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MOZART, DAS KIND: Musik schafft die einzige Kulisse, in die sein Bild gehört. Nichts darüber hinaus, an Takten wird seine Kindheit gemessen, an eingeübten Stücken und Proben, an Stunden am Klavier und mit der Violine.
Im Notenbuch der Schwester fixiert Leopold die Leistungen, die Stunden, die erworbenen Fertigkeiten. Das Kind erhält Aufgaben, die es spielend bewältigt. Spielend – das meint: willig, scheinbar ohne Anstrengung, nicht Opfer einer Erziehung, sondern einer Affektion.
Diese breitet sich aus, und ihr Panorama bilden die Reisen, mit denen der Vater schrittweise beginnt. Zuerst, zur Probe, nach München, dann nach Wien, zum Kaiserhof, dann nach Paris.
Auf diesen Reisen entlädt sich die Affektion wie eine Krankheit, eine Seuche. Die Reisen hinterlassen die sichtbarsten Spuren, setzen Menschen, die das Kind spielen hören, in Verzückung. Wolfgang, infiziert von den Tönen und angezogen von den Instrumenten – den Orgeln, Klavieren und Violinen –, plötzlich gestaltend, was die von überallher zusammenlaufenden Menschen erwarten: das Heilige als Schrecken, das Unantastbare als Gewalt, nicht frei von Dämonie.
Der junge Mozart erscheint wie ein Gerufener, wie einer, den alle Orgeln des Landes anhalten, bis er sie gespielt hat, und er kommt durch kaum eine größere Stadt, in der es nicht den obligatorischen Volksauflauf gibt. In Ybbs an der Donau spielt er so, daß die an der Mittagstafel sitzenden Franziskaner aufspringen und in den Kirchenchor laufen. An einer Zollstation packt er Klavier und Violine aus, dadurch lenkt er die Zollbeamten ab, die ihn wiedersehen wollen und sich seine Adresse notieren.
Das Kind erreicht alles durch Musik. Das Auspacken der Instrumente – ein ›Sesam öffne dich!‹, und der Vater vermerkt stolz, wieviel Geld es wieder gebracht hat.
Seine Briefe an den Salzburger Handelsherrn Lorenz Hagenauer sind voll von Verrechnungen: was kommt herein, was gibt man aus? So rechnet er es dem Freund, dem Vermieter und Spezereiwarenhändler, vor. Aber die Briefe sollen noch weiter dringen; sie gehen auch an die befreundete, Leopold nahestehende Welt in Salzburg. Sie dokumentieren den Verlauf einer Reise, sie berichten von der Annäherung der ›höheren Welt‹, an die Kinder, die »übrigens alles in Verwunderung« setzen (I,49).1 In diesem Sinn halten sie der Salzburgischen Welt die Erfolge vor Augen. Der Bub soll als ein anderer zurückkommen, und Salzburg soll sich nach seiner Rückkehr vor ihm auftun. Daher verwendet Leopold einige Sorgfalt auf diese Briefe. Schreibend entwickelt er einen Blick aus Lebensaufsicht und Gewinnmaximierung. Später läßt er sich die Briefe kopieren, Abschriften fertigte er oft schon kurz nach einem Entwurf an. Diese Briefsorgfalt hatte für ihn mehr als nur den einen Sinn, Freunden und Nachbarn zu berichten. Leopold wußte immer, daß die Ereignisse und Gegenstände in mehrere Zusammenhänge gehörten, den der »Verwunderung« zunächst, aus dem sich Erfolg, Geld, am Ende ein Amt schlagen lassen sollten.
So hängen für ihn alle Linien zusammen, und er zieht die Fäden, indem er darauf achtet, daß er alle Ereignisse und Zufälle im Blick und in den Händen behält. Daher erziehen ihn die Briefbotschaften auch in gewissem Sinn zu einem Programm: man achte darauf, wie sich Erfolg und Zukunft miteinander verknüpfen lassen, man gebe sich nie dem Augenblick hin, man bleibe nie länger als notwendig an einem Ort. Solche Appelle gehen nicht zuletzt an ihn selbst. Gleichzeitig aber beweist er dem Geschäftsmann Hagenauer, der für die Finanzierung der Reisen zuständig ist, sein Geschick als geschäftlich denkender, überzeugender Verwalter. Denn er verwaltet die Angelegenheiten des Sohnes, und die Briefe werden dabei zu Abrechnungen.
Was kommt herein, was gibt man aus? Und Wolfgang, Woferl, ist die Maschine, die den Zwischenraum ausfüllt. Es ist etwas Eiliges, Klappriges in Leopolds Briefen. Namen als Signale für Auftritte, Visiten als Finanzierungslücken. Ansonsten kommt gar keine Sprache in ihnen zum Vorschein, keine plötzliche, den Augenblick fixierende Rede, kein Durchqueren oder Aufatmen.
Und die Kinder? Den Kindern gefällt das Reisen. Sie nehmen es als Abwechslung wahr, und sie unterscheiden noch nicht zwischen Heimat und Fremde. Auch später wird dieser Gegensatz für Mozart nicht existieren. Im Gegenteil: Salzburg verwandelt sich während seiner langen Abwesenheiten in eine Stadt, in der es sich nur schwer leben läßt, in der alles Anstrengungen kostet und in der man seinen Namen gegen alle Neider bewahren muß. Salzburg – ein Ort der Langeweile und der Gefahr, seinen Ruf zu verlieren und unterzugehen im Nachbarngetuschel oder im Hohngelächter der Bekannten. Salzburg wird also mit der Zeit immer enger, und diese Enge macht keine Heimat. Mit jedem Tag, den Mozart auf Reisen – in einer beträchtlichen, bestürmenden Unruhe – verbringt, werden die Gassen schmaler für ihn und die Zimmer niedriger im dritten Stock des Hagenauerschen Hauses. Kommt überhaupt noch Licht hinein, ist der Arkadenhof nicht viel zu klein? Mozart entwöhnt sich, später wird er sich auf diese Entwöhnung oft beziehen und sich vor der Vorstellung winden, nach Hause gekommen zu sein. In Salzburg nämlich nimmt das Zirkulierende, das ihm auf den Reisen gefällt, das Ungefähre von Ort und zeitlichem Aufenthalt, das man jederzeit tauschen kann, einen unerträglichen Stillstand an. In Salzburg verfestigt es sich – das Gefühl, der eigenen Bewegung, dem eigenen Vorwärtsdrang treu zu sein.
Doch machen die Reisen aus Mozart keinen Vertriebenen, sie entwickeln in ihm vielmehr ein Empfinden für mühelose Erneuerung, für Zwischenspiele, für ein andauerndes, leicht durchführbares Wechseln zwischen Anstrengung und Vergnügen, Konzentration und Verschwendung. Das hält sich die Waage, geht unmerklich ineinander über. Die Proben, die Auftritte, das Spiel – so wird ein rascher Wandel in Bewegung gehalten, der unterhaltend ist und vorausdrängt. Die Reisen unterminieren das Gefühl für Stabilität, Festigkeit, bürgerliche Ausdauer – sie bezahlen diesen Verlust mit unumschränkter Anerkennung. Auf Reisen wird alles leicht, und Leopold kann bestätigen: »Der Bub ist mit allen Leuten, sonderheits mit den Offizieren so vertraulich, als wenn er sie schon seine Lebenszeit hindurch gekannt hätte.« Und: »Die Kinder sind lustig, und überall so, als wären sie zu Hause.« (I,49)
So verläuft in Leopolds Augen alles nach Plan, und in seinem Hirn kreuzen sich die Strategien, den Knaben aufs Vorteilhafteste in Szene zu setzen. Das ist eine Kunst, eine Kunst des Ankündigens, Wartens, Probierens. Ein Aufenthalt wie der in Wien (1762) kann nur über beinahe drei Monate hinausgezögert werden, weil man fast täglich Konzerte gibt. Wenn Wolfgang krank wird, stockt die Mühle, die Pläne geraten durcheinander. Leopold überschlägt: die Trinkgelder für die Kutscher, die Trinkgelder für die Lakaien – lohnt sich das Bleiben noch? Wolfgang sichert in dieser Zeit der Familie den materiellen Boden. Allein durch sein Auftreten garantiert er für die Dauer des Aufenthalts. Schon dadurch ist der Woferl »Meister«, vollkommen in der Beherrschung der irdischen Materialität, die auf sein Spielen hin in Bewegung gerät. Geschenke und Gelder kommen ins Haus, und der Vater versucht, die Dukaten in sicheren Schuldbriefen anzulegen.
Die Reise aber ist eine Jagd, immer hinter den Gelegenheiten her, die Musik zu Gehör zu bringen, ein Hasten über Stock und Stein, wo ein defektes Rad einen weit zurückwirft, wo die Günstlinge des Hofes einem schon immer voraus sind, wo man die Launen der Fürsten erahnen muß und zuweilen gar gezwungen ist, schnelle Nachtfahrten einzulegen.
Es dreht sich um die Mozartsche Kutsche, die da unterwegs ist, es dreht sich fortwährend dieses Spiel der Launen und Zufälle, der Gelegenheiten und verpaßten oder genutzten Chancen. Die Pläne Leopolds sind Wunder an Voraussicht, in Gedanken tastet er Wege, Verbindungen, Städte, Schlösser, Aufenthaltsorte der Herrscher ab. Es kommt auf alles an, auf die Jahreszeit, eine Heirat, einen Krieg, eine Erbangelegenheit – denn alles könnte einen Plan zunichte machen, und am Ende könnte man vergeblich einen Umweg gemacht haben, einen Umweg von Tagen, die nicht mehr aufzuholen wären. Man muß die passenden Gelegenheiten und Stunden aufspüren, die der Adel sich erlaubt. Es gibt ja keinen Vorrat an Musik, wie für uns heute, es gibt nur die glückliche, die passende Stunde. Eine Kutsche wird vorbeigeschickt, ein Auftritt wird erlaubt, die Musikanten werden entlassen. Ein Fürst kann diesen Ablauf aber auch verschieben, vom Nachmittag auf den Abend, die Nacht, den nächsten Tag. Leopold stellt seine Uhren nach diesem Belieben. Er ordert die Termine – ein Spiel am kaiserlichen Hof sichert Auftritte für die nächsten Wochen. Die Welt erscheint als ein Karussell auf den Empfängen und in den Jagdschlössern, zu denen die Fürsten, wenn es ihnen eben gefällt, noch in der Nacht aufbrechen. Ein Karussell – auf dem man nie sitzt, das einen antreibt, nur für einige Minuten aufzuspringen, um mitmachen zu dürfen, die launigen Melodien des Vergnügens zu fabrizieren, für eine Stunde vielleicht, bei der Kaiserin sogar für drei. Aufspringen und mitmachen – man wird bezahlt, man fliegt, von der Geschwindigkeit getrieben, wieder herunter, und – kein Wunder! – so aus der Ferne betrachtet, ist dieses Karussell dann nur noch eine Maschine, die einen in Atem hält, ein Intrigantengeschöpf, ein Monstrum, das einen treibt, bis man krank wird dabei.
Leopold studiert die Bewegungen dieses Karussells, als ließen sie sich am Ende doch aufschlüsseln. Er will den Anteil des...