Prolog
Monopoly
Seit er sich erinnern kann, haben Frauen versucht, ihn zu verändern, seine Mutter, Yvonne, Antje, und weil es Frauen waren, dachte Lars Mrosko, er würde sich ändern. Das Problem war nur, dass es so langweilig war, stets vernünftig zu sein.
»Du schon wieder!«, begrüßte ihn Entes Vater, als Lars abends bei seinem Freund in der Tür stand. Er war sich sicher, dass ihn Entes Vater eigentlich mochte. Der Vater schloss das Wohnzimmer vor ihnen ab und nahm den Schlüssel mit, wenn er ein Bier trinken ging und die Wohnung Ente und seinen Freunden überließ.
Lars kletterte aus Entes Fenster hinüber auf den Wohnzimmerbalkon. Er war klein, muskulös, mit enormer Körperspannung und wachen Augen gesegnet. Er empfand es als Kompliment, wenn die anderen sagten: Der Lars kennt keine Angst.
Die Wohnung lag im ersten Stock des Hochhauses, nah genug an der Straße, dass ihn jeder Passant beobachten konnte. An der Johannisthaler Chaussee wunderte es allerdings niemanden, wenn ein junger Mann abends aus einem Fenster auf den Balkon nebenan kletterte. Lars klaute Entes Vater ein paar Satin-Unterhosen von der Wäscheleine am Balkon.
Entes Vater würde das nächste Mal ein bisschen schimpfen, wo seine Unterhosen waren, Lars würde sagen, das waren doch unsere Unterhosen, die hattest du dir nur unter den Nagel gerissen, als wir sie mal morgens vergessen haben. Beide würden meinen, recht zu haben, und dann ein Bier miteinander trinken. Entes Vater konnte Lars doch nicht wirklich böse sein. Denn Lars Mrosko, sagten alle, hat einen guten Kern; eigentlich, fügten manche hinzu. Er hatte, mit 23, auf dem Abendgymnasium versucht, sein Abitur nachzuholen, weil Antje das wollte. Er erinnerte sich dann bloß immer wieder daran, was er am liebsten wollte: mit den Jungs abhängen.
Sie bauten in Entes Zimmer das Monopoly-Spiel auf dem Teppichboden auf, um die Stunden totzuschlagen, bis im Fun was los war. Neben der üblichen Clique, Shergo, Bodden, Ente und Lars, war an diesem Abend auch Hotze zu ihnen gestoßen. In der Disco hatte Hotze einmal auf der Tanzfläche Anlauf genommen, einen Rückwärtssalto geschlagen und war auf einer Erhöhung gelandet. »Wo haste das denn gelernt?«, fragte ihn Lars. Gelernt gar nicht, sagte Hotze, das habe er im Fernsehen gesehen und gedacht, er probiere es mal aus.
Zu fünft war es ein wenig beengt in Entes Zimmer, das unverändert wie in Kindertagen eingerichtet war, obwohl sie mittlerweile alle über 20 waren. Am Fenster stand der Schreibtisch, mit Tags und Graffiti bemalt, und in dem schmalen Kinderbett würden nach der Disco zwei von ihnen schlafen; zwei im Bett, drei auf dem Fußboden, wer wo liegen durfte, würden sie ausschnicken, sching-schang-schong. Vielleicht würde aber auch einer im Fun bei einer Frau landen.
Lars nahm heimlich ein paar Geldscheine aus den Stapeln des Monopoly-Spiels und sagte den Jungs, er müsse mal kurz auf Toilette. Im Bad versteckte er das Spielgeld hinter der Shampooflasche und im Zahnputzbecher. Im Zimmer drehten sie das Volumen der Musik hoch. Ente besaß eine kleine Stereoanlage mit sechs CD-Laufwerken im Regal, topmodern, sodass sie sechs Interpreten hintereinander hören konnten, ohne eine CD wechseln zu müssen. Doch dann hörten sie wieder nur die eine. Sie sangen mit, »einfach geil – endlich frei, denn die Woche ist vorbei«. Rap oder Techno, der ganze harte Scheiß, war schon auch in Ordnung, aber bei den Schlagern von Wolle Petry wurde Lars von innen warm, und zügig breitete sich die Euphorie im ganzen Körper aus.
Es gab Wodka und Bier. Geld war beständig knapp, aber sie trieben doch immer genug auf, um was zu trinken zu haben, um in die Disco reinzukommen. Bodden jobbte als Cocktailmixer, Shergo spielte bei den Reinickendorfer Füchsen in der vierten Liga Fußball. In der Sprache der Erwachsenen, zu denen sie sich in ihrem Alter nun zählen sollten, waren das Nebenjobs. Aber sie konnten von 600 Mark im Monat leben, wenn sie noch im Kinderzimmer wohnten. Warum sollten sie mehr, warum etwas Langweiliges arbeiten? Manchmal dachte Lars an die 75000 Mark. Die Zahl klang gigantisch, aber so groß war sie doch gar nicht mehr, er hatte dank Antjes Insistieren schon ein paar Tausend Mark von den Schulden abgetragen, die er zwischen 20 und 22 aufgehäuft hatte, beim Vermieter, Sozialamt, bei den Banken, Versicherungen, überall. Im Prinzip unterschied das echte Geld sich nicht vom Monopoly-Geld: Man brauchte nur genug, dann blieb das Leben ein Spiel.
Lars’ Ziel beim Monopoly war, Ente und Bodden in die übliche Streiterei zu treiben. Shergo unterstützte ihn dabei ohne Absprache, aus Gewohnheit.
»Mann, Ente, merkst du es nicht, wann immer du in die Nähe von Boddens Straßen kommst, baut er schnell Häuser, damit du eine höhere Miete löhnen musst.«
»Meinste, das fällt mir nicht selber auf? Der will mich fertigmachen, der Pleitegeier, aber dem zeig ich’s!«
»Blas dich nicht so auf, du Osterhase! Sonst mache ich dich ruck, zuck alle.«
Falls Bodden und Ente wider Erwarten beim Monopoly erfolgreich über die Runden kamen, ging Lars auf Toilette. Hinter der Shampooflasche oder im Zahnputzbecher fand er, was er brauchte, um dem Spiel die Wende zu geben.
Er konnte sich keine besseren Freunde vorstellen. Als er noch nicht bei Antje, sondern wie die anderen in der Gropiusstadt gewohnt hatte, klingelte Bodden oft bei ihm. Er solle rauskommen, Fußball spielen. Um ein Uhr in der Nacht. Sie spielten dann auf dem Bolzplatz am Theodor-Loos-Weg »Rüberschießen«. Jeder stand in einem Tor und schoss über den gesamten Platz auf das Tor des anderen, Ballstoppen nur in der Luft, und Ballvorlegen gar nicht erlaubt, beide Spieler grimmig entschlossen, diese Partie unbedingt zu gewinnen. An diesem Spiel, an jedem Spiel hing die Welt.
Bodden hieß in Wahrheit Daniel. Sie hatten ihn nach Olaf Bodden umbenannt, dem schweren Bundesligastürmer, der jede Menge Tore erzielte, aber ihrer Meinung nach doch kein guter Fußballer war, einer, der mit Kopfbällen und Kampfgeist bestand. Ein echter Fußballer war einer wie Shergo, feinfüßig, mit Körperfinten, und beim ersten Körperkontakt ging er zu Boden, schindete einen Elfer. Ein echter Köter. Shergo spielte vierte Liga für 630 Mark im Monat und außerdem auf jedem Freizeitturnier, bei dem ihn die Jungs brauchten, für Sporting Mutante, Juve Rudow oder den Hertha-Fanklub. Shergo, der mit dem ganzen Gesicht lachen konnte, und dann mochte ihn jeder, rauchte eine Zigarette vor dem Spiel, aber am Abend vor der Partie blieb er zu Hause, also, er versuchte es zumindest. Er würde Profifußballer werden, war doch klar.
»Noch ein Spiel«, sagte Bodden in der Nacht zu Lars, nach drei verlorenen Partien Rüberschießen auf dem von Straßenlaternen nur streifenweise beleuchteten Bolzplatz. »Nur noch ein Spiel, jetzt mach ich dich platt, du Aas.« Der Verlierer sagte immer: Nur noch ein Spiel.
Wenn ein Schuss danebenging, schepperte der Zaun. Gegen halb zwei in der Nacht schrien die ersten Nachbarn von den Hochhäusern herunter: »Habt ihr ’ne Macke? Haut sofort ab!« Nach zwei Uhr schmissen Nachbarn mit Flaschen nach ihnen. Sie spielten weiter. Sie machten, in ihrer Wahrnehmung, keinen Ärger. Nur wenn ihnen einer zu blöd kam, schlugen Lars und Ente mit der Faust zu; sie schlugen immer nur zurück, in ihrer Wahrnehmung.
Mit dem Monopoly waren sie zu früh fertig, es war erst zehn, halb elf, vor Mitternacht brauchtest du dich im Fun nicht sehen zu lassen.
Was nun?
Im Keller bei Ente fanden sie immer etwas. Der Vater bewahrte dort sein Arbeitsmaterial auf. Er war Malermeister. Von seiner Frau lebte Entes Vater seit Längerem getrennt, Lars kannte nicht die Details, aber auch die vage Lebensgeschichte nötigte ihm Hochachtung ab: Drei Kinder, Ente und zwei Töchter, hatte der Vater alleine großgezogen. Der kleinste Sohn wuchs wohl bei der Großmutter auf.
Sie nahmen eine von Vaters Dosen aus dem Keller und füllten sie in einen Frühstücksbeutel um. Dann fuhren sie in den elften Stock.
Entes Hochhaus war das höchste in der Gegend. Wie ein weißer Turm erhob es sich an der Johannisthaler Chaussee, selbst das Einkaufszentrum Gropius Passagen wirkte neben ihm schmächtig. Ganz oben, auf dem Balkon im 19. Stock, wurde einem von der bloßen Aussicht schwindlig. Die Lichter Berlins schwankten unter ihnen, die ganze Stadt lag ihnen zu Füßen, seit elf Jahren tatsächlich grenzenlos.
Manchmal zeigten sie im Fernsehen Bilder von den Hochhäusern der Gropiusstadt. Die Jungs mussten nicht genau hinhören, das Gequatsche des Sprechers kannten sie schon, ursprünglich 90 Prozent Sozialwohnungen, Leerstand, Jugendkriminalität, Problembezirk Neukölln. Sie sahen nur genau hin, ob sie jemanden in dem Filmbeitrag erkannten.
Von ganz oben, vom 19., ließ sich nicht so gut zielen. Also drängelten sie sich auf dem Treppenhausbalkon im Elften.
Der Parkplatz am Straßenrand direkt unter ihnen war noch frei. Das Fun befand sich im Souterrain der Gropius Passagen, 150 Meter von Entes Hochhaus entfernt. Die Diskothekengäste würden sich über den leeren Parkplatz freuen.
Sie mussten nicht lange warten, bis ein schwarzer Mercedes 420 SEL die Fahrt verlangsamte und einparkte. Bei Autos genügte ihnen ein Blick, um das Modell zu erkennen.
»Der steht perfekt.«
»Direkt unter uns.«
Hotze ließ den Arm mit dem Frühstücksbeutel durch die Luft kreisen. Aus dem Mercedes stiegen zwei junge Frauen und Männer aus.
»Optimal! Glatzen.«
»Mit...