I
Meilensteine und andere Brocken
Kurz nach der Geburt trennte man Maria von der Mutter. Die Entbindung per Kaiserschnitt hatte Komplikationen ergeben und zog einen längeren Krankenhausaufenthalt nach sich. Die Kleine schrie und weinte unaufhörlich, war kaum zu beruhigen.
Der Vater arbeitete als Rechnungsprüfer um die Familie zu ernähren und konnte sich nicht um das Neugeborene kümmern. Deshalb brachte man den Säugling zu Oma Luise. Werner Sanders hatte kein gutes Verhältnis zu seiner Mutter, denn der zwölf Jahre ältere Heinz war ihr ausgesprochener Liebling. In einer Sache allerdings konnte er seinen ungeliebten Bruder ausstechen: Werner war Manns genug ein Kind zu zeugen. Damit hatte er etwas auf die Beine gestellt, wozu der Erstgeborene nicht in der Lage war.
Das einzige Enkelkind wurde nun von der Oma versorgt. Natürlich mochte sie die Kleine, aber was fing man mit so einem Wurm an, wenn man sich zu Höherem berufen fühlte? Der Großvater, ein einfacher Mann, schuftete als Elektriker im Schichtdienst, um seiner anspruchsvollen Ehefrau gerecht zu werden.
Bei Gräfin Mariza, wie die Großmutter heimlich genannt wurde, herrschte Ordnung und Sauberkeit. Ständig wischte sie Maria den Mund und ihre kleinen Finger ab um Infektionen zu vermeiden. Auf so viel Fürsorge reagierte der Säugling mit Ausschlag und Verstopfung.
Weil die Oma mit dem Winzling überfordert war, kam Maria zu einer Tante. Und als die Mama ihr Kind nach der langen Trennung endlich in die Arme schließen wollte, wandte es den Kopf ab.
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Therese Kämper stammte aus einer armen kinderreichen Familie. Ihre Mutter, eine gläubige Frau, unternahm im Alter von 40 Jahren eine Wallfahrt, um zum neunten Male schwanger zu werden. Sie starb durch einen tragischen Autounfall, als Resi, wie das Nesthäkchen auch gerufen wurde, 14 Jahre alt war.
Nachdem die Geschwister ausgezogen waren, kümmerte die Jüngste sich rührend um den alten Vater, der nie wieder geheiratet hatte. Sie wohnten in einer kleinen Siedlung am Stadtrand in einem bescheidenen Reihenhaus mit wunderschöner Grünanlage und Hinterhof. Lediglich ein kleiner Fußweg, das „Gängsken“, trennte die Behausungen von den Gärten.
Resi kam gerade aus der Kur. Schon als junge Frau litt sie an schwerem Asthma. Jetzt saß sie gut erholt, die Haut von der Sonne leicht gebräunt in der Straßenbahn Richtung Norden, um eine Freundin zu besuchen.
Anfang Oktober brach schon zeitig die Dunkelheit herein. Therese und Werner nutzen die Dämmerung, um im Spiegel der Scheiben miteinander zu flirten. Sie kamen ins Gespräch. Um sicher zu gehen, dass die Angebetete auch wieder kam, nahm der stattliche Junggeselle ihre Armbanduhr als Pfand. Das imponierte der Frau. Mit 27 Jahren war sie immer noch nicht unter der Haube. So langsam beschlich Resi Torschlusspanik. Ein Mann musste her. Ihre biologische Uhr lief schließlich nicht rückwärts.
Werner betrat ungewohntes Terrain, als Therese ihn der Familie vorstellte. Immer sprangen irgendwelche Enkelkinder, Nachbarn, Cousins oder Cousinen herum und sorgten für Stimmung. Und Resi, die geborene Gastgeberin bewirtete die komplette Sippschaft mit allem, was dazugehörte. Werner, von Natur aus eher Einzelgänger, kam damit an seine Grenzen. Der Trubel im Haus wurde ihm oft lästig. Viel lieber wäre er mit seiner Liebsten allein gewesen und hätte sie nicht mit der buckligen Verwandtschaft geteilt.
Obwohl das Paar sehr gegensätzlich war, heiratete es ein Jahr später und nach einem weiteren Jahr kam Maria zur Welt.
Der Alkohol auf den vielen Feiern blieb nicht ohne Wirkung und die verwünschte Mischpoke konnte einem schon auf den Geist gehen. Sanders bereute in das Haus gezogen zu sein, denn manch einer drängte sich mit guten Ratschlägen in die junge Beziehung. Das brachte den „Stier“ zum Rasen. Es kam zu wüsten Beschimpfungen und häufige Auseinandersetzungen trübten das Glück. Therese ging stets den untersten Weg und versuchte ihren tobenden Gatten zu beschwichtigen, was ihr nicht immer gelang.
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Ihren ersten Urlaub verbrachte Maria auf einem Bauernhof am Bodensee. Tiere waren ihre Freunde und davon gab es hier genug. Da war Moritz, der Bulle, der einen Ring durch die Nase trug; Hühner gackerten zur Begrüßung und die „Sutzeles“ quiekten aufgeregt, wenn Maria den Stall betrat.
Die Kleine sorgte sich um ein Kälbchen, welches man in einen Lastwagen verlud. Die Mutter versuchte sie zu trösten:
„Keine Angst, das wird nur fotografiert.“
Die Zweijährige weinte bitterlich. Wenn Therese Sanders Geschichten erzählte, durfte kein Tier Schaden nehmen. Sogar mit dem bösen Wolf hatte Maria Mitleid. Nachdem der Jäger ihm den Bauch mit Wackersteinen gefüllt hatte, sollte er im Brunnen ertrinken, weil er Rotkäppchen und die Großmutter verspeist hatte. So eine harte Strafe hatte selbst Isegrim nicht verdient. Frau Sanders sah sich genötigt, die Märchen umzudichten; und an Phantasie mangelte ihr es wahrhaftig nicht.
Die Sagen stammten aus einer anderen Welt, handelten von Heiligen und Engeln, Prinzessinnen und Königssöhnen, von Wassergeistern und Elfen. In diesem Traumland fühlte Maria sich wohl. Den Hl. Franz von Assisi, der mit den Tieren sprechen konnte und die Mutter Gottes verehrte das Kind sehr.
Gebannt lauschte das Mädchen den Schilderungen aus früheren Zeiten. Therese und Werner Sanders waren beide Kinder, die die Wirren des Kriegs und Hungersnöte hautnah miterlebt hatten.
Resis Mutter Margarete hatte Gesichte: Im Traum waren ihr Männer mit Stahlhelmen erschienen, die auf zwei Kreuze deuteten. Demütig betete sie:
„Herr, dein Wille geschehe! - Zwei meiner Söhne werden wohl ihr Leben lassen.“
Resi verlor ihren Lieblingsbruder Hans in Russland, als er gerade 19 Jahre alt war; und Hermann starb nach den Kämpfen durch einen Blindgänger. Als Karl vermisst wurde, hatte die Mutter keine Sorge:
„ Der kommt schon wieder!“ Ihr Gottvertrauen war ungebrochen.
Im Luftschutzkeller betete die kleine Therese zu ihrer Namenspatronin, sie möge einen Teppich aus Rosen streuen und die Soldaten und deren Angehörige beschützen.
Mit großen Augen folgte Maria den Ausführungen ihrer Mutter und konnte nicht genug davon bekommen. Immer und immer wieder musste Ihre Mama vom Krieg und der Kinderlandverschickung berichten, bis Maria die Geschichten fast auswendig konnte.
Nachts, kurz vor dem Einschlafen betrachtete Maria den glitzernden Mantel der Gottesmutter, den diese schützend über alle Menschen ausgebreitet hatte. Manchmal war er mit Perlen oder Tautropfen bestickt. Auf wundersame Weise passte er sich immer Marias Vorstellungen an. Leider verlor sie diese Gabe, als sie älter wurde.
Tiere waren Maria auch wichtig, wenn sie aus Stoff und Plüsch beschaffen waren. Jeden Abend wurden sie mit ins Bett genommen und zugedeckt, so dass das Mädchen selbst kaum Platz zum Schlafen fand.
Der Großvater kannte eine Menge Lieder und viele geheimnisvolle und auch traurige Geschichten. Wenn er erzählte, saß Maria gerne auf seinem Schoß und hing an seinen Lippen.
Ihre Welt war friedlich und in Ordnung, bis die Mutter erneut schwanger wurde und den ersehnten Stammhalter zur Welt brachte. Der Sonnenschein der Familie, ein aufgewecktes Kerlchen, eroberte schnell die Herzen der Erwachsenen. Mit seinem kindlichen Charme wickelte Johannes jeden um den kleinen Finger. Und er war der ganze Stolz des Vaters.
*
Eines Tages, der Großvater saß in seinem Lehnstuhl und holte eine Zigarre aus der Kiste mit der weißen Eule, kletterte Maria wie gewohnt auf seinen Schoß, um sich von seinen Erzählungen verzaubern zu lassen. Zu ihrem Entsetzen wies er sie schroff ab:
„ Du bist jetzt groß. Jetzt hab` ich ein anderes Baby!“
Maria wurde ganz traurig und zog sich in eine Ecke zurück. Als sie sich unbeobachtet fühlte, knuffte sie ihren kleinen Bruder und hieb ihm mit der Haarbürste eins über.
Vom Opa lernten die Kinder Namen von Bäumen und Blumen. Auf dem angrenzenden Waldfriedhof gab es schlanke Buchen mit silberfarbener glatter Rinde; die Oberfläche der Eichen zeigte tiefe Furchen und war rau. Kastanien trugen Blätter, die Händen glichen und im Herbst konnte man aus ihren Früchten und ein paar Zahnstochern lustige Figuren basteln.
Im Garten blühten sie in allen Farben: Löwenmäulchen, Tulpen, Astern und Hyazinthen. Der Schnittlauch schmeckte scharf und trug lilafarbene Blüten und Erdbeeren hatten einen körnigen, süßen Geschmack, wenn sie reif waren. Mit der Mistgabel erntete man Kartoffeln, nachdem die oberirdische Pflanze ausgetrocknet und abgestorben war. Manchmal kroch dann ein lichtscheuer Regenwurm schnell wieder ins Erdreich zurück. Wenn man mit den Händen den lockeren Boden von der Kartoffel abstreifte, entstand ein modriger Duft.
Auf dem Hof krabbelte Hugo, die Landschildkröte und ließ sich das saftige Grün munden. Maria entdeckte Schmetterlingspuppen und schaukelte bis in den Himmel. Ihr Bruder bewahrte eine Spinne in einem Behälter mit Löchern auf, die er auf den Namen Kira getauft hatte. Im Garten, hinter dem alten Kirschbaum wuchsen Stachel- und Johannisbeeren, die im Sommer eingesammelt wurden. Die Mutter kochte daraus Gelee. Maria sah gerne dabei zu, wenn sie die weiche Fruchtmasse durch ein Geschirrtuch drückte.
Schon damals hatten die Großeltern in lauen Sommerabenden bis tief in die Nacht unter dem knorrigen Baum gesessen und erzählt. Die Zeit schien dann still zu stehen. Einzige Lichtquelle war der Mond. Auch die kleine Maria war vom Vollmond...