In diesem Kapitel macht diese Arbeit einen Exkurs in die Onlineökonomie. Gemäß dem Ziel, ein Geschäftsmodell für eine Musikdownload-Community zu entwickeln, muss der Onlineökonomie besondere Beobachtung geschenkt werden. Die Konvergenz zwischen beiden Märkten ist offensichtlich. Die beiden Werke des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Chris Anderson – „The Long Tail“[47] und „Free“[48] – stehen hier im Zentrum. Zuerst werden Andersons Ausführungen des so genannten „Long-Tail-Marktes“ näher betrachtet. Danach geht diese Arbeit auf sein Werk „Free“ und die Theorie einer funktionierenden „Null-Euro-Ökonomie“ ein. Mittels der dialektischen Methode wird Gisela Schmalz’ Buch „No Economy“[49] den Thesen Andersons entgegengestellt, um letztlich über eine Beurteilung aller drei Werke zu einer Schlussfolgerung im Sinne der Entwicklung des Geschäftsmodells zu kommen.
Chris Anderson hat mit seinem Werk „The Long Tail – Nischenprodukte statt Massenmarkt“ ein viel beachtetes Buch für die Onlineökonomie geschrieben. „The Long Tail“ entwirft Thesen für eine neue Onlineökonomie, die sich in vielen Punkten anders verhält als Hit-getriebene Märkte wie der klassische TV- oder Radiomarkt. Anders als es die Eigenschaften des Hits vermuten lassen, bevorzugen die Verbraucher die Märkte mit der größten Auswahl.[50]
Anderson stellt in Anlehnung an die 80:20-Regel von Pareto[51] die 98-Prozent-Regel auf. So erzählt er von einer digitalen Musikbox mit einem Angebot von 10.000 Alben – dennoch werden innerhalb eines Quartals 98 Prozent der Musiktitel mindestens einmal angehört.[52] Amazon verkauft 98 Prozent der 100.000 meist verkauften Bücher mindestens einmal.[53] Diese 98-Prozent-Regel bildet die Grundlage der Long-Tail-Theorie, die im Kern besagt, dass eine Vielzahl von in geringer Anzahl verkaufter Produkte in Summe eine ernstzunehmende Konkurrenz zu den Hitmärkten darstellt, die genau andersherum strukturiert ist: Wenige in hoher Anzahl verkaufte Produkte.
Der Hauptgrund hierfür liegt nach Anderson in der Ökonomie des Überflusses, die den Long-Tail-Märkten zugrunde liegt. Wenn nämlich der Engpass zwischen Angebot und Nachfrage nicht mehr existiert, wird auf einmal alles für alle verfügbar. Die Nachfrage wandelt sich von einer Nachfrage nach Hits zu einer Nachfrage nach einer Vielzahl vorhandener Nischen. Dieser Engpass entsteht vor allem durch das Angebot begrenzende Regalflächen, die fehlende lokale Verfügbarkeit von Produkten sowie die fehlende Information, dass diese Produkte überhaupt existieren. Die Onlineökonomie hebt diesen Engpass auf und ermöglicht somit die Long-Tail-Ökonomie. Fast jedes erdenkliche Produkt auf der ganzen Welt kann durch das Internet gefunden und bestellt werden. Da sich logistische Prozesse ebenfalls ins Internet verlagert haben, können diese Produkte auch über die ganze Welt zu bezahlbaren Preisen verschickt werden.[54]
Onlinekaufhäuser wie Amazon sind Katalysatoren dieses Prozesses weil sie die Long-Tail-Produkte in hohem Maße aggregieren und verfügbar machen. Amazon erzielt 30 Prozent seines Umsatzes mit Long-Tail-Produkten.[55] Ein weiteres Beispiel ist das im September 2009 von der Firma Otto gekaufte und in seine Tochtergesellschaft Limago integrierte[56] Onlinekaufhaus Dawanda. Hier werden in Heimarbeit gefertigte Bastel-, Design- und Kunsthandwerkprodukte angeboten und weltweit verkauft.[57]
Die folgende Grafik zeigt den Long Tail am Beispiel der Downloads des Musikportals Rhapsody.[58] Der Long Tail besteht aus einer Vielzahl Produkte, die einen niedrigen Verkaufsrang haben (hier ab ca. 5.000 abwärts).
Abbildung 3–1. The Long Tail.
Quelle: Anderson, C.: The Long Tail, 2009, S. 22. Originalscan – an dieser Stelle wurde ausnahmsweise auf die Erstellung einer eigenen Grafik verzichtet, da das zugrunde liegende Datenmaterial nicht verfügbar ist.
Anderson entwickelt sechs Aspekte, die das Verhältnis von Nischen und Hits bestimmen:[59]
1. Es gibt weitaus mehr Nischen als Hits.
2. Die Kosten zur Erreichung der Nischen sinken drastisch.
3. Filter lenken die Nachfrage und verlängern den Long Tail.
4. Die Nachfragekurve wird flacher – Nischen werden populärer zu Lasten der Hits.
5. Alle Nischen zusammen bilden einen Markt, der mit dem Hitmarkt konkurrieren kann.
6. Es entsteht eine natürliche Kurve der Nachfrage, die nicht durch Engpässe manipuliert wird (Vertriebsengpässe, Lagerplatz- und Informationsmangel).
Anderson arbeitet zudem drei Wirkmechanismen heraus, die den Long Tail bestimmen:[60]
1. Die Demokratisierung der Produktion ermöglicht den Long-Tail-Produzenten, der durch günstigere und bessere Hardware, schnelle Übertragungsraten und eine Vielzahl an verfügbaren, leistungsfähigen Software-Produkten in der Lage ist, Musikstücke, Videos, Blogs, Bücher etc. selbst herzustellen und über das Web verfügbar zu machen. Der Long Tail erhöht also den Grad der Partizipation der Konsumenten und lässt die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten mehr und mehr verschwinden.[61]
2. Die Demokratisierung des Vertriebs: Aggregatoren wie Amazon oder iTunes ermöglichen den direkten Vertrieb der durch die Demokratisierung der Produktion entstandenen Produkte.
3. Die Verbindung von Angebot und Nachfrage durch Filter: Suchmaschinen, Blogs, Empfehlungen und Tagging.[62] Die erforderliche Filterqualität steigt dabei mit der Länge des Long Tails.[63]
Schließlich stellt Anderson noch die Frage, ob die Preise entlang der Nachfragekurve steigen oder fallen sollten. Am Beispiel des Musikmarktes skizziert er, dass eine an der Beliebtheit orientierte Preisgestaltung im Sinne der Long-Tail-Logik eigentlich konsequent wäre. Er verweist aber auch auf die Vorteile einer einfachen Preisgestaltung (Vergleichbarkeit, Beständigkeit) und führt iTunes mit einem Einheitspreis von 99 Cent pro Download als funktionierendes Beispiel an.[64] Anderson erwartet allerdings auch, dass neue Geschäftsmodelle weitere Antworten auf diese noch offene Frage liefern.[65]
Im Nachfolgebuch „Free“ entwickelt Chris Anderson seine Long-Tail-Theorie weiter.[66] Im Kern steht die These, dass die Kostenloskultur des Internets der wesentliche Treiber für eine funktionierende Onlineökonomie ist. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Gisela Schmalz setzt in ihrem Buch „No Economy“ die These entgegen, dass „der Gratiswahn das Internet zerstört“.[67]
You Tube ist eines der bekanntesten kostenlosen Angebote im Internet. Der 2006 von Google gekaufte Videodienst bietet Bewegtbildinhalte kostenlos an.[68] Der Clou dabei ist, dass die Inhalte nicht von You Tube hochgeladen werden, sondern von den Usern. You Tube bemüht sich hierbei nicht sonderlich intensiv um die Urheberrechte und löscht geschützte Inhalte nur auf Bitten der Rechteinhaber.[69] Das Geschäftsprinzip von You Tube folgt der Googles, freie Dienste durch Werbeeinnahmen rezufinanzieren. Interessant ist You Tube aber auch für die Anbieter eigentlich kostenpflichtiger Inhalte. So erzählt Anderson die Geschichte der Komikergruppe „Monty Python“, die statt illegale Kopien von schlechter Qualität auf You Tube entfernen zu lassen, Originalinhalte gleich selbst auf ihren eigenen You-Tube-Kanal stellten – natürlich ebenfalls kostenlos. Videos bei You Tube haben die Eigenschaft, maximal 10 Minuten lang zu sein. Monty Python gelang es, die erhöhte Aufmerksamkeit bei You Tube in einen erhöhten DVD-Absatz bei Amazon umzumünzen und so letzten Endes mit kostenlosen Inhalten Geld zu verdienen.[70]
Anderson entwickelt den Begriff der „Freeconomics“,[71] einem „Markt für Produkte zum Preis von 0,00 US-Dollar“.[72] Er stellt die These auf, dass „Kostenlos für alle“ zum Zustand des Internets von heute geführt hat: „der größten Ansammlung von Wissen, Erfahrungen und Selbstdarstellungen der Geschichte der Menschheit.“[73]
Die Gründe für die Kostenloskultur des Webs liegen schon in der Geschichte des World Wide Webs verborgen. Der kostenlose Browser von Netscape zwang Microsoft schon in einer frühen Phase der Webgeschichte dazu, seinen eigenen Browser Internet Explorer ebenfalls kostenlos mit dem Microsoft-Betriebssystem auszuliefern.[74]
Das kostenlose Betriebssystem Linux gilt als Meilenstein in der Open-Source-Bewegung.[75] Open Source bedeutet, dass eine...