MATEJ SANTI
WAGNER IN TRIEST. EINE TRANSLATORISCHE PERSPEKTIVE
EINLEITUNG
1975 erschien in Triest eine kurze Publikation mit dem Titel Trieste città musicalissima1. Der Autor, der Geiger Cesare Barison (1885–1974), widmete sich in der Schrift einer synthetischen Darstellung des Triester musikalischen Lebens des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als die Stadt noch unter der Krone der Habsburger war.
Viel mehr als der Inhalt der Schrift selbst ist hier die Überschrift des kleinformatigen Buches ins Zentrum des Interesses zu rücken. Das in der Überschrift enthaltene Epitheton musicalissima weist nämlich eine kaum übersehbare Assonanz zum Adjektiv italianissima auf. Dieses Adjektiv wurde in das Motto „Trieste italianissima“2 integriert, das seitens italienischer nationalistischer Kräfte nach dem Zerfall der Monarchie aus dem Titel „urbs fidelissima“3 abgeleitet wurde. Somit suggeriert unterschwellig bereits der Titel der Publikation Barisons die Assoziation zweier Begriffe, die ohnehin als Paar auf eine lange Stereotyp-Tradition zurückblicken können: Die italianità wurde seit jeher mit musicalità in Verbindung gesetzt. Die Stadt Triest wird so nicht nur durch den Superlativ musicalissima als Musik-Stadt dargestellt, sondern auch als Stadt italienischer musikalischer Kultur codiert.
Als zentrale Referenzfigur wurde in den nationalistischen Diskurs Giuseppe Verdi miteinbezogen: Dem cantore del Risorgimento wurde bereits 1901, wenige Tage nach seinem Tode, das städtische Theater gewidmet.4 Seine Figur und die Aufführungen seiner Werke wurden ab diesem Zeitpunkt einer Mythopoiesis unterworfen, durch die Triest als Teil des italienischen Nationalstaates stilisiert worden ist.
Dennoch drang in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch das Werk Richard Wagners in den italienischsprachigen Kulturraum ein. Dem Streit zwischen italienischer und deutscher Oper zum Trotz wusste die Wagner’sche Ästhetik das italienische Publikum anzuziehen: Zuerst machten Transkriptionen seiner Werke seitens Instrumentalvirtuosen – vor allem Pianisten – auf ihn aufmerksam; es folgten Aufführungen seiner Opern, die sowohl in der italienischen Übersetzung als auch in der originalen deutschen Fassung präsentiert wurden.5
Zum ersten Mal wurde Lohengrin in Bologna 1871 aufgeführt und kurz danach in Florenz, dennoch beide Male mit mäßigem Erfolg. 1873 wurde Lohengrin in der Mailänder Scala präsentiert; die Kritik seitens des Publikums war vernichtend. Eine der ersten Städte, in der das Wagner’sche Werk in der italienischen Übersetzung eindeutige Erfolge feierte, war die multikulturelle Hafenstadt Triest.6
Angesichts der politischen Rezeption Verdis und des Umstandes, dass sich Triest als Hafenstadt der Habsburgermonarchie an der Grenze zwischen italienischen, slawischen und deutschen kulturellen Räumen befand, stellt sich die Frage der Rezeption bzw. der verschiedenen Rezeptionen, denen das Werk Wagners unterworfen worden war.
Als interessantes hermeneutisches Werkzeug erweist sich für dieses Unternehmen das Konzept der Translation, das im gegenwärtigen Diskurs innerhalb der Kulturwissenschaften an Relevanz gewonnen hat. Wenn sich ursprünglich das Konzept auf die „Übersetzung von und zwischen den Kulturen“7 konzentriert, um mithilfe von Thematisierung des Übersetzungsprozesses selbst auf bis dato verborgene Einsichten zu kommen, wird hier das Konzept auf die musikalische Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts übertragen; das Motto Kultur als Übersetzung wird in Musik als Übersetzung paraphrasiert. Als Übersetzung kann nämlich auch die Rezeption eines Werkes betrachtet werden, die sich in einem spezifischen sozialen bzw. politischen Milieu ausgebildet hat.
Anhand ausgewählter Beispiele aus der Triester Publizistik wird in diesem Beitrag der Versuch gewagt, den unterschiedlichen Übersetzungen des Wagner’schen Opus auf die Spur zu kommen und dessen Beziehung zum Werk Verdis zu erläutern, das gerade wegen seiner politischen und symbolischen Implikationen in der besetzten Stadt Triest auf starke Resonanz stieß.
Bevor ich zum Fallbeispiel Triest übergehe, möchte ich mich einigen Themenkomplexen widmen: Zum Ersten möchte ich die allgemeinen Beziehungen zwischen Übersetzung und der klassischen Musik aufdecken; zum Zweiten gilt mein Interesse den Übersetzungen von Werken Wagners im deutschsprachigen und europäischen Raum; als spezielles Beispiel möchte ich drittens den Fall von Wagners Übersetzungen in Triest miteinbeziehen.
1. BEZIEHUNGEN ZWISCHEN KLASSISCHER MUSIK UND ÜBERSETZUNG
Die Miteinbeziehung der Bezeichnung der Kultur als Übersetzung stellt eine wesentliche Erweiterung der hermeneutischen Perspektive im kulturwissenschaftlichen Diskurs dar. Dessen Paraphrasierung Musik als Übersetzung ermöglicht einen erweiterten Blick auch innerhalb der Musikwissenschaften; dies ist vor allem in Bezug auf die Vielschichtigkeit von kulturellen Zuschreibungen innerhalb der musikalischen Praxis von Relevanz. Die neu gewonnene hermeneutische Perspektive ermöglicht nämlich die Erschließung von Zwischenräumen, die auf Elemente „jenseits binärer Erkenntniseinstellungen und dichotomischer Grenzziehungen“8 von der „europäischen Praxis von Wesensbestimmung und Entgegensetzungen von Eigenem und Fremdem“9 aufmerksam machen. Mit den Worten Bachmann-Medicks:
[…] die Erforschung solcher Zwischenräume kann nur dann fruchtbar werden, wenn diese als „Übersetzungsräume“ betrachtet werden: als Gestaltungsräume von Beziehungen, von Situationen, „Identitäten“ und Interaktionen durch konkrete kulturelle Übersetzungsprozesse.10
Das Phänomen klassische Musik ist durchaus als ein Resultat von Übersetzungsprozessen zu verstehen, und zwar auf zwei Ebenen: sowohl auf der Ebene der Aufführung als auch auf der Ebene der Rezeption. Auf beiden Ebenen ist nämlich eine eindeutige Trennung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen treu und untreu, zwischen Original und Nichtoriginal schwer nachvollziehbar.
Alleine das Epitheton klassisch deutet darauf hin, dass man mit Kanon bildenden Werken konfrontiert wird, die in ihrer handschriftlichen bzw. gedruckten Form als Kunstwerk gelten. Diese Werke werden von Interpreten in Konzertsälen und Theatern in ein klangliches Ereignis übersetzt, das zu einem performativen Akt des zugrunde liegenden Textes wird. Die übersetzende Rolle des Interpreten blieb sowohl den Musikwissenschaftlern als auch den Instrumentalisten und Dirigenten nicht fremd: Aufführungspraxis, stilistisch korrekte Aufführung oder Werktreue seien hier nur als Stichwörter erwähnt.
Dennoch beschränkt sich das Übersetzen nicht nur auf das Verhältnis zwischen dem musikalischen Text und der Interpretation. Das daraus resultierende klangliche Ereignis hat nämlich einen Empfänger: das Publikum, das zu einem weiteren Interpreten der musikalischen Aufführung und mittelbar des ursprünglichen Textes wird. Das Werk und die Interpretation stoßen hiermit auf einen Empfänger, der aus einem sozialen und kulturellen Raum mit spezifischen Eigenschaften kommt. Das Kontinuum von Eigenschaften dieses Raumes wirkt sich letztendlich auf die Wahrnehmung der musikalischen Aufführung und die daraus folgende Rezeption aus, die nicht selten von politischen Umständen beeinflusst wird. Dies ist vor allem in den nationalistischen Diskursen von Bedeutung, da diese zu einer „invention of tradition“11 streben, bei der die Kunst und die Künstler als Träger von nationalen Werten stilisiert werden und als identitätsstiftende Elemente präsentiert werden.
Somit stellen sowohl der Notentext als auch die Aufführung selbst einen Text dar, der vom Interpreten und im Nachhinein auch vom Publikum (bzw. den Opinion-Makers) interpretiert bzw. übersetzt wird. Wie die Übersetzung eines Textes von einer Sprache in eine andere mehrere Möglichkeiten erlaubt, so sind mehrere Möglichkeiten der Übersetzung bzw. Interpretation sowohl auf der Ebene der Aufführung als auch auf der Ebene der Rezeption möglich.
2. ÜBERSETZUNG IN BEZUG AUF WAGNER
Was haben diese Bemerkungen über das Übersetzen mit Wagner zu tun? Des translatorischen Prozesses war sich Wagner möglicherweise bewusst, als er die Bayreuther Festspiele ins Leben rief. Selbst in dem Konzept des Gesamtkunstwerkes ist nämlich das Bewusstsein der Übersetzung vorhanden: Wagner bemühte sich, in Bayreuth eine originale Fassung seines Werkes anzubieten, die seinen Vorstellungen so nahe wie möglich kommen sollte. Er suchte sich, seiner ästhetischen und soziopolitischen Auffassung entsprechend, einen Ort aus, der nicht vom städtischem Lärm und Modus Vivendi beeinflusst war;12 dies stellte einen Teil seiner Kritik des bürgerlichen Lebens dar.
Wie so oft bei Wagner sind auch hierbei Widersprüche zu finden. Einerseits tendierte er zum Ideellen und andererseits hatte er einen starken Hang zum merkantilistisch orientierten bürgerlichen Denken. Einerseits gründete er die Festspiele, bei denen der Parsifal exklusiv aufgeführt werden sollte und manche Jugendwerke ein Aufführungsverbot erhielten. Andererseits bemühte er sich, einen möglichst großen Markt zu erreichen, um...