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Freisetzung aus der Arzneiform
2.1 Bioverfügbarkeit von Arzneimitteln
Intravenöse Verabreichung
Damit oral verabreichte pharmazeutische Wirkstoffe an ihre Targets binden und im peripheren Gewebe einen Effekt auslösen können, müssen sie im Darm absorbiert werden und das Zielgewebe in ausreichender Konzentration erreichen. Ob ein Wirkstoff an seinen Rezeptoren in therapeutischer Konzentration vorhanden ist, kann beispielsweise durch Biopsien oder bildgebende Verfahren ermittelt werden (z.B. PET, siehe Valk et al., 2003). Einfacher ist jedoch die Messung von Plasmakonzentrationen im Blutkreislauf, da ein Wirkstoff im Allgemeinen über den systemischen Kreislauf in das Gewebe diffundiert oder transportiert wird. Es muss allerdings beachtet werden, dass der Nachweis des Wirkstoffs im Blut noch keine Garantie dafür ist, dass der Wirkstoff sein Target auch tatsächlich erreicht!
Bei einer intravenösen Gabe (Injektion oder Infusion) erscheint die gesamte Dosis im Blutkreislauf. Abbildung 2.1 zeigt den Konzentrationsverlauf bei verschiedenen Applikationen. Bei Kurve A wird die gesamte Dosis innerhalb kurzer Zeit injiziert. Der exponentielle Abfall der Kurve reflektiert die sofort einsetzende Elimination aus dem Plasma. Kurve B und C stellen den Plasmakonzentrationsverlauf bei Dauerinfusionen dar.
Der Pädiater Friedrich H. Dost (1910–1985), der Wortschöpfer und Mitbegründer der Pharmakokinetik (Dost, 1953; siehe auch Dost, 1968), hat gezeigt, dass die Fläche unter der Kurve des Konzentrationsverlaufs (AUC, Area Under the Curve) unabhängig von der Geschwindigkeit und vom Ort der intravenösen Injektion ist. Ein solches Experiment ist in Abbildung 2.1 dargestellt. Einem 10-jährigen Kind wurde eine Dosis von 720 mg p-Aminohippursäure (PAH) in einer schnellen Injektion (Kurve A), einer Dauerinfusion von 90 Minuten (Kurve B) und einer Dauerinfusion von 180 Minuten verabreicht (Kurve C) verabreicht. Die Fläche unter der Kurve bleibt innerhalb der statistischen Grenzen immer gleich (108 cm2, 93 cm2, 92 cm2). Die Fläche AUC ist also direkt proportional zur injizierten Dosis (Dost & Gladtke, 1963; siehe auch Dost, 1968). Wird die Dosis verdoppelt, verdoppelt sich auch die AUC. Die AUC kann demnach als Maß für die injizierte Dosis betrachtet werden.
Abb. 2.1 Experiment von Dost und Gladtke (1963). Unabhängig von der Geschwindigkeit der intravenösen Gabe (Injektion oder Infusion) bleibt bei gleicher Dosis p-Aminohippursäure (PAH) die Fläche unter der Kurve (AUC) identisch. Während Kurve A den Plasmakonzentrationsverlauf bei einer intravenösen Applikation darstellt, zeigen Kurve B und C denjenigen von zwei zeitlich unterschiedlichen Dauerinfusionen. Die Pfeile (→) markieren das Ende der Infusionen nach 90 bzw. 180 Minuten. Die Extinktion E (Ordinate) ist ein Maß für die Plasmakonzentration (Bild nach Dost & Gladtke, 1963).
Perorale Applikation
Der Plasmakonzentrationsverlauf kann auch bei peroraler Verabreichung eines Arzneimittels bestimmt werden. Dazu werden Probanden über einige Stunden nach Verabreichung des Medikaments Blutproben entnommen und die Konzentrationen des Wirkstoffs im Plasma bestimmt. Die Proportionalität der AUC zur Dosis bleibt auch bei oraler Gabe erhalten, da diese Relation, wie oben gezeigt, unabhängig vom Ort oder der Geschwindigkeit der Verabreichung ist. Hingegen begegnet der oral verabreichte Wirkstoff einer Reihe von Barrieren, welche die Menge des Wirkstoffs, die den Kreislauf erreicht, reduzieren können. Wird der Arzneistoff beispielsweise nicht vollständig absorbiert, im Darm teilweise abgebaut oder von der Leber extrahiert und metabolisiert, ist die Fläche unter der Kurve nach oraler Verabreichung (AUCoral) kleiner als bei einer intravenöser Verabreichung (AUCi.v.). Der Quotient F von AUCoral zu AUCi.v. ist die Fraktion der oralen Dosis, welche alle Barrieren überwunden hat und die systemische Zirkulation erreicht.
Die charakteristischen Kurvenverläufe für Absorption und Elimination, bzw. die für einen Wirkstoff daraus resultierenden Plasmakonzentrationskurven sind in Abbildung 2.2 dargestellt.
F wird als die absolute (systemische) Bioverfügbarkeit eines Arzneimittels bezeichnet. Bioverfügbarkeit ist definiert als das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit denen ein Arzneistoff die systemische Zirkulation ausgehend von einer pharmazeutischen Formulierung erreicht. Sie wird durch den Vergleich mit einer intravenös verabreichten Dosis bestimmt, welche per Definition zu 100 % im Plasma erscheint. Die Bioverfügbarkeit kann zwischen 0 (0 %) und 1 (100 %) variieren (s. Abb. 2.3). In der Praxis wird im Allgemeinen eine möglichst hohe Verfügbarkeit angestrebt.
Die orale Bioverfügbarkeit eines Arzneimittels wird durch eine Reihe von Prozessen, welche auf die Arzneiform und den Wirkstoff einwirken, bestimmt. An diesen Prozessen sind anatomische, zelluläre und molekulare Strukturen und Mechanismen beteiligt, welche einer Reihe von Einflussfaktoren unterliegen (s. Abb. 2.4). Diese werden im Folgenden ausführlich diskutiert, insbesondere
- die Freisetzung des Wirkstoffs aus der Arzneiform im Darm (Kapitel 2)
- die intestinale Absorption und die Teilprozesse, die bei der Passage aus dem Darm in das Blut involviert sind, sowie der Transport zur Leber (Kapitel 3). Und schließlich
- die Prozesse an der Leber: d.h. der Transport des Wirkstoffs in die Hepatozyten, die Biotransformationen und die Sekretion in die Galle (Kapitel 4).
Abb. 2.2 Blutspiegelkurve nach oraler Verabreichung. Die Kurve ist eine Kombination zweier exponentieller Funktionen, der Absorption und der Elimination des Pharmakons. In diesem Beispiel ist die Absorptionsgeschwindigkeit 4-mal größer als die Eliminationsgeschwindigkeit. Die Absorptionskurve ist gleichzeitig der Spezialfall der Kurve, wenn keine Elimination stattfindet. Die Eliminationskurve zeigt den Kurvenverlauf bei einer intravenösen Gabe. Die Bioverfügbarkeit F in diesem Beispiel ist 100 % (F = 1). Bei sinkendem Quotienten F bewegt sich Cmax und damit die Kurve nach unten (Pfeil) und die AUC verkleinert sich (nach Dost, 1968).
Abb. 2.3 Bioverfügbarkeit F. Bei diesem Beispiel gelangen 80 % der Dosis in die Pfortader, die absorbierte Fraktion beträgt also 0,8. Von diesen 80 % werden durch den First-Pass-Metabolismus 40 % eliminiert. Nur 48 % der ursprünglichen Dosis erreichen schließlich den systemischen Kreislauf (Bild nach Langguth, Fricker & Wunderli-Allenspach, 2004).
2.2 Freisetzung aus der Arzneiform
Der erste Prozess, welcher die orale Bioverfügbarkeit mitbestimmt, ist die Freisetzung des Wirkstoffs aus der Arzneiform. Nur wenn der Wirkstoff gelöst vorliegt, kann er absorbiert werden.
Die Formulierung, also die „Verpackung“ des Wirkstoffs in der Arzneiform (z.B. Tablette, Kapsel, Lösung), hat sowohl einen Einfluss auf das Ausmaß als auch auf die Geschwindigkeit der Aufnahme in den systemischen Kreislauf. Abbildung 2.5 zeigt den Einfluss auf die Geschwindigkeit eines hypothetischen Arzneimittels mit einem engen therapeutischen Bereich. Angestrebt wird eine Plasmakonzentration, die möglichst lange im therapeutischen Bereich (auch therapeutisches Fenster genannt) liegt. Dargestellt sind die Plasmakonzentration-Zeit-Verläufe von drei unterschiedlichen Formulierungen. Die Dosis ist bei allen drei Arzneiformen identisch. Bedingt durch einen schnellen Lösungsvorgang wird Formulierung A schnell und komplett absorbiert. Die schnelle Absorption führt nach relativ kurzer Zeit (tmax) zu einem hohen, maximalen Plasmaspiegel (Cmax). Dadurch erreicht die Konzentration toxische Werte, was zu unerwünschten Wirkungen führt. Aus Formulierung C wird der Arzneistoff hingegen nur sehr langsam freigesetzt. Über den gesamten Verlauf wird die minimale Konzentration, welche für einen therapeutischen Effekt benötigt wird, nie erreicht. Ideal ist der Kurvenverlauf B; die Plasmakonzentration des Präparats liegt über einen längeren Zeitraum im therapeutischen Bereich und erreicht andererseits die toxische Konzentration nicht.
Abb. 2.4Die orale Bioverfügbarkeit eines Arzneimittels wird durch eine Folge von Prozessen beginnend mit der Auflösung des Arzneimittels beeinflusst. Sie wird bestimmt durch die Freisetzung, die passive oder aktive Absorption, Efflux-Mechanismen und den intestinalen und hepatischen First-Pass-Metabolismus.
Dieses Beispiel ist eine gute Illustration dafür, dass die Arzneiform einen entscheidenden Einfluss auf die Bioverfügbarkeit hat, sowohl auf das Ausmaß als auch auf die Geschwindigkeit der Aufnahme. Bioverfügbarkeit ist also nicht ausschließlich eine Substanzeigenschaft, sondern kann auch mit der Darreichungsform beeinflusst werden.
Abb. 2.5 Einfluss von Formulierung und Absorptionsgeschwindigkeit auf die Bioverfügbarkeit. Eine langsame Absorptionsgeschwindigkeit bedingt durch eine langsame Freisetzung/Auflösung verschiebt die...