Jörn Peter Hiekel
I Ungewöhnliche Kontextbildungen mit Gegenwartsbezug
In einem Kommentar zu seiner Komposition Archipel Remix schreibt Rolf Riehm:
»Wiederholungen, Rückgriffe, Neuverteilung. Alles ist zweiter Natur. Musikgeschichte läuft neben mir her (Chopin, Froberger, Rachmaninoff, Brahms, viel Eigenes, darin wieder viel Anderes – aus dem 14. Jahrhundert, Bach u. a.).«1
Diese Gedanken, die auf den ersten Blick wie lose hingeworfene Beiläufigkeiten oder frei schweifende Assoziationen erscheinen mögen, sind bei näherem Hinsehen ein trefflicher Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Schaffen des Komponisten. Denn zum einen verweisen sie auf den Kern des 1999 entstandenen Werkes, dessen Besetzungsangabe »für großes Orchester mit Samplingkeyboard« den für die Konzeption maßgeblichen Rekurs auf Fremdmaterial ebenso verrät wie der Begriff »Remix« im Titel. Doch zum anderen besitzt das in diesem Kommentar anklingende Bewusstsein für die Präsenz von Musikgeschichte beim eigenen Komponieren weit über dieses Werk hinaus Relevanz für Riehms Schaffens. Dabei kommen außer den angedeuteten Strategien – Wiederholungen, Rückgriffe, Neuverteilung – noch etliche weitere zum Zuge. Doch das Gesagte gilt zudem auch für die anderen angedeuteten Faktoren: erstens für das grundlegende Bewusstsein, alles sei »zweite Natur«, zweitens für die mit höchst unterschiedlichen Namen angezeigte Vielfalt der für Riehm beim Komponieren relevanten historischen Bezugspunkte (allein die ästhetische Breite der drei zuerst genannten Komponistennamen spricht an diesem Punkte für sich).
Alle diese Beobachtungen verweisen auf jenen äußerst originellen Umgang mit Kulturgeschichte, den einige von Riehms Werken seit Jahrzehnten ausprägen und der im Vorliegenden anhand sehr unterschiedlicher Werke etwas genauer beleuchtet werden soll. Dieser Umgang ist denkbar weit entfernt von jeder bloß akademischen oder gar klassizistischen Haltung. Zumindest punktuell, etwa im Falle von Double Distant Counterpoint (J. S. Bach, Kunst der Fuge, Contrapunctus XI ) für Kammerorchester und elektronische Zuspielungen (1994) oder in Schubert Teilelager für Streichorchester (1989) finden sich sogar Strategien der absichtsvollen Distanz gegenüber ehrwürdigen musikgeschichtlichen Traditionen. Manche ihrer Akzente und (Über-) Pointierungen sagen eher etwas über Riehms eigene Zeit aus als über die konkreten Gegenstände der Reflexion, also über die Musik Bachs bzw. Schuberts. Dementsprechend heißt es in seinem Kommentar zum letztgenannten Werk:
»Mein Traum war ja, mir selbst eine Möglichkeit zu ›erschaffen‹, die Traurigkeit, die einem Herzflimmern macht und die Schuberts Werk wie eine Lebensader (!) durchzieht, auch kompositorisch erfahren zu können. (…) Es ging mir um den Reflex romantischen Gefühls in der heutigen Zeit, d. h. in der heutigen Biografie. Diese spielt sich jedoch in der zynischen bundesrepublikanischen Gegenwart ab und nicht im existenzgefährdenden Wien Metternichs. Um es ganz knallig zu sagen: Man kann heute ›romantisch‹ nur noch transmittorisch empfinden. Heute ist authentisches ›romantisches Gefühl‹ die Erzählung davon, was an Hoffnungen, die in diesem Topos umschrieben sind, seitdem verschlissen worden ist. Man kann also bestenfalls nur noch auf Markierungen von etwas zeigen, aber das Tragende selbst ist weg.«2
Man ist versucht, einen Kommentar wie diesen als etwas seinerseits Interpretationsbedürftiges und dabei zugleich als zum Werk selbst Gehörendes aufzufassen. Dies gilt gerade für die Betonung der individuellen Perspektive sowie die Akzentuierungen des Romantischen und der Distanz hierzu. Und es ist dem nicht unähnlich, wie es etwa auch bei manchen Werken von Nicolaus A. Huber der Fall ist.3 Ist Riehms Kommentar doch dazu angetan, die Deutung eines – in diesem Falle nicht sonderlich komplexen – Werkes nicht bloß zu bereichern, sondern sogar entscheidend zu lenken. Es liegt auf der Hand, dass Entsprechendes für etliche andere Komponisten undenkbar wäre. Und das gilt erst recht, wenn Paratexte oder Epitexte den Gestus oder die Haltung eines Musikstückes mit politischen Erfahrungen zu verknüpfen suchen, womöglich sogar mit konkreten Erfahrungen bei einem bestimmten Anlass oder einem bestimmten Ort.
Wie aber, so ist zu fragen, sind Gestus oder Haltung eines Musikwerkes überhaupt mit solchen exterritorialen Momenten verknüpfbar? Diese Frage, die auf einen nicht unwesentlichen Aspekt aktueller Diskussionen zur »Gehaltsästhetik« verweist, kann mit Blick auf Schubert Teilelager oder auf Nicolaus A. Hubers Ensemblestück Werden Fische je das Wasser leid? (2003) jeweils durchaus ähnlich beantwortet werden: Das Komponierte ist in beiden Fällen eine Art Gegenkraft zur Erfahrung und Wahrnehmung jener zutiefst unkünstlerischen und irritierenden politischen Ereignisse oder Grundstimmungen, auf die die Kommentare beide Male hinweisen.4 Es geht, etwas pointiert gesagt, um das Etablieren oder Bewahren einer spezifischen Intensität, vielleicht auch – zumindest in Riehms Stück – um das Erfahrbarmachen einer Form von künstlerisch entfalteter Schönheit, dies immer im Bewusstsein ihrer Gefährdung und Zerstörbarkeit. Nicht zuletzt aber rückt hier jene Fähigkeit und Kraft von Musik ins Blickfeld, auf die Huber in seinem Kommentar zum eben genannten Werk hinweist, wenn er sie als »das berührbare Offene«5 bezeichnet.
Rolf Riehms Bemerkungen zur Musik, die zuweilen vergleichbare Denkfiguren enthalten, laden in erheblichem Maße zur Auseinandersetzung mit seinen Kompositionen ein, ähnlich wie viele seiner Werktitel und zudem etliche Spielanweisungen. Denn alle drei Komponenten besitzen oft die Qualität (und teilen diese mit einigen Werktiteln und Kommentaren N. A. Hubers), den Blick auf die Musik nicht durch zu viel handfeste Deutlichkeit oder simple Erklärungen zu verstellen. Selten geht es in Riehms Texten um bloß technische Erläuterungen, nie um Äußerliches wie etwa die Kenntlichmachung musikhistorischer Innovationsansprüche (was für einen Teil der Generation vor Riehm ein Motiv für Kommentare war), fast immer jedoch um spezifische Resonanzen sowie um die Beschreibung von künstlerischen Versuchungsanordnungen. Sie schaffen bestimmte Echoräume von Erfahrung, bei deren Erschließung es ein »Plaisir du texte« im Sinne von Roland Barthes6 sein kann, mögliche Konvergenzen mit jenen Echoräumen von Erfahrungen und Ideen ausfindig zu machen, die man durch die Auseinandersetzung mit den Werktiteln sowie mit ungewöhnlichen Spielanweisungen gewärtigt.
Dazu passt es, dass die kompositorischen Versuchsanordnungen bei Rolf Riehm immer wieder durchaus komplex sind. Und das gilt selbst dann, wenn der Komponist gerne – und sicher zu Recht – das tendenziell Unsystematische seiner Vorgehensweisen unterstreicht. So merkte er gesprächsweise sogar an, er sei beim Schreiben seines Werkes Fremdling, rede – Ballade Furor Odysseus (2002) »sehr kindhaft vorgegangen, nach so einem Kribbeln im Gemüt«.7 Wenn er im selben Zusammenhang freilich als seine Ausgangsüberlegung die Grundfrage »Packt mich ein Text oder packt er mich nicht?«8 nennt und man zudem bedenkt, dass Riehm auf die Odyssee außer in diesem Werk für Mezzosopran, Sprecher und großes Orchester auch noch in einem anderen Orchesterwerk sowie in gleich zwei großen Musiktheaterwerken eingegangen ist, klingt das ebenso künstlerisch Fruchtbare wie Obsessive seiner kompositorischen Reflexionen kulturgeschichtlichen Materials an.
Denn als kulturgeschichtliches Material, das zwar großen Respekt abnötigt, aber vor allem auf gegenwärtige Bezüge hin befragt wird, werden von ihm tatsächlich sowohl die Werke Homers und Kafkas – dessen berühmter Text vom Schweigen der Sirenen für die auf diesen Stoff bezogenen Stücke ähnlich relevant ist wie die Odyssee – als auch jene von Bach, Schubert und einigen anderen Komponisten behandelt.
II Raumerweiterung
Im Falle der erwähnten Bach-Reflexion gerät dabei, über alle Verehrung signifikant hinaus, auch jene Distanz ins Spiel, die bereits im Titel Double Distant Counterpoint anklingt. Dafür wählte Riehm eine komplexe kompositorische Versuchsanordnung, die im Kern aus der kompositorischen Akzentuierung und Deutung von rhetorischen Figuren besteht. Daraus resultiert eine Reflexion, die jenes »Gefühl der Raumerweiterung«9 aufgreift, das Riehm bereits im Bach’schen Original entdeckte und interessanterweise bei Anton Weberns berühmter »analytischer« Bearbeitung vermisste. Sucht man in einschlägigen anderen Werken der Neuen Musik nach Parallelen, könnte man vielleicht am ehesten einige der »komponierten Interpretationen« des mit Riehm befreundeten Komponisten Hans Zender nennen. Dies gilt gerade für jene Stellen in dessen auf Schubert, Robert Schumann und Ludwig van Beethoven bezogenen Reflexionen, die eine unauflösliche, mitunter querständige Mischung von Gegenwärtigem und Altem bieten, denkbar weit weg von der Idee der bloßen Verdeutlichung (und erst recht von aller Eindimensionalität und aller Nostalgie).
Die Motivation der genannten kompositorischen...