2. Verschwendete Zeit
Der Tornado um Sie herum tobt. Sie stehen mittendrin. Sie haben alles und nichts vor Augen. Von allen Seiten prasselt es ständig auf Sie ein und Sie können kaum noch Luft holen. Wie in einem Sandsturm. Die Sandkörner treffen Sie schmerzhaft, sie verstopfen Ihnen Nase und Ohren. Den Mund öffnen Sie besser nicht, sonst werden Sie das Knirschen zwischen den Zähnen nicht mehr los. Schließen Sie besser auch die Augen. Sehen können Sie sowieso nichts.
Was tun Nomaden in der Wüste, wenn sie vom Sandsturm überrascht werden? Ziehen sie unverdrossen weiter? Ganz bestimmt nicht. Die Gefahr wäre viel zu groß, in die falsche Richtung zu laufen und die Wasservorräte zu verschwenden. Die Nomaden suchen sich deshalb einen geschützten Platz und warten, bis der Sturm sich gelegt hat. Erst dann ziehen sie weiter.
Und was machen Sie? Sie ziehen trotz des Tornados weiter. Und zwar in einem Affenzahn. In welche Richtung? Na ja, mal in die eine, mal in die andere – wie es sich so ergibt. So genau können Sie die Richtung in dem ganzen Trubel ja auch nicht ausmachen.
Nein, verdursten werden Sie im alltäglichen Tornado nicht so schnell. Wasser haben Sie ja genug. Wenn Sie blind weiterziehen, verschwenden Sie etwas anderes, etwas viel Kostbareres, von dem Sie auch nur äußerst begrenzte Vorräte haben:
Sie verschwenden Ihre Zeit.
Richtung braucht Klarheit
Der Anzug
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Hochzeitstermin und alle Vorbereitungen bereits getroffen: die Papiere zusammengesucht, das Standesamt gebucht, das Restaurant gefunden, der Blumenschmuck ausgewählt, das Brautkleid geschneidert. Alle Freunde und Verwandten haben schon lange die liebevoll ausgewählten Einladungen vorliegen, fast alle haben zugesagt. Die Liste der Gäste ist lang.
Ich sitze auf der Kante unseres Doppelbetts, den Kopf in die Hände gestützt. Aus dem Kinderzimmer unserer schicken Wohnung dringt die Stimme meines Sohnes.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt meine Freundin, als sie von nebenan hereinkommt. Ich räuspere mich, und doch ist meine Stimme krächzend, als ich sage: »Ich kann nicht … Ich habe keinen Anzug gekauft.« Sie schüttelt einen Moment ungläubig den Kopf und lacht. Doch beim Blick in mein Gesicht erstirbt ihr Lachen.
Einige Monate später. Wir haben die Hochzeit abgesagt. Meine Freundin ist mit unserem Sohn in eine andere Stadt gezogen, um den Schmerz mithilfe der Distanz zu betäuben.
Ich habe einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung. Die Wohnung, die ich zuvor mit meiner Freundin und unserem Kind hatte, will ich verlassen. Orte haben ein Gedächtnis … Doch ich weiß: Wenn ich mir jetzt eine neue Wohnung anschaue und umziehe, dann ist die Tür zu meiner Familie endgültig zugeschlagen. Auf dem Weg zum Auto durchdringt die Nässe des Kölner Schmuddelwetters meine Sneakers. Eigentlich sollte ich losfahren, stattdessen bin ich wie gelähmt. Ich starre auf das Lenkrad.
Plötzlich ist die Stimme da. Sie sagt mir, in welche Richtung ich gehen sollte.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze – vielleicht nur Sekunden, vielleicht Minuten. Doch plötzlich ist die Stimme da. Sie sagt mir, in welche Richtung ich gehen sollte. Und das ist nicht die, in die ich gerade renne.
Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.
Ich greife zum Handy und suche mit bebenden Fingern den Kontakt. Der Verbindungsaufbau dauert quälend lange. Endlich das Klingeln. Sie hebt ab. Ich atme tief durch und sage mit klarer Stimme: »Darf ich wieder zu dir kommen?«
Ich habe durch mein Rumgeeiere so viel Zeit verschwendet. Weil ich nicht klar war. Und was mindestens genauso schlimm ist: Ich habe nicht nur meine Zeit verschwendet. Ich habe vor allem die meiner Frau und meines Sohnes verschwendet.
Meine Frau war die ganze Zeit klar. Sie kannte ihren Horizont. Sie wollte eine Familie. Vertrautheit, Stabilität, Freundschaft, gemeinsame Zeit, Tiefe. Der Haken an der Sache: Ich kannte meinen Horizont nicht. Irgendwie bin ich in diese Situation hineingeraten. Natürlich hatte ich Gefühle für meine Frau und meinen Sohn. Aber mein Verhalten zeigte das nicht. Ich fühlte mich wie im Nebel. Betäubt. Betäubt durch 14-Stunden-Tage im Büro, zu viele Geschäftsreisen, mindestens 60 000 km mit dem Auto im Jahr und mehr Nächte in Hotels als zu Hause im eigenen Bett.
Sie haben diesen Moment nur ein Mal.
Verschwendete Zeit ist immer die Zeit, die Sie mit Dingen vertun, die Sie nicht in die Richtung Ihres eigenen Horizontes bringen. Und Zeit, die Sie verschwenden, ist unwiederbringlich verloren. Sie können sie nicht zurückdrehen. Sie haben diesen Moment nur ein Mal, und wenn er vorbei ist, ist er vorbei. Wenn Sie unglaublich beschäftigt sind mit Karriere & Co. und merken plötzlich mit fünfzig: »Oh, shit, eine Familie und eigene Kinder sind mir wichtig« – dann ist Ihre Frau vielleicht bereits aus dem gebärfähigen Alter raus und die vielen Jahre vorher sind verschwendete Zeit. Sie sind nicht aktiv auf Ihr Ziel zugesteuert. Und jetzt ist es zu spät.
Wenn Sie in Ihrem Leben nicht selbst auf Ihr eigenes Ziel zusteuern, werden Sie unweigerlich durch die Aktivität anderer angeschoben. Und die arbeiten wahrscheinlich auf ein völlig anderes Ziel hin – nämlich ihr eigenes. Sie sind dann nur noch wie ein Spielstein, der auf dem Feld hin und her geschoben wird. Und unter Umständen werden Sie irgendwohin geschoben, wo Sie gar nicht sein wollen.
Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie wie ein Knetgummi von anderen gedrückt und geformt werden? Oder wollen Sie selbst bestimmen, wer oder was Sie sind?
Beschäftigtsein ohne Richtung ist wie Zocken im Kasino.
Doch das ist alles nicht so einfach, wie es klingt. Denn Beschäftigtsein ohne Richtung, ohne zu wissen, was Ihnen wichtig ist, ist wie Zocken im Kasino: Mit viel Glück kann es gut gehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es schiefgeht, ist ungleich größer. Wenn Sie zum Beispiel reich werden wollen, können Sie die Verantwortung dafür der Lottofee überlassen. Und wenn Ihre Zahlen nie gezogen werden, hat es eben nicht sollen sein – ganz einfach.
Zu einfach.
Ob Ihr Ziel nun lautet, reich zu werden, Ihr Golf-Handicap unter zehn zu bringen oder eine neue Sprache zu lernen: Sie müssen für Ihr Ziel einstehen. Die Amerikaner nennen das Commitment oder Ownership. Frei übersetzt: Sie müssen bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. Denn für jedes anspruchsvolle Ziel benötigt man Kraft, Energie und Anstrengung. Ohne Konsequenz und Disziplin degradieren Sie das, was Ihnen wirklich wichtig ist, zum reinen Glücksspiel. Fürs Glücksspiel benötigen Sie nur einen Lottoschein. Für Ihre Lebensziele müssen Sie jedoch aktiv werden.
Das Gute daran: Wenn Sie aktiv auf Ihr Ziel zusteuern, sind Sie der Spieler. Sie sind es, der entscheidet, welcher Spielstein wo gesetzt wird. Das bedeutet, dass Sie Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen. Eine Garantie, dass Sie es schaffen, haben Sie auf diese Weise zwar auch nicht. Aber Sie erhöhen deutlich die Chance, dass Sie Ihr Ziel erreichen werden.
Ob investierte Zeit also verschwendet ist oder nicht, hängt davon ab, ob sie Sie Ihrem persönlichen Ziel näher bringt: Wenn Sie zum Beispiel in einer Firma arbeiten, in der gewollt ist, dass Sie 14 Stunden täglich im Büro verbringen und auch am Wochenende arbeiten, dann hält Sie dieses System unglaublich beschäftigt. Jetzt kommt es darauf an: Ist es Ihr Ziel, eine Familie zu gründen? Dann werden Sie von diesem System in eine andere Richtung getrieben, weg von Ihrem Ziel. Wenn Sie dagegen in dieser Firma einmal Vorstandsvorsitzender werden wollen, ist es hilfreich, zur Not auch Tag und Nacht für die Firma zu arbeiten. Dann ist die investierte Zeit nicht verschwendet. Die Frage ist: Entscheiden Sie sich freiwillig dafür, sich dem System und seinen Spielregeln anzupassen? Oder entscheidet jemand anders nach seinen eigenen Erwartungen: Kollegen, Vorgesetzte, Lebenspartner, Familie, Eltern, Freunde, Nachbarn, Gesellschaft allgemein …?
Entscheidungen zu treffen ist ein zentraler Punkt im Umgang mit der Zeit.
Verantwortung ist eine Entscheidung
Unser größtes Problem inmitten des Tornados ist, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Prioritäten zu setzen. Alles ist wichtig, alles ist dringend, tausend Sandkörner prasseln wie Nadelstiche auf uns ein und erzwingen unsere Aufmerksamkeit. Das Fatale dabei: Wenn alles wichtig ist, ist nichts mehr wichtig.
Stellen Sie sich vor, Sie wollen vitaler und gesünder leben. Dazu suchen Sie einen Trainer auf. Er analysiert Ihr Körpergewicht, misst den Bauchumfang und wertet den Fettanteil Ihres...