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Bruchmechanisches Verhalten unter quasistatischer und dynamischer Beanspruchung
L. Krüger, P. Trubitz und S. Henschel
1.1 Einleitung
Im allgemeinen Maschinenbau werden Konstruktionen zunächst nach klassischen Festigkeitskriterien ausgelegt. Abbildung 1.1 zeigt an einer auf Zug beanspruchten Komponente, dass in einer Beanspruchungsanalyse die wirkenden Spannungen (Beanspruchung: vorhandene Spannung σvorh) ermittelt werden. Durch die experimentell zu bestimmenden Werkstoffkennwerte wird die Beanspruchbarkeit (zulässige Spannung σzul) charakterisiert. Für das gewählte Beispiel eines glatten, allmählich auf Zug beanspruchten Bauteils ergibt sich die Beanspruchungsgröße als σvorh = F ∕ A.
Die Bewertung bezüglich der Sicherheit des Bauteils, sich nicht plastisch zu verformen oder zu brechen, erfolgt über einen Vergleich der Beanspruchungsgröße mit der experimentell zu ermittelnden Beanspruchbarkeit. Mit σvorh ≤ σzul ist der Festigkeitsnachweis erbracht.
Sind plastische Verformungen (Bauteildeformationen) unzulässig, dienen die Streckgrenze Re oder die 0,2%-Dehngrenze Rp0,2 als Werkstoffkennwert. Ist eine plastische Verformung zulässig und nur der Bruch des Bauteils auszuschließen, wird die Zugfestigkeit Rm herangezogen.
In der Praxis kann es jedoch zur Abweichung von den im Beispiel dargestellten idealisierten Beanspruchungsbedingungen kommen.
Lokale Überlastungen durch
- Fehler in der Lastannahme,
- Eigenspannungen,
- stoß- bzw. schlagartige Beanspruchungen oder
- Kerben und Risse
sind oft nicht auszuschließen. In der Folge kann die vorhandene Spannung deutlich höher als zunächst angenommen sein, wenn sich beispielsweise Last- und Eigenspannungen überlagern. Weiterhin können Spannungsspitzen existieren, welche die berechneten und als homogen angenommenen vorhandenen Spannungen deutlich übersteigen.
Abb. 1.1 Ablaufschema für die Festigkeitsberechnung am Beispiel einer quasistatisch zugbeanspruchten Komponente.
Die im Nennspannungsnachweis übliche Forderung nach einem homogenen beanspruchten Querschnitt stimmt weiterhin oft nicht mit der Realität überein. In Bauteilen treten u. a. Lunker, Poren, Einschlüsse, Seigerungen oder Risse auf. Die Risse können durch die Fertigung (z. B. Schweiß-, Härte-, Schleif- oder Warmrisse) oder betriebsbedingt (z. B. Ermüdung oder Korrosion) entstehen. Dadurch erhöht sich die Kerbwirkung und es treten Spannungsspitzen auf. Die Frage ist, wie der Werkstoff auf diese Überbeanspruchungen reagiert.
Eine besondere Gefahr für das Bauteil geht von Sprödbrüchen aus. Durch die Behinderung der Werkstoffplastifizierung ist der Abbau der Spannungskonzentrationen durch plastische Verformung stark eingeschränkt. Es treten meist verformungsarme Trennbrüche auf. Die instabile Rissausbreitung findet in Bruchteilen von Sekunden statt. In Tab. 1.1 sind Einflussgrößen, deren Wirkung und entsprechende Werkstoffaspekte zusammengefasst.
Der Bewertung der Zähigkeit kommt eine große Bedeutung zu. Unter Zähigkeit wird die Fähigkeit des Werkstoffes verstanden, unter sprödbruchfördernden Beanspruchungen des Bauteils die Überbeanspruchungen (Spannungsspitzen) durch örtliche plastische Verformung abzubauen.
Typische Prüfverfahren zur Bewertung der Zähigkeit kombinieren mehrere sprödbruchfördernde Bedingungen. Dementsprechend werden für das Übergangstemperaturkonzept im Kerbschlagbiegeversuch (engl. Charpy pendulum impact test) [1] zur Bestimmung der Übergangstemperatur Tt (Temperatur beim Übergang vom (duktilen) Verformungsbruch zum Sprödbruch; früher als TÜ bezeichnet) mehrere gekerbte Proben bei unterschiedlichen Prüftemperaturen schlagartig beansprucht und die verbrauchte Schlagenergie (z. B. KV, KU) bestimmt. Kennwerte des Kerbschlagbiegeversuchs sind Bestandteil sehr vieler Normen bzw. Materialdatenblätter. Sie dienen für bestimmte Werkstoffzustände als Qualitätskriterium, welche sich im praktischen Einsatzfall bereits bewährt haben. Der entscheidende Nachteil dieses Prüfverfahrens ist, dass die Kennwerte (z. B. KV, KV-T-Kurve, Tt) nicht zur Bauteilauslegung herangezogen werden können, da alle Ergebnisse nur für die jeweiligen Prüfbedingungen (Probengröße, Beanspruchungsgeschwindigkeit, Kerbung, Temperatur) gültig sind.
Tab. 1.1 Sprödbruchfördernde Bedingungen.
Einflussgrößen | Wirkungsweise | Werkstoffaspekte |
Konstruktive Gestaltung | Dehnungsbehinderung (engl. constraint) durch Kerben oder große Bauteilquerschnitte (mehrachsiger Spannungszustand) | Streckgrenze Re ↑ bzw. 0,2%-Dehngrenze Rp0,2 ↑ |
Fertigung | Oberflächenfehler und Anrisse durch Schweißen, Härten, Schleifen, Ausbildung komplexer Eigenspannungszustände | Kerbwirkung ↑ |
Beanspruchungsbedingungen | schlagartige Krafteinwirkung, mehrachsiger Spannungszustand | Streckgrenze Re ↑ bzw. 0,2%-Dehngrenze Rp0,2 ↑ |
Umgebungsbedingungen | tiefe Temperaturen, Spannungsrisskorrosion, Neutronenversprödung | T ↓→Re ↑ bzw. Rp0,2 ↑, Kerbwirkung ↑, Elektrolytwirkung |
Werkstoffgefüge | Grobkorn, Ausscheidungen an Korngrenzen, Alterung, Verunreinigungen, nichtmetallische Einschlüsse | Verformbarkeit ↓ |
Mit der Einführung des instrumentierten Kerbschlagbiegeversuchs [2] erhält man über die globale Energiebetrachtung hinausgehend detailliertere Informationen zum Versagenshergang. Aus dem gemessenen Kraft-Durchbiegungs-Verlauf lassen sich charakteristische Werte für das Verformungs- und Schädigungsverhalten (z. B. die Fließkraft Fgy, die Kräfte für die Initiierung Fiu und Arretierung Fa des Spaltbruches) entnehmen (Abb. 1.2). Wie schon beim nicht instrumentierten Kerbschlagbiegeversuch sind diese Kennwerte nicht zur Bauteilauslegung geeignet.
Abb. 1.2 Kraft-Durchbiegungs-Kurve (schematisch) und kennzeichnende Kräfte des instrumentierten Kerbschlagbiegeversuchs.
Um die Übertragbarkeit der Ergebnisse einer dynamischen Beanspruchung auf Bauteile zu ermöglichen, werden im Grenztemperaturkonzept Proben in Bauteildicke mit scharfen Kerben verwendet. Durch die Analyse des temperaturabhängigen Verhaltens werden Grenztemperaturen (z. B. gegen Risseinleitung/-auslösung bzw. Rissauffang, s. Tab. 1.2) ermittelt. Weit verbreitet ist u. a. der Fallgewichtsversuch nach Batelle (engl. drop weight tear test, DWTT) [3], bei dem eine Risseinleitungstemperatur Ti (i = Initiierung) ermittelt wird. Aus dem Bruchbild der gekerbten Biegeprobe (Dicke 8–20 mm) wird die (Grenz)Temperatur T50G% oder T85G% ermittelt, bei welcher der nichtkristalline Bruchanteil 50% bzw. 85% beträgt.
Prüfverfahren basierend auf dem Rissauffangkonzept (z. B. Fallgewichtsversuch nach Pellini sowie Robertson-Test) dienen der Ermittlung einer Grenztemperatur, bei der ein sich instabil ausbreitender Riss gestoppt wird. Im Fallgewichtsversuch nach Pellini (engl. drop weight test, DWT) [4, 5] wird eine 13–25 mm dicke Drei-Punkt-Biegeprobe schlagartig bis zur 0,2%-Dehngrenze durchgebogen. Auf der Zugseite befindet sich eine gekerbte spröde Einlagenschweißraupe, in der unter schlagartiger Belastung ein Sprödbruch ausgelöst wird. Als Grenztemperatur (engl. nil-ductility transition temperature, NDT-Temperatur) gilt die Prüftemperatur, bei der die Probe den sich instabil ausbreitenden Riss nicht auffangen konnte, während bei zwei weiteren Proben und um 5 K höherer Prüftemperatur in beiden Fällen der Riss aufgefangen wird. Die NDT-Temperatur kann über die Temperaturabhängigkeit der im instrumentierten Kerbschlagbiegeversuch bestimmten Rissauffangkraft Fa abgeschätzt werden [6, 7].
In einer Variante des Robertson-Versuches [8–10] wird ausgehend von einem unterkühlten Bereich ein instabil wachsender Riss in einer unter Zugspannung stehenden Platte ausgelöst. Da die Gegenseite der Platte erwärmt ist, läuft der Riss in Bereiche mit zunehmender Plastizität. Es wird die Temperatur (Crack Arrest Temperature, CAT) ermittelt, bei welcher der Riss gestoppt wird.
Die Grenztemperaturen dienen zur Abschätzung einer minimalen Einsatztemperatur rissfreier Bauteile. Es kann jedoch keine Auslegung von Bauteilen mit rissartigen Fehlern bei dynamischer Beanspruchung durchgeführt werden. Diese Zielstellung verfolgt die Bruchmechanik...