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MUSIK-KONZEPTE 179 : Heiner Goebbels

Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl108 Seiten
ISBN9783869166759
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Heiner Goebbels (*1952) - weder der Tradition des Musikmuseums noch dem Fortschritt der Avantgarde fühlt er sich verpflichtet. Er geht seinen eigenen Weg. Heiner Goebbels eilt der Ruf voraus, ein unkonventioneller Komponist zu sein. Der Katalog seiner Werke umfasst Kompositionen für das Musiktheater und die Bühne, für größeres Orchester und kleinere Ensembles, auch Kammermusik. Hinzu kommen Ballett- und Filmmusiken, Tonbandkompositionen, Installationen und Hörstücke für das Radio. In jedem einzelnen Werk sucht Goebbels seinen eigenen Weg. Die Autorinnen und Autoren des Heftes versuchen, ihm ein Stück dieses Weges zu folgen. Die Beiträge des Heftes untersuchen dabei Werke wie 'Schwarz auf Weiß' (1996), 'Eislermaterial' (1998) und 'Stifters Dinge' (2007). Zudem ist die intensive Beziehung zwischen Heiner Goebbels und Heiner Müller Gegenstand. Der Band enthält außerdem ein Gespräch zwischen Heiner Goebbels und Achim Heidenreich.

Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der 'Musik-Konzepte'.

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Leseprobe

Rasmus Nordholt-Frieling

Die Musikalität szenischer Gefüge
Stifters Dinge als Komposition für sämtliche Bühnenkräfte


Das von Heiner Goebbels gemeinsam mit dem Bühnenbildner und Lichtgestalter Klaus Grünberg, dem Tontechniker und Sounddesigner Willi Bopp und dem Musiker und Programmierer Hubert Machnik entwickelte Stifters Dinge1 ist eine etwa einstündige polyphone Komposition für sämtliche Bühnenkräfte. Licht, bewegte und unbewegte Dinge, Projektionen, Bühnenregen, Nebel, Trockeneis, aufgezeichnete menschliche Stimmen, verstärkte Klänge, hervorgebracht von spezialisierten Musikdingen und von zu Klangerzeugern umfunktionierten Dingen, variieren einander sukzessiv und simultan, modulieren sich, gehen kontrapunktische Spannungsverhältnisse ein, bilden Akkorde, das Hinzukommen eines Elements transformiert den Rhythmus des Gesamtgefüges. Abgesehen von Bühnentechnikern, die in den ersten Minuten des Stücks einige technische Verrichtungen erledigen, ist kein menschlicher Performer, kein menschlicher Körper auf der Bühne, der unsere Aufmerksamkeit vom Wechselspiel der Kräfte abziehen, unseren Fokus einnehmen und uns als Identifikationsfläche oder Ankerpunkt dienen könnte. Auch wird das vielfältig verzweigte Wechselspiel der verschiedenen Elemente von keiner vereinheitlichenden Logik wie etwa einer Narration, linearer Kausalität oder repräsentativen Verweisstrukturen verstopft. Anstatt an solchen Punkten ausgerichtet zu sein, unterhalten die ganz heterogenen Bühnenkräfte zueinander vielfältige, verschachtelte musikalische Relationen, bleiben dabei aber zu jeder Zeit auch als einzelne wirksam und wahrnehmbar. Das Ein- und Aussetzen der Elemente sowie ihre Transformationen sind nicht narrativ oder kausal, sondern musikalisch motiviert, motiviert aus den Verschiebungen innerhalb eines musikalischen Gesamtgefüges. An diese Musikalität wollen wir unser Ohr halten.

Raum


Wir blicken in einen tiefen Raum, dessen Fläche von drei hintereinanderliegenden breiten Becken bestimmt ist. Die Rückwand bildet eine Landschaft geöffneter und mechanisch betriebener Klaviere, in der einige trockene Bäume stehen. Außerdem befinden sich in diesem Arrangement große Metallbleche, ein Rohr sowie ein Ensemble aus einer Kiste und der Fußmaschine einer bass drum. All diese Dinge werden mechanisch bespielt, geschlagen und geblasen zu Klangerzeugern. An anderen Stellen im Raum befinden sich weitere mechanisch betriebene Klangerzeuger: Rohre sowie übereinander gezogene Steinplatten und zwei verstärkte Saiten, die von einem Ebow und einem mechanischen Rad in Schwingung versetzt werden. Links und rechts von den Becken sind hintereinander Lautsprecher auf Stativen aufgestellt. Rechts stehen parallel zu den Becken drei große, von unten beleuchtete Kunststoffkuben. Weiterhin werden bis zu vier hintereinander aufgehängte halbtransparente Leinwände in der Breite der Becken heruntergelassen. Es werden Bilder und Schrift auf das Arrangement projiziert. Darüber hinaus sind vor allem zwei relevante Lichter zu nennen: ein großer Scheinwerfer, der mittig durch die Klavierlandschaft in Richtung Publikum strahlt und dessen Einsatz stets von dem verstärkten mechanischen Geräusch der Verschlussblende begleitet wird, sowie Lichtreihen, die von der Seite der Becken die Wasseroberflächen anstrahlen. Neben diesen Dingen gehören weiterhin Bühnenregen, Nebel(maschinen) und Trockeneis dem Gefüge an, und wir hören Aufnahmen menschlicher Stimmen. Bei einer dieser Stimmen handelt es sich um eigens für das Stück eingesprochene Aufnahmen eines Textauszugs aus Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters. Daneben erklingen Originalaufnahmen von Claude Lévi-Straus, William S. Burroughs, Malcom X sowie historische und ethnografische Aufzeichnungen aus Griechenland, Papua-Neuguinea und Kolumbien.

Abb. 1: Heiner Goebbels, Stifters Dinge, Foto: Klaus Grünberg

Die ganze Tiefe und Breite des Raums ist einsehbar, alle Elemente befinden sich unten, hinten oder an den Seiten. Der Innenraum ist leer, abgesehen von den gelegentlich herabgelassenen halbtransparenten Leinwänden, die die Durchsicht aber auch nicht gänzlich verweigern.

Stimmen


Will man diese Komposition sämtlicher Bühnenkräfte untersuchen, herausfinden, wie das musikalische Zusammenspiel funktioniert, wie Konsistenz und Sinn entsteht, stellt sich zunächst die Frage nach der Verfasstheit der einzelnen Stimmen dieser Komposition.2 Diese Analyse, dieses Auftrennen, das Michel Serres als ganz und gar unmusikalische Tätigkeit charakterisiert3, wird uns helfen, im Folgenden die Komposition, die Verbindungen, die Relationen, die Musik zu rekomponieren, die aus diesen nun vorerst künstlich vereinzelten Stimmen ein musikalisches Gefüge werden lassen.

Es liegt zunächst nahe, die Stimmen entlang der verschiedenen Formen sinnlicher Wahrnehmung, also insbesondere des Hör- und des Sichtbaren zu unterscheiden. Auch Heiner Goebbels geht diesen Weg in dem Text Realtime in Oberplan4, in dem er von der Trennung der Hörbühne von der Sehbühne spricht, davon, dass sich das Hör- und das Sichtbare der Bühnenkomposition wechselseitig moduliere, anstatt sich gemäß einer einheitlichen Logik zu verdoppeln. Doch scheint es uns zwingend notwendig, dies ein wenig zu verkomplizieren. Denn wir nehmen erstens nicht nur ein Duett zwischen Hören und Sehen an, sondern eine regelrechte Vielstimmigkeit, und es scheint uns zweitens in Stifters Dinge Stimmen zu geben, die transversal zwischen dem Hör- und dem Sichtbaren verlaufen, die also sowohl klangliche als auch visuelle Anteile haben. Schon den Regen können wir hören und sehen, und auch die Musik der mechanischen Klaviere hat stark visuelle Anteile, da wir den kleinen motorisierten Klöppeln bei ihrer Arbeit zusehen und die geisterhaft spielenden mechanischen Klaviaturen beobachten. Es gibt auch komplexere Beispiele für solche, das Hören und das Sehen transversal verknüpfende Stimmen: So hat etwa der Nebel mit dem Geräusch der Nebelmaschine einen klanglichen Anschlag. Besonders deutlich wird dies, wenn die Klaviere gemeinsam mit anderen Klangerzeugern ein Stück spielen, in das eine Nebelmaschine, die am Grund der Pianolandschaft steht, sowohl mit ihrem Klang kontrapunktisch einbezogen ist (indem das Geräusch der Nebelmaschine an dem Spiel der anderen Dinge Anteil nimmt, an ihrem Wechselspiel partizipiert), dann aber auch der sichtbare Nebel aufsteigt und die geöffneten Klaviere umspielt.5 Als Echo, als langer Hallplatten-Reverb des Geräuschs der Nebelmaschine unterlegt der Nebel dem eher aus kurzen Tönen zusammengesetzten Spiel der Klaviere und der anderen Dinge eine langanhaltende, sich ständig transformierende Struktur. Der Klang und der visuelle Nachklang sind also aneinandergeknüpft und daher eine komplexe, zwischen dem sichtbaren und dem Klanglichen verlaufende Stimme. Der Scheinwerfer, der von hinten über die Bühne strahlt und dessen verstärkte Verschlussblende dem sichtbaren Licht einen starken klanglichen Anschlag verleiht, unterläuft ebenso die Unterscheidung von Hör- und Sehbühne.6 Auch Goebbels bemerkt dieses Überschreiten und spricht in diesem Zusammenhang davon, dass man durch die verstärkte Verschlussblende das Licht hören könne.7 Wenn wir aber das gesamte Bühnengefüge von Stifters Dinge als musikalische Komposition untersuchen möchten und damit davon ausgehen, dass sich sämtliche Bühnenkräfte zueinander verhalten wie die Klänge einer Musik, hören diese Unterscheidungen ebenso wie ihre gelegentlichen Überschreitungen auf Sinn zu ergeben. Gegenüber einer Unterscheidung von Hör- und Sehbühne (und den gelegentlichen Überschreitungen dieser Unterscheidung) scheint uns der Begriff einer Polyphonie sehr viel weitreichender zu sein; einer Polyphonie, deren musikalische Relationen sich diesseits der Trennung von Hör- und Sichtbarem entfalten.8

Polyphonie: Die Eigenständigkeit der Stimmen


Die Betonung der Trennung von Hör- und Sehbühne steht bei Goebbels im Kontext der Ablehnung »der üblichen illustrativen Verstärkung und [der] im Theater wie im Film so selbstverständlichen Verdopplung von Sichtbarem und Hörbarem«9. Die Trennung und Selbstständigkeit der Ebenen des Hör- und des Sichtbaren begünstige gegenüber derart hermeneutischer Verdopplungen die Bildung imaginärer Zwischenräume, die eine freie Entfaltung der Erfahrungs- und Vorstellungswelt des Zuschauers erlaubten, so Goebbels in Anlehnung an Helga Finter.10 Über diese Aufteilung zweier Bühnen entlang der humanoiden Wahrnehmungsapparate scheint uns die Polyphonie in Stifters Dinge weit hinauszugehen.

In Stifters Dinge begegnet uns eine polyphone Komposition, die sich aus einer Vielzahl von Stimmen zusammenfügt, die sich nicht eindeutig auf eine Bühne des Sehens und eine des Hörens aufteilen lassen. Mit der Vielzahl der Stimmen vervielfältigen sich auch die Zwischenräume zwischen diesen Stimmen. Die musikalische Betrachtung wird dabei verstehen lassen, dass diese Zwischenräume nicht einfach leere oder beliebige Räume zwischen dieser und jener oder der Gesamtheit der autonomen Stimme sind. Die musikalischen Zwischenräume sind durch vielfältige relationale Bezugnahmen und methexische Anteilnahmen11 ausgesprochen gefüllt, und das musikalische Vokabular beispielsweise von Polyphonie, Rhythmus und Kontrapunkt gibt uns ein differenziertes Werkzeug zur Beschreibung dieser Zwischenräum sowie der heterogenen Formen der...

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