Fokus auf den Gelenken als Signalgeber für das Gehirn und alle Effekte, die das Mobility-Training hat. So gesehen bin ich auch ein Bewegungschauvinist wie Daniel Wolpert oder vielleicht eher ein Beweglichkeitschauvinist.
Der Plan, dieses Buch zu schreiben, ist entstanden, weil die fundamentale Bedeutung des Gehirns für die Bewegung und im Umkehrschluss die der Bewegung für das Gehirn in herkömmlichen Trainingssystemen kaum berücksichtigt wird. Auch gibt es in Deutschland bislang kein Handbuch, das die Grundlagen des Mobility-Trainings zusammenhängend darstellt. Das liegt einerseits natürlich an der Komplexität der Materie. Außerdem haben wichtige Coaches wie Kelly Starrett, Steve Maxwell und Andreo Spina zwar einiges veröffentlicht, aber keiner hat eine systematische Darstellung in Angriff genommen. Es ist nach wie vor schwierig, an verständliche und ausführliche Bücher zum Thema Mobility zu kommen, die auch die neurophysiologischen Grundlagen zumindest grob erklären. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie groß die Welle international seit einigen Jahren ist. Vielleicht liegt es an der Schwierigkeit, die Übungen gut zu beschreiben. Jedenfalls war es meiner Ansicht nach an der Zeit, ein Buch herauszubringen, das sich vertiefend mit Mobility beschäftigt, die Grundlagen der neurozentrierten Perspektive darstellt und das klare Bewegungskonzept samt Übungen zeigt.
Mein persönlicher Erfolg als Trainer hat mit meiner Wende hin zu Mobility erst richtig zugenommen. Zuvor war ich ein Coach unter vielen, dazu Sportphysiotherapeut und am ehesten mit Functional Training beschäftigt. Aber nachdem ich Mobility in mein Coaching eingebaut hatte, haben meine Klienten vom Personal Training viel mehr profitiert und plötzlich Fortschritte gemacht, die weder sie noch ich vorher für möglich gehalten hätten. Auch das ist der Grund, warum ich dieses Buch schreiben wollte. Denn ich bin inzwischen davon überzeugt, dass ein Sportler keine volle Leistung bringen kann, wenn er nicht in der Lage ist, seine Gelenke in vollem Umfang zu bewegen und aktiv zu steuern. Und dass jeder, wirklich jeder, ob in Sport, Alltag oder Reha, von optimaler Mobilität nur profitieren kann. Anders als viele Kritiker meinen, steht beim Mobility-Training nicht nur eine große Beweglichkeit im Zentrum, sondern auch die Kontrolle: Kontrolle der Gelenke in allen Positionen. Es geht also nicht darum, das zu sein, was man allgemein »gelenkig« nennt. Es geht auch nicht darum, Dehnpositionen möglichst lange zu halten oder ins Extreme auszuweiten. Mobilität ist kein passives Merkmal bestimmter körperlicher Strukturen wie der Gelenke oder der Bänder. Mobilität ist vielmehr die aktive Fähigkeit, den vollen Bewegungsumfang auszureizen und Gelenke zu kontrollieren – in jeder Situation und Position.
So verbessert das Mobility-Training die spezifische Leistung in jeder Sportart, die jemand ausübt, ganz gleich, welche das ist. Dass Turner, Tänzer, Kampf- oder Schlagsportler, die schnell die Richtung ändern müssen, von guter Beweglichkeit profitieren, leuchtet sofort ein. Aber sogar Kraftsportler, Gewichtheber, Ringer oder Schwimmer brauchen optimale aktive Beweglichkeit, um ihre höchste Leistung zu erzielen. Und nicht zuletzt verbessert optimale Mobilität immer die Effizienz eines Sportlers, was besonders im Wettkampf, aber auch im Training wichtig ist – und im Grunde auch im Alltag für jeden Menschen. Dabei gilt, dass Mobility kein Training in abgegrenzten Stufen ist und wir keine bestimmten Grade oder Ziele anstreben. Vielmehr geht es darum, die Grundqualität von Beweglichkeit und Koordination zu erhöhen: »It’s not about perfection. It’s about progress« – »Es geht nicht um Perfektion, es geht um Fortschritt« –, ein Zitat aus dem Hollywoodfilm The Equalizer mit Denzel Washington, das zu meinem Motto geworden ist.
Ganz...